
The „Holy Law“ of Systemic Antagonism, „Borderliner*innen“ und Polyphonie – und was das (möglicherweise) mit Ricarda Lang und Heidi Reichinneck zu tun hat…
Durch das immer noch ganz wunderbare Buch von Fritz Simon „Die andere Seite der Gesundheit“ von 1995, eines der wenigen differenzierteren Vorschläge einer dezidiert systemischen Krankheitstheorie, habe ich das Gesetz des „systemischen Antagonismus“ des französischen Komplexitätswissenschaftlers Edgar Morin kennengelernt. Dieses „Gesetz“ konzeptualisiert das Prinzip des Balancierens gegenläufiger Tendenzen, das für „hyperkomplexe Maschinen“ (wie Morin (1974, S. 152) lebende, komplexe Systeme nennt) charakteristisch erscheint: „Um ihre Integrität als Ganzheit, ihre Morphostase und Homöostase, zu gewährleisten, müssen derartige Systeme intern über Komponenten verfügen, die widersprüchliche Wirkungen ausüben. Das Netzwerk der Interaktionen als Ganzheit sorgt durch vielfältige Rückkopplungen für das Erreichen und Bewahren eines Eigenwerts bzw. die Entwicklung und Erhaltung einer Eigenstruktur (Attraktor)“ (Simon, 1995, S. 73). Ich verstehe dieses „Gesetz des systemischen Antagonismus“ so, dass Widersprüche, Antagonismen und Gegensätze in lebenden, komplexen Systemen notwendig sind, damit Prozesse selbstorganisierter Kontinuität und Veränderung realisiert werden können – sie sind, wenn man so will, „der Sprit“ für Selbstorganisation. Aus systemischer Sicht müssten Widersprüche, Antagonismen und Gegensätze eigentlich affirmiert werden; hierin liegt möglicherweise auch ein Grund, weshalb Systemiker*innen Ambivalenzen so lieben, diese so gerne explorieren, und immer wieder zu diesen „einladen“.
Gleichzeitig sind Systemiker*innen eben auch „nur“ Menschen und neigen als solche zur Konfliktvermeidung. Diese Konfliktvermeidung lässt sich lernpsychologisch bekanntlich sehr leicht mit dem Mechanismus der negativen Verstärkung erklären: Konfliktvermeidung führt zur „Belohnung“ des Wegfallens unangenehmer Gefühle (wie etwa Anspannung, das Erleben von Disharmonie, die unerfreuliche Erinnerung an frühere negative Konflikterfahrungen), und dadurch verstärkt sich das Vermeidungsverhalten quasi von selbst – der berühmte Teufelskreis. So kann etwa in diesem Sinne behavioral auch die einschlägige interpsychische Impulsivität im Kontext der Borderline-Persönlichkeitsstörung verstanden werden, die dazu dient, als intrapsychisch sehr schmerzhaft Erlebtes nicht zu spüren, was kurzfristig auch klappt (wie bei Schere, Stein, Papier: interpsychische Impulsivität schlägt intrapsychischen Schmerz) – aber langfristig…
Wenn als konflikthaft erlebte Widersprüche, Antagonismen und Gegensätze vermieden werden, so nimmt man dem System sozusagen die Möglichkeit z.B. zur homöostatischen Ausdifferenzierung und zur heterostatischen Weiterentwicklung. Schon Heraklit, der vielen Systemtheoretiker*innen als Pate dient, wies darauf in seinem berühmten Fragment B53 („Der Krieg ist der Vater aller Dinge“) hin und drückt damit die Idee aus, dass Konflikte und Gegensätze (in einem weiteren Sinn als „Krieg“ gefasst) zentrale Motoren für Entwicklung und Veränderung sind. Ganz in diesem Sinne formuliert (Bertalanffy, 1968, p.66) in seinem Hauptwerk “General System Theory”: “Every totality is based on competition between its elements and presupposes struggle between its parts”.
