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Online-Journal für systemische Entwicklungen

systemagazin Adventskalender 2025 – 12. Rudolf Klein & Barbara Schmidt-Keller

| 10 Kommentare

Vom Einschluss des Ausgeschlossenen

Das systemagazin wurde fast unbemerkt 20 Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank für unendlich viele Anregungen, Literaturhinweise, Rezensionen, kritische Kommentierungen und aufdeckend-transparente Berichterstattungen! 

Tom schrieb in der Einladung zum diesjährigen Adventskalender, Allparteilichkeit, Neutralität, Multiperspektivität, Differenzierung, Vielschichtigkeit, Ambivalenz und das Anerkennen und Aushalten von Widersprüchlichem seien Begriffe, die das ‚Spezifisch-Systemische‘ kennzeichnen. Man liest diese Begriffe allenthalben in (fast) jedem systemischen Text, in systemischen Konzepten von Instituten und Weiterbildungsgängen. Gerade aber das systemagazin hat immer auch Mut zur Positionierung und zum Konflikt gezeigt und sich auf wohltuende Art eben gerade nicht ausschließlich ‚allparteilich‘ und ‚neutral‘ versteckt.

Das ist insofern erwähnenswert, weil sogenanntes ‚Schwarz-Weiß-Denken‘ und damit entschiedene Positionierungen im systemischen Feld verpönt werden und des Teufels zu sein scheinen. Entsprechend hörte ich kürzlich in einem Podcast die sinngemäße Aussage, eine Entweder-Oder-Frage sei „unsystemisch“. Lässt sich das widerspruchsfrei behaupten?

Foto: Barbara Schmidt-Keller

Wenn man zwei Aussagen heranzieht, die mit am häufigsten in systemischen Publikationen zitiert werden, kann man hinsichtlich therapeutischer Überlegungen zu anderen Ergebnissen kommen. Ich meine zum einen Gregory Batesons Feststellung, was eine Information ist. Er schreibt: „Was wir tatsächlich mit Information meinen (…), ist ein Unterschied, der einen Unterschied ausmacht (…).“  (Bateson 1983, S. 582). Und ich meine zum andern den Satz von Heinz von Foerster: „Handle stets so, daß die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird.“ (von Foerster 1985, S. 41).

Denkt man beide Aussagen zusammen, kann die Anzahl der Wahlmöglichkeiten, was immer damit gemeint sein mag, nur dann als größer wahrgenommen werden, wenn diese Unterschiede einen Unterschied machen. 

Das heißt aber, dass Problemlagen, die durch Fehlen an Alternativen gekennzeichnet sind („Ich stecke fest.“), durch Erhöhung der Komplexität beantwortet und Problemlagen, die durch zu viele Möglichkeiten gekennzeichnet sind („Ich bin vollkommen verwirrt.“), durch Reduzierung der Komplexität beantwortet werden sollten. 

In beiden Szenarien wird die Anzahl der Wahlmöglichkeiten vergrößert – jedoch in entgegengesetzte Richtungen. Eine Erhöhung von Wahlmöglichkeiten ist auch dann eine Erhöhung, wenn eine Reduzierung, ein Weglassen, bislang nicht in Betracht gezogen wurde. Kurz: Weniger ist mehr.

Der Versuch einer Komplexitätsreduzierung kann dann auch in einer Zuspitzung liegen, die im Extremfall mit einer Entscheidungsnotwendigkeit konfrontiert und der Frage nachgeht, auf welche Weise diese bislang vermieden oder nicht gesehen wurde. Dieses Vorgehen ist nicht per se „unsystemisch“, weil auch dadurch unterschiedserzeugende Unterschiede begünstigt werden. Wenn dennoch Entweder–Oder–Konstrukte als prinzipiell „unsystemisch“ bewertet werden, stellt diese eine unterkomplexe Sichtweise systemischen Arbeitens dar. 

Ich will noch einen Schritt weitergehen: Letztlich geht es in der therapeutischen Arbeit um das Herausarbeiten von Wahlmöglichkeiten, weil im Wählen-Können Freiheitsgrade liegen, die bis dato (noch) nicht gesehen wurden und durch Entscheidungen erst real werden. Bevor Entscheidungen stattfinden, sind sie allenfalls Möglichkeitsmöglichkeiten. 

Spätestens an diesem Punkt der Entscheidung wird erfahrbar, dass diese Konsequenzen höchstpersönlich verantwortet werden müssen, diese jedoch unkalkulierbar sind und dennoch ge- und ertragen werden müssen. Das hat eine gewisse Brutalität, keine Frage. Denn: ab jetzt hat die Idee, eine Entscheidung nicht sehen bzw. treffen zu müssen, ausgedient. 

Letztlich stellen therapeutische Veränderungsprozesse Kaskaden von Wahlmöglichkeiten mit (noch) unbekannten Folgen dar (gute Entscheidungen können negative, schlechte hingegen, gute Effekte haben) und sind immer Entweder–Oder–Konstrukte. 

Aber gerade in der Zuspitzung, im Aufzeigen von Wahlmöglichkeiten und der Notwendigkeit von Entscheidungen, werden persönliche Reifungschancen sicht- und spürbar. Einfach ist das nicht. Keineswegs. Im Entscheiden und Wählen-Können ist aber eine besondere Beziehung mit sich selbst verborgen. Dies hat Sören Kierkegaard in folgendem Zitat auf den Punkt gebracht: “Sieh, eben darum fällt es den Menschen so schwer, sich selbst zu wählen, weil die absolute Isolation hier identsich ist mit der tiefsten Kontinuität, weil, solange man nicht sich selbst gewählt hat, gleichsam eine Möglichkeit besteht, etwas anderes zu werden, entweder auf die eine oder auf die andere Weise.” (Kierkegaard 2009, S. 770).

Schöne Adventstage und frohe Weihnachten! 

Literatur:

Bateson, Gregory (1983): Ökologie des Geistes. (Suhrkamp).
von Foerster, Heinz (1985): Sicht und Einsicht.  (Vieweg).
Kierkegaard, Sören (2009): Entweder – Oder. (dtv).

10 Kommentare

  1. Wolfgang Loth sagt:

    Gehaltvoller und anregender Text und ebensolche Fotografie.
    Herzlichen Dank!

  2. Kurt Ludewig sagt:

    Ob nicht beim missliebigen Entweder-Oder gerade das Oder eine Welt von erweiternden Möglichkeiten eröffnet? Fanz liebe Grüße Euch beiden

  3. Peter Müssen sagt:

    Bei dem wunderbaren Foto ist ja noch alles klar.
    Aber bei wem kann ich mich denn für den Text bedanken? :-))
    Ganz liebe adventliche Grüße, Peter Müssen

  4. Jürgen Wernicke sagt:

    Vielen Dank für diese Ausführungen. Das bringt für mich Einiges zusammen. Ich habe immer einen Widerstand gehabt gegen den Foerster-Spruch von der Erhöhung der Wahlmöglichkeiten (der ja sogar als Gebot formuliert ist). Ich dachte immer, dass zu viele Möglichkeiten auch verwirren und zur Lähmung führen können.
    Reduktion, um eine Wahl oder eine Handlung zu ermöglichen, das gefällt mir. Jedes Ja braucht mindestens ein Nein (meistens sogar mehr), um ihm Kraft und Entschlossenheit zu geben.

  5. Regina Riedel, Potsdam sagt:

    Wunderbarer Text – Danke!

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