In jedem Ende wohnt ein Schrecken und ein Zauber, der ein Anfang sein könnte
Die Erde ächzte und in den Welten war, unter all der Erregung, die sich wie Kirmeslärm ausbreitete, eine große Erschöpfung spürbar. Draußen triumphierten die durchgeknallten, die cleveren und die bösen Clowns. Wir sind OPFER, brüllten sie in die Mikrofone und versprachen wider alle Vernunft nicht nur das Blaue vom Himmel sondern ERLÖSUNG von allem Übel und BEFREIUNG. Dabei zeigten sie mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Andersartigen, die bösen Mächte, die immer an allem schuld sind, nur wir nicht. Fasziniert von der Wildheit, der Verrücktheit und der entfesselten Zügellosigkeit der Clowns jubelten die Menschen ihnen zu. Aus Enttäuschung und Empörung über die nicht eingehaltenen Versprechungen der Moderne, aus Angst vor einer ungewissen Zukunft, aus Verzweiflung und Hilflosigkeit und der kindlichen Sehnsucht nach irgendeiner einer einfachen Wahrheit, an der man sich im rasenden Wandel wenigstens festhalten kann, aus Neid und Ressentiment oder purer Raffgier oder Karrieresucht und einige, um selbst der Boshaftigkeit und Niedertracht freien Lauf lassen zu können, die in uns allen steckt.
Für Erlöser, Gurus, Heiler und Gesundbeter aller Art begann eine goldene Zeit. Sie beherrschten alle Märkte und drangen mit ihren Botschaften in alle Nischen. Sie generierten jede Menge Follower, und es wurde schwer, einigermaßen seriöse Helfer von Scharlatanen zu unterscheiden. Glück und Zufriedenheit wurden zur wohlfeilen Ware. Es geht dir nicht gut du bist erschöpft und deprimiert du verdienst zu wenig Geld und bekommst zu wenig Anerkennung dein Partner vergiftet dich oder hat dich verlassen zu wenig oder zu viel oder zu verwirrter Sex deine Eltern sind ätzend und du fühlst dich alleine deine Freunde wollen nicht wissen, wer du wirklich bist, Jesus kommt nicht vorbei, die Revolution findet nicht statt und die Welt geht auch gerade zum Teufel – DON’T WORRY, COME TO MY OFFICE. Mir ging es ja auch mal so, aber ich habe einen Weg gefunden und ICH werde dir zeigen, wie du deine ganz eigene INNERE KRAFT entdecken kannst, um trotz alledem eine GUTE FIGUR zu machen und GLÜCKLICH ZU SEIN. Diese Kräfte liegen in JEDEM von uns, manchmal tief verborgen, aber ich zeige dir einen EINFACHEN WEG, Schritt für Schritt, Tool für Tool, wie du sie wieder entdecken kannst, deine innere Kraft, mit der du ganz UNABHÄNGIG VON ALLEM ein glückliches und zufriedenes Leben gestalten kannst, denn nur du allein, du ganz allein bist der Architekt deines Glückes und der Konstrukteur deiner Welt.
Diejenigen, die noch ganz bei Trost waren und sich an die Fakten hielten, erschraken und verloren den Glauben an Kant. Einmal, es waren nicht viele, saßen sie zur Adventszeit in kleiner Runde bei Kerzenschein, ein paar Keksen und Wein ratlos zusammen. Auf was warten wir eigentlich, fragte jemand. Auf ein Wunder? Angenommen, morgen… sagte jemand, wurde aber sofort unterbrochen. Heute bitte keine Kalender-Sprüche!! Längeres Schweigen. Die Sache ist doch die…, sagte jemand, wurde aber ebenso rüde unterbrochen: Verstanden haben wir es schon genug, verstehste, bemerkte jemand schroff. Man müsste etwas tun, sagte jemand und eine Pause entstand. Aber dazu müssten wir erst mal wissen, was wir tun können, und dazu brauchen wir eine Idee, die wir vielleicht so vorher noch nicht hatten, sagte jemand anderes. Stell dir vor, wir machen nicht immer mehr dasselbe…prustete jemand los, der Glühwein tat seine Wirkung, alle lachten und es wurde still in der Runde. Eigentlich ist es jetzt wie bei jedem Anfang, sagt jemand nach einer Weile, eine kleine Gruppe teilt Nahrung und Bedeutung miteinander, es gibt viele Fragen und kaum Antworten, man könnte vielleicht etwas zusammen unternehmen, weiß aber noch nicht genau was und wie…Der Kreis erwachte erneut, alle erzählten von irgendwelchen Anfängen, die sie früher mal erlebt hatten, und Lebendigkeit erfüllte den Raum. Jemand, der schon ziemlich betrunken war, sagte plötzlich: Scheiß drauf, an Erlöser oder erlösende Ideen glaube ich schon länger nicht mehr, vielleicht sollten wir uns von der Idee der Erlösung verabschieden. Das könnte immerhin ein neuer Anfang sein, sagte jemand. Und an was glauben wir dann, fragte ein anderer, Nihilismus ist auch keine Lösung – und da brach jemand in Tränen aus, einige versuchten zu trösten, aber dann sagte die Person, sie weine, weil es so schön sei, so habe sie sich Weihnachten immer vorgestellt, kein Geschenkdruck, Gespräche, Verbundenheit. Nobody is perfect, sagte jemand, die Farbe Lila, flüsterte jemand anderes. Die Runde trat jetzt in eine Phase ein, in der die Kommunikation, dem Alkohol und der späten Stunde geschuldet, nicht mehr allzu kohärent verlief und später niemand mehr so genau wusste, wer eigentlich was gesagt hatte. Irgendjemand erwähnte einen Film, in dem eine Frau zu einem Mann sagt, es gäbe viele Arten in einem Desaster zu leben. Darauf konnten sich dann die meisten einigen.
Draußen war der Himmel klar, aber es war zu warm für die Jahreszeit und es würde keinen Schnee mehr geben.
Jan Bleckwedel, Bremen