Beim Thema Krieg verlassen wir auch bereits wieder die von manchen Systemiker*innen ungeliebte Lernpsychologie und betreten (geo-)politisches Terrain. Im politischen Feld geht es wie man weiß u.a. um den Widerstreit politischer Positionen – und werden Politik und Systemik zusammengebracht, so “emergiert” sofort ein weiteres interessantes Spannungsfeld, das mein kluger kollegialer Freund, Doktorvater und Vorgänger im Vorsitz der DGSF Jochen Schweitzer in den Blick nahm, indem er dem systemischen Denken eine bewusst ambivalente »sowohl-als-auch-Positionierung“ konzertierte, während die klassischen politischen Auseinandersetzungen eher einer »Entweder-oder-Logik« gehorchten: „Wenn systemische Therapeuten als Einzelne oder kollektiv in Verbänden sich gesellschaftspolitisch positionieren wollen, dann müssen sie einen Weg finden, »Entweder-oder-Positionen« mit »Sowohl-Als-Auch-Positionen« intelligent zu verbinden. Erstere allein sind zu einfältig und dogmatisch, Letztere allein machen politisches Handeln unmöglich“ (Schweitzer, 2018, S. 378).[1]
Genau dieses intelligente Verbinden von »Entweder-oder-Positionen« mit »Sowohl-Als-Auch-Positionen« haben möglicherweise „Die Grünen“ im Sinn gehabt bei ihren politischen Manövern im Kontext der Ampel-Regierung[2], man denke etwa an das „Herumgeeiere“ – so wurde es jedenfalls despektierlich vielfach kommentiert – beim sog. „Heizungsgesetz“: Zwei Schritt vor und einer zurück… Aber genau ein solches vermeintliches „Herumgeeiere“ ist geradezu charakteristisch für ein systemisches Vorgehen, bei dem mäandernde Annäherungen an ein Verschränken multipler Positionen und Sichtweisen relevanter Akteur*innen, also das Managen von Komplexität, im Mittelpunkt steht, – das aber in der Politik immer noch „einen schlechten Namen hat“: es wird immer noch angenommen, dass die Bürgerin von der Politik eine klare (ideologische) Linie, koalitionsbezogene Geschlossenheit sowie möglichst einfache Lösungen erwartet.
Der Befund oder auch die Klage darüber, dass populistische Parteien vermeintlich einfache Lösungen für tatsächlich komplexe Problemlagen anbieten, ist hinlänglich bekannt. Und dies gilt sicherlich für solche Parteien sowohl rechter als auch linker Ausrichtung (die übrigens beide hervorragend auf der Klaviatur der digital getriebene Polarisierungen spielen können): so war ein Argument im Rahmen der sog. Luhmann-Habermas-Debatte der 1970er Jahre (Habermas & Luhmann, 1971), was seitens der Systemtheorie gegenüber der (linken) Kritischen Theorie ins Feld geführt wurde, dass diese unterkomplex sei, weil sie vorgibt, genau zu wissen, was und wo gesellschaftlich oben und unten ist, und wie die Kausalitäten dazwischen verlaufen, also etwa wer wen unterdrückt. Die im Vergleich zu Heidi Reichinneck vielleicht weniger coole Ricarda Lang, weil weniger coole Arbeiterbewegungs- und Rosa Luxemburg-Tattoos, weniger coole Pony-Friseur und überhaupt insgesamt weniger cooles alternatives Vintage-Outfit, agiert dafür viel systemischer: denn sie sucht nach Diskursräumen, in denen sich die Verschiedenen nicht abschotten, sondern treffen, – wie dies der taz Journalist Peter Unfried kürzlich anmerkte[3].
Diese Diskursräumen für „die Verschiedenen“ erscheinen mir geradezu ideal vereinbar mit einem zentralen Konzept der den sozialen Konstruktionismus begründenden dialogischen Erkenntnistheorie des russischen Literaturwissenschaftlers und Philosophen Michail Bakhtin, nämlich Polyphonie. Diese Vielstimmigkeit hat Bakhtin als treibende Kraft des Geschehens und der Dynamik in den Romanen von Dostojewski ausgemacht – ganz ähnlich dem oben erwähnten Gesetzes des systemischen Antagonismus von Edgar Morin: Der Romantext bei Dostojewski erscheint für Bakthin als aufeinander bezogene Äußerungen der unterschiedlichen Romanakteure, die für sich selbst sprechen; „rather a plurality of consciousnessses, with equal rights and each with ist own world, combine but not merged in the unity of the event“ (Bakhtin, 1984, S. 6). Seikkula (2011; S. 183) entdeckt deutliche Parallelen zwischen dem Bakhtin´schen Verständnis des Dostojewski´schen Romans und seinen Erfahrungen innerhalb multiprofessioneller Familiengespräche im Rahmen seines Open Dialogue- Ansatzes: „I was astonished that Bakhtin seemed to describe the same experience in Dostoevsky’s novels that we were experiencing in the ‘polyphonic’ meetings with our clients. There were always many voices present in the treatment meetings, and as Bakhtin notes, in a polyphonic meeting the position of every participant, especially the author, is changed radically.“.
Dialog und Polyphonie sind im Sinne der Bakthin´schen Erkenntnistheorie aber keine netten Spa-Veranstaltungen oder Wellness-Events: Die aus Brünn stammende tschechische Sozialpsychologin Ivana Marková, eine versierte Kennerin und Interpretin des Werks von Bakhtin, klärt auf: „Authenticity in dialogue always involves combat between one human cognition and another. A combat in which language is filled with various kinds of heterogeneity: speech genres, carnival, irony and multiple voices. Wherever there are two (or more) cognitions in oppositional tension, there is a dialogue, something to be negotiated, constructed and created“ (Marková, 2010, S. 428). Sie führt weiter aus: „Dialogue does not necessarily lead to a resolution of discord. The fundamental feature of dialogue is a clash of ideas, their tension and transformation through their confrontation“ (Marková, 2012, S. 67).
Von Michail Bakthin und Edgar Morin lernen bedeutet: Authentische Dialoge und gelebte Polyphonie brauchen den Mut, sich auf Spannung, Uneinigkeit, „Kampf“ einzulassen – nur so können antagonistische Tendenzen, Polaritäten und konflikthafte Gegensätze systemisch genutzt werden für selbstorganisierte Veränderungsprozesse. Alles andere ist Dialogsimulation, Beschwichtigung und Vermeidung – und wäre in diesem beschriebenen Sinne tatsächlich zutiefst „unsystemisch“.
Literatur:
Bakhtin, M. M. (1984). Problems of Dostoevsky’s poetics. (Theory and history of literature, v. 8). Minnesota: University Press.
Bertalanffy, L. von (1968). General system theory. Foundations, development, applications. New York: George Brazilla.
Habermas, J., & Luhmann, N. (1971). Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Marková, I. (2000). Amédée or How to Get Rid of It: Social Representations from a Dialogical Perspective. Culture & Psychology, 6 (4), 419–460.
Markova, I. (2012). Commentary 1 to Part I: Challenges to Dialogical Science. In Dialogicity in Focus. In M. Märtsin, B. Wagoner, E.-L. Aveling, I. Kadianaki, L. Whittaker (Eds.), Dialogicality in Focus, Challanges to Theory, Method and Application (S. 65.76). New York: Nova Science
Morin, E. (1974). Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropologie. München/ Zürich: Piper
Schweitzer, J. (2018). Gesellschaftspolitik in der DGSF. Motive, Entwicklungen, Stolpersteine und Hoffnungen. Kontext, 49(4), 373-382.
Seikkula, J. (2011). Becoming Dialogical: Psychotherapy or a Way of Life? The Australian and New Zealand Journal of Family Therapy, 32(3), 179-193.
Simon, F. B. (1995). Die andere Seite der Gesundheit. Ansätze einer systemischen Krankheits- und Therapietheorie. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag.
[1] Ich danke Tom Levold für den Hinweis auf diese Literaturstelle.
[2] Es sei angemerkt, dass die Grünen sich wohl politisch tatsächlich von dem soziologischen Systemtheoretiker Armin Nassehi haben beraten lassen.
[3] https://taz.de/Buendnis-90—Die-Gruenen/!6129923/
Lieber Matthias, danke für diesen Text. Er könnte als Erinnerung beim Vergessen, wie es Martin Rufer in seinem Kommentar nannte, dienlich sein. Die höchst unerfreuliche (Schein-)Debatte anlässlich der Rezension von Stefan Beher lässt stark vermuten, dass es in der DGSF wohl noch handfeste andere Macht-Interessen zu verteidigen gibt, deren Offenbarung für die Protagonist*innen wohl einen deutlich höheren Preis hätte als nur das Selbstinfragestellen liebgewonnener Positionen.
…Leider geht dieses Wissen gerade dann vergessen, wenn wir, auch als Systemiker, als engagierte Ehepartner, Eltern, Team-/Verbandsmitglied usw.(drinnen) involviert und damit persönlich betroffen sind und nicht (draussen) auf einem analytisch-therapetische Stuhl sitzen..