Liebe Leserinnen und Leser,
auch in diesem Jahr gibt es wieder – in mittlerweile guter Gewohnheit – einen Adventskalender im systemagazin. Dieses Mal dreht er sich thematisch um Fragen, die mit eigenen Lektüre- und Schreiberfahrungen verbunden sind. Welche Erinnerungen gibt es an Texte, die einen seit langem begleiten, wie hat man erste Schreib- und Veröffentlichungsversuche in Erinnerung, welche Erfahrungen mit Verlagen, Herausgebern, Redakteuren, Lesern wurden gemacht, waren amüsant, berührend oder verwunderlich, wie erlebt man das Wiederlesen von Texten, die man vor ewigen Zeiten geschrieben hat, etc. etc. Hierbei hatte ich zunächst die Idee, in erster Linie Kolleginnen und Kollegen einzuladen, die bereits Text veröffentlicht haben. Es hat sich aber gezeigt, dass die Publikationserfahrungen nicht im Zentrum der bislang eingegangenen Beiträge liegen. Deshalb möchte ich gerne auch Sie einladen, Ihre eigenen Geschichten zum Adventskalender beizusteuern. Wie auch in den vergangenen Jahren ist er zum 1.12. noch nicht voll und ich freue mich über Beiträge. Alle Texte, die zu diesem Thema eingehen, werden auf jeden Fall veröffentlicht, wenn der Adventskalender dafür nicht ausreichen sollte, dann vielleicht als eine Sonderseite im systemagazin oder auch als systemagazin-eBook! denkbar.
Den Reigen der Kalendertürchen eröffnet heute Stephan Baerwolff aus Hamburg, der von seiner ersten (Lese-)Begegnung mit Michael White erzählt (der Text, auf den er sich in seinem Beitrag bezieht, ist übrigens 2005 in systhema auf Deutsch erschienen):
Auf Tom Levolds Frage nach einer einschneidenden Lektüreerfahrung fiel mir sofort ein Text ein, den ich am 10.6.1989 auf der Zugfahrt von Heidelberg nach Hamburg las. Warum ich das so genau erinnere? Dazu folgende kleine Geschichte:
Durch meinen Kontakt zu Kurt Ludewig Anfang der 80er Jahre hatte ich das Glück, schon relativ früh in die systemische Szene hineinzugeraten und deren Entwicklung mitzuerleben. Da zudem mein Arbeitsplatz eine lange Busstrecke von zuhause entfernt lag, hatte ich jeden Tag ausführlich Gelegenheit, mich in systemische Texte zu versenken. So stieß ich auch auf die ersten Artikel von Michael White, die Helm Stierlin dankenswerterweise aufgestöbert und in der Familiendynamik veröffentlicht hatte. Mir gefielen der Witz und die Kreativität, mit der dort Angst-Monster gezähmt und Paarbeziehungen in Bewegung gebracht wurden. So war es für mich keine Frage, dass ich mich 1989 für einen Workshop in Heidelberg anmeldete, zu dem Michael White (ich vermute das erste Mal) nach Deutschland kam. Dort beeindruckte mich sein ebenso bescheidenes wie klares Auftreten, mit dem er seinen Ansatz darstellte. Seine Verschmitztheit zeigte sich z.B. in der Bemerkung, seine KollegInnen und er würden die psychiatrischen Akten der an sie überwiesenen PatientInnen nicht mehr lesen, sondern wiegen! Seine Therapie-Videos zeigten nicht die üblichen gebildeten Mittelschichts-Familien, sondern auch KlientInnen, wie ich sie aus meiner Arbeit in einem Psychiatrischen Landeskrankenhaus kannte. Ich war beeindruckt, wie warmherzig Michael White mit diesen schwer belasteten Menschen umging und mit ihnen zusammen aus kleinsten Ansatzpunkten von Ressourcen hoffnungsvolle Geschichten entwickelte. Schließlich erinnere ich noch, dass Michael Whites Frage an das Publikum, ob wir die von ihm zitierten (meist anthropologischen) Theoretiker kennen würden, allseits Kopfschütteln auslöste, selbst bei der versammelten systemischen Prominenz.
Wie die LeserIn richtig vermutet, verließ ich also den Workshop höchst zufrieden und angeregt, mich weiter mit dem narrativen Ansatz zu beschäftigen. Dazu gab es gleich noch auf der Bahnfahrt Gelegenheit, denn ich fuhr zusammen mit einer Hamburger Kollegin, die längere Zeit in Australien gewesen war und sich von daher getraut hatte, Michael White anzusprechen und dafür mit einem Haufen an Texten von ihm belohnt worden war. In einen davon schaute ich nun hinein, einen kurzen englischsprachigen Artikel, dessen Lektüre (eben weil kurz!) ich mir zutraute. Schon bald überfiel mich ein