Wozu man in der Lage ist
Im Jahr 1988 betrat ich im Rahmen einer Konzerttour nach Warschau, Krakau und Tschenstochau das Konzentrationslager Auschwitz das erste Mal. Dieser Besuch hatte „nur“ dem „Stammlager“ I gegolten. Allein der Schritt durch das Tor mit der Überschrift „Arbeit macht frei“ in den von Organisationsverantwortlichen als „Anus Mundi“ bezeichneten Komplexes verlangte alle Konzentration, – um nicht umzufallen angesichts des bedrängenden Wissens, wie viele hier nicht mehr rauskamen und man selber nun einfach hineinspaziert und sicher auch wieder raus.
1992 folgte eine zweite Konzerttour nach Polen. Wieder kam ich nach Auschwitz. Diesmal allerdings ins Lager Birkenau, das als das „Vernichtungslager“ bezeichnet wird.
Ich machte einen Versuch: Ich stellte mich an die Rampe. Hier hielten die Züge, aus denen die her gefahrenen Häftlinge herausgetrieben wurden, sich in Reihen aufzustellen hatten und dem Kommando vorgeführt wurden, das entschied, ob jemand als arbeitsfähig einzustufen sei oder gleich zum Gasmord geschickt wurde.
Ich versuchte, mir vorzustellen, was es gewesen sein musste, mit einem dieser Züge anzukommen. Welch eine Hybris, mag man denken. Welch eine Erfahrung, denke ich noch immer. Dann drängte es mich – zunächst gegen meinen erlebten Willen – mich umzudrehen und mir vorzustellen, was es gewesen sein musste, einer derer zu sein, die entscheiden. Die Erfahrung war eindeutig: Es war – wieder zunächst gegen meinen erlebten Willen – unwidersprechlich klar, dass ich auch auf dieser Seite hätte zu stehen kommen können, aus welchen Gründen, Umständen oder Ursachen auch immer.
Was macht hier einen Unterschied? Die Schlussfolgerung, die mir, vielleicht mehr als damals, nach wie vor einleuchtet, ist: Es geht zuerst nicht darum, schlicht die Geste des Verurteilens mitzutun. Es geht auch nicht darum, anzuklagen aus einer – eingebildeten – Position dessen, der kaum aushält, was er da zu sehen bekommt. Es geht auch nicht darum, zu rechtfertigen, was getan wurde, weil man selber es vielleicht hätte tun können. – Es geht darum, in Erfahrung zu bringen, klar zu benennen und sich nicht darüber zu täuschen, wozu man fähig ist, um dann alle Konzentration darauf zu richten, wie man dafür sorgt, es selbst nicht zu tun, obwohl man dazu in der Lage wäre, und dafür, dass es von niemandem anderen getan wird. Die Unterschiede sind fein, aber elementar, scheint mir.
Das hätte niemals geschehen dürfen, sagte Hannah Arendt. In ihrer nachdrücklich zur Lektüre empfohlenen Vorlesung Über das Böse, die sie an der New School für Social Research in New York 1965 hielt[1], kommt sie im Zusammenhang mit Immanuel Kants Hinweis auf den „’faulen Fleck‘ in der menschlichen Natur“, nämlich das Vermögen zu lügen[2], auf Fjodor M. Dostojewskis Die Brüder Karamasow zu sprechen und auf eine noch grundlegendere Unterscheidung bzw. Differenzierung. Der Starez Sossima beantwortet Dimitri Karamasows Frage danach, was man tun könne, um erlöst zu werden, mit dem Hinweis: Vor allem belüge dich nicht selbst[3].
Hannah Arendts bekanntes Diktum „Niemand hat das Recht zu gehorchen“ kann dann so gesehen werden: Zwei Sprachspiele, die wir für inkompatibel halten, werden in einen Zusammenhang gebracht, nämlich das Sprachspiel des Gehorchens, das scheinbar keiner Wahl Raum lässt, und das Sprachspiel der Inanspruchnahme eines Rechts, das Wahl bzw. Entscheidung erfasst. Danach erscheint zu gehorchen als die Inanspruchnahme eines Rechts und von daher als Entscheidung. Arendt spricht dann dem Sprachspiel des Gehorchens seine Rechtmäßigkeit ab. Gehorchen erscheint so als Wahl, als entschiedenes Handeln, und wird problematisierbar. Ein interessanter Spielzug. Was ist daran systemisch? Der Spielzug selbst, seine Transparenz, und seine Kontingenz. Wer widersprechen will, soll zumindest sagen müssen: Doch, ich habe das Recht zu gehorchen.
Was tun? Kommunizieren und verstören. Unterschiede machen.
[1] Arendt, Hannah, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München: Piper, 2007
[2] Ebenda, S. 28
[3] Ebenda, S. 29
„Das große Geheimnis ist nicht das Böse“, schreibt Franziska Augstein in ihrem Nachwort von Hanna Arendt´s Vorlesungen“Über das Böse“. Nein ,es ist die Frage, warum es unter den schlimmsten Umständen immer einzelne gibt, die nicht nur ihr Mittun verweigern, sondern Leib und Leben aus Spiel setzen für Zwecke und Ideen, die wir summarisch „das Gute „nennen.“ Menschen, die wußten, was zu tun ist. Welche Unterschiede machen den Unterschied?
Danke für den Text, lieber Matthias. Ja, wir könn(t)en das alles sein. Keine Täuschung mehr nach Ausschwitz. Bitte. Unser Potenzial, das menschliche Potenzial (das Potenzial aller homo sapiens) ist widersprüchlich, wir können wunderbare Dinge tun und sehr grausame – und es kommt auf die inneren Umstände und äußeren Bedingungen an, was zum Einsatz kommt. Was könn(t)en wir tun? Die inneren Umständen und äußeren Bedingungen so gestalten, dass die Wahrscheinlichkeit, dass irgend jemand Grausames tut, vielleicht etwas geringer wird.
Es gibt da diese Szene in „Schindlers Liste“. Der Lagerkommandant hat Schindler eingeladen, die Herren stehen auf einer Terrasse, blicken im Halbdunkel herunter auf die erleuchteten Zäune des Lagers, verhandeln über Gefangene und sprechen, der Abend ist fortgeschritten, über Macht. „Ich könnte jeden von denen“ sagt der Lagerkommandant und zielt mit einem Gewehr auf Gefangene “ sofort erschießen, wenn ich wollte. Das ist Macht!“. „Nein“, entgegnet Schindler und blickt dem Kommandanten direkt in die Augen, „schießen zu können, aber es nicht zu tun – DAS IST MACHT“.
Danke für diesen klugen und berührenden Text!
Nachdenkliche Grüße, Martina Furlan
Danke, lieber Matthias! Mehr hinzufügen kann ich gar nicht!
Herzliche Grüße
Arist
Danke für den berührenden Bericht.
„Wie man dafür sorgt, es selbst nicht zu tun, obwohl man dazu in der Lage wäre, und dafür, dass es von niemandem anderen getan wird…“, und ich bin heute manchmal wieder so ratlos und hoffnungslos wie als Kind, nachdem diese Frage für mich mein Leben lang ein Ansporn war. Aber es bleibt eine der entscheidenden Fragen, die mich zum Handeln treiben – Pessimismus des Verstandes und Optimismus der Tat.
Sei bedankt für diese Meditation, Matthias!
Und vielleicht zum „Was tun?“ noch: dem Verstören auch ein „sich“ hinzufügen. Nachdenken als Bereitschaft sich selbst zu verstören. Vielleicht wird „verstörendes Kommunizieren“ erst dann zu einer Begegnung, die hilft auszuhalten, „wozu wir in der Lage sind“. Und das Nachdenken darüber auszuhalten und sich darin zu unterstützen, keinem Druck zu gehorchen.
Nachmals: sei bedankt!
Danke dir, Wolfgang! Ja, das gehört natürlich dazu, immer wieder. Und wo es nicht gelingt, kann man andere(n) Menschen bitten, einladen, anbieten, einem hier zu helfen – wenn sie es nicht eh schon tun.