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systemagazin Adventskalender 2023 – 18. Thomas Lindner

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Begegnungen mit meinem türkischen Feinkosthändler

­Seit fast vierzig Jahren sehen wir uns beinahe jede Woche. Unsere Namen kennen wir nicht. Für mich ist er mein meist gut gelaunter türkischer Feinkosthändler. Für ihn bin ich wahrscheinlich der treue Kunde, mit dem man gut über Fußball plaudern kann. Die Begegnungen mit meinem türkischen Feinkosthändler sind für mich oft überraschend. Ich lerne etwas über Mentalitätsunterschiede und das, was man landläufig „Integration“ nennt. Sein Vater betrieb eine kleine Imbissstube, in der die Kolleginnen meiner ersten Arbeitsstelle und ich gerne mittags ein Pide-Brötchen oder einen Salatteller holten. Nach der Arbeit konnte man noch ein Schälchen Oliven und den Brotaufstrich mit dem herrlichen Namen „Als die Schwiegermutter in Ohnmacht fiel“ mitnehmen. Der Sohn erweiterte den Betrieb und führt heute drei internationale Feinkost-Theken in verschiedenen lokalen Supermärkten. Wenn ich am Wochenende einkaufe, hat der „Chef“, so wird er von vielen genannt, kaum Zeit. Dann bedient er mit, füllt die Schalen großzügig bis zum Rand und fördert nebenbei augenzwinkernd die türkische Wirtschaft. Selbstverständlich sind die Marmara-Oliven die besten und den griechischen Kalamatas vorzuziehen. Aber natürlich verkauft er auch die. Denn „der Kunde hat immer recht“. So hat es ihn sein Vater gelehrt. Komme ich werktags am Vormittag, hat er mehr Zeit. Dann plaudern wir kurz. Meist über Fußball. Natürlich ist er Anhänger von Galatasaray Istanbul. Und hält die türkische Nationalmannschaft für den Geheim-Favoriten bei der Fußball-EM im nächsten Jahr. Ich verstehe nicht viel von Fußball. Aber es ist ein wunderbares Thema für den jahrelangen Minimal-Austausch.

Was überrascht mich nun an den kleinen Begegnungen? Und was lerne ich über Mentalitätsunterschiede und „Integration“. Beispiel eins: Er erzählt mir, das die Hälfte der türkischen Nationalmannschaft in Deutschland aufgewachsen und sich auf deutsch unterhält. Das wusste ich nicht. Deutschstämmige Türken, türkeistämmige Deutsche, anatolische Rheinländer – who is who und welche Begriffe machen welchen Unterschied?

Beispiel zwei: Vorsicht bei Erdoğan, dachte ich mir, als der türkische Präsident vor ein paar Wochen kurz nach Deutschland kam. Können wir darüber auch so munter plaudern? Immerhin haben 67 % der Deutschtürken bei der letzten Stichwahl für ihn gestimmt. Aber wir können. Der „Chef“ ist Kemalist und vertritt für sein Heimatland ein säkulares Staatsmodell. Aha, nicht alle Muslime wollen einen politischen Islam. Natürlich hat der „Chef“ auch die deutsche Staatsbürgerschaft und darf auch hier wählen. Freimütig erzählt er mir, dass er als Selbständiger immer die FDP gewählt hat. Von wegen der Steuer und der deutschen Bürokratie. Jedem Kunden müsse er auch beim Kleinsteinkauf einen Kassenbon anbieten. Dass sei doch nun wirklich der Gipfel der Papierverschwendung. Ich brauche auch keinen Kassenbeleg. Trotzdem muss ich als Grün-Bewegter etwas schlucken. Und bin für einen Moment froh, dass wir unsere Namen nicht kennen. Sonst könnte er mich noch auf eine mögliche Verwandtschaft mit dem amtierenden Finanzminister befragen. Nein, bin ich nicht, bereite ich mich schon innerlich vor. Aber ich lerne: es gibt nachvollziehbare Gründe, diese Partei zu wählen. Und nicht alle FDP-Wähler sind unsympathisch. 

Beispiel drei: Manchmal wird die gute Laune meines türkischen Feinkosthändlers arg strapaziert. Drei Filialen mit mehr fast 20 Mitarbeitenden zu steuern, ist wohl kein Ponyhof. Seinen Stress bringt er dann für mich etwas ungewöhnlich zum Ausdruck. „Wie geht es denn so?“ „Eigentlich gut – aber ich könnte jemanden gebrauchen, dem ich mal so richtig in die Fresse hauen kann. So wegen des seelischen Gleichgewichts“. Das gefällt mir. So einen suche ich auch manchmal. Den „Chef“ würde ich dann gerne mal umarmen. Aber wir kennen ja noch nicht einmal unsere Namen.

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