
Im Zwischenraum der Möglichkeiten
In der systemischen Psychotherapie lernen wir, scheinbare Gegensätze bestehen zu lassen. Viele Klient*innen kommen genau deshalb in die Praxis: Sie suchen keine Schubladen, sondern echte Begegnung – und diese kann nur im Dazwischen entstehen. Im „Sowohl–als–Auch“ statt im „Entweder–Oder“, durch Wahrnehmen statt Werten, Fragen statt Urteilen, Hypothesenbilden statt Diagnostizieren und Kontextualisieren statt Pathologisieren.
Neulich sagte ein Klient zu mir, er schätze die Therapie besonders, weil er sich mit all seinen vielfältigen und manchmal widersprüchlich wirkenden Seiten zeigen dürfe. „Dinge können groß und gleichzeitig klein sein,“ formulierte er es so treffend. Solche Momente zeigen für mich das Potenzial systemischen Denkens: Perspektiven verengen sich nicht, sondern eröffnen neue Möglichkeiten.
Wenn wir uns unsere begrenzte Lebenszeit bewusst machen, gelingt es häufig, flexibler und offener auf unser Leben zu blicken. Deshalb erkunde ich mit Klient*innen gerne, was ihr „Sterbebett-Ich“ zu ihrem Anliegen sagen würde oder woran sie sich am Lebensende erinnern möchten. „Natürlich würde ich mir erlauben, mal verärgert, mal fröhlich, mal kritisch und dann wieder zurückhaltend zu sein,“ meinte derselbe Klient weiter. Er erlebte es als befreiend, sich seine inneren Nuancen zuzugestehen.
Nur wenn wir Spannungen und Widersprüchen Raum geben, statt sie vorschnell zu analysieren, zu bewerten oder zu bekämpfen, können wir einen Umgang mit ihnen finden. Tiefgreifende Erkenntnisse und Lösungen entstehen dort, wo wir uns auf das einlassen, was in und um uns auftaucht. Natürlich macht es uns verletzlich, uns bisher abgewerteten inneren Anteilen zuzuwenden. Dafür braucht es Mut und vor allem ein sicheres Setting.
Und zugleich erleichtert es das Leben manchmal, sich auf das Eindeutige zu beziehen. Erst kürzlich fragte mein kleiner Sohn: „Wer stirbt, ist tot, oder?“ So schlicht und klar dieser Satz klingen mag, erinnert er mich daran, dass selbst im großen Spiel der Mehrdeutigkeiten manches unmissverständlich bleibt – und gerade dadurch Orientierung und Halt schenken kann.