
Heute würde Steve de Shazer seinen 85. Geburtstag feiern. Seine Rolle als Mit-Erfinder der „Wunderfrage“ und des Lösungsorientierten Ansatzes ist auch heute noch im systemischen Feld weit bekannt. Seine intensive Auseinandersetzung mit sprachphilosophischen Fragestellungen schon weniger. Insbesondere mit den Arbeiten von Ludwig Wittgenstein, den er als den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts empfand, hat er sich immer wieder befasst. In einem (englischsprachigen) Text von ihm, der auf dem Server der South Dakota State University zu lesen ist, schreibt er: „Es ist verständlich, dass ich oft nach meinem Interesse an Wittgensteins Werk und dessen häufiger Erwähnung in meinen Schriften sowie meinen Trainingsseminaren gefragt werde. Da ich behaupte, dass SFBT (Lösungsfokussierte Kurzzeittherapie) eine Praxis oder Tätigkeit ist, die keiner zugrundeliegenden (großen) Theorie folgt, scheint es zumindest seltsam, wenn nicht sogar widersprüchlich, immer wieder auf das Werk eines Philosophen zu verweisen. Dies führt einige Leserinnen und Leser sowie Seminarteilnehmende fälschlicherweise zu der Annahme, dass Wittgensteins Werk tatsächlich die (fehlende) Theorie liefern könnte. Doch wie sie schnell feststellen, ist das Lesen Wittgensteins, wenn man nach einem philosophischen System oder einer Theorie sucht, zumindest irritierend und verwirrend, da er kein solches System oder eine solche Theorie bietet. Vielmehr ist sein Werk ‚unsystematisch, ausschweifend, abschweifend, diskontinuierlich, thematisch unterbrochen und geprägt von schnellen Übergängen von einem Thema zum anderen‘ (Stroll, S. 93). Das bedeutet, dass die Leserinnen und Leser sich anstrengen müssen, um den verschiedenen Argumentationssträngen zu folgen. Wittgenstein wendet diesen Ansatz bewusst in sehr subversiver und strategischer Weise an, um die Lesenden dazu zu bringen, noch einmal hinzusehen und auf diese Weise auf neue und andere Weise zu denken.“
In diesem Text versucht de Shazer, den Gewinn seiner Wittgenstein-Lektüre den Lesern näher zu bringen. Am Ende schreibt er: „Wittgensteins Art, Dinge zu beschreiben, erinnert uns daran, zu beobachten, was vor sich geht, und fordert uns auf, das alltägliche Leben – einschließlich der Sprache, wie sie tatsächlich verwendet wird – als die Heimat unserer Begriffe und Beschreibungen zu betrachten. Es sind diese Beschreibungen des Alltagslebens, die die Erklärungen und Theorien der traditionellen Philosophie und Psychologie ersetzen“ (Übersetzung: TL)
statt einer metaphyischen herangehensweise des verstehens wird in diesem text hier eine pragmatische vorgeschlagen. gesagte worte sind nicht anhand deren allgmeiner, theoretischer oder sonstwie übergeordneten bedeutung zu verstehen, sondern wie sie im alltag nun einmal zur anwendung kommen. wer verstehen will muss beobachten, wie lebensäußerungen in freier wildbahn aussehen. beobachten wird damit zum schlagwort, zum ergzeugendensystem einer eigenen verstehens-welt.
was aber nun „beobachtung“ bzw. „beobachtung“ sein soll bzw. so etwas zu erfolgen hat bleibt für mich nach diesem text unklar. folgen wir streng dem vorschlag von deshazer resp. wittgenstein, brauchen wir, um ein verständnis entwickeln zu können alltags-beispiele, wie die begriffe genutzt werden.
wenn die beiden herren also „beobachtung“ als erkenntnis-instrument vorschlagen, müssten sie uns, folgten sie selbst ihrem vorschlag, sofort auch anschauungs-beispiele liefern, wie der begriff beobachtung ihrer meinung nach zu verstehen ist.
das passiert im text allerdings nicht. und was damit passiert, ist eine offene frage: was ist beobachtung? oder auf das hier vorliegende thema etwas konkreter hin gefragt: was ist es sprache zu beobachten?
Beobachten ohne zu denken wäre wohl sprachlos. Ein Einlassen auf das, was geschieht, ohne es in Konzepte zu fassen. Das wäre wohl was, dürfte jedoch etwa so einfach sein wie Zen-Meditation. Einfach, aber nicht ohne Mühe, nicht sofort zu haben. Es braucht seine Zeit. Steve de Shazer scheint mir einer der am meisten missverstandenen Lehrmeister zu sein. In dem kurzen Text, an den Tom hier dankenswerterweise erinnert, stecken mehr Stolperstellen und mehr Anspruchvolles, als es die prägnant erscheinende Überschrift erahnen lässt (auch wenn sie sich leicht&fertig als Slogan vernutzen lässt). Sie scheint vorzuschlagen, einfach dem zu folgen, was geschieht. Dass dies eine zweischneidige Sache ist, ergibt sich beim Nachdenken. Der Schuh, der draus wird: Observe your thinking as text within context.
Danke für die Erinnerung und Referenz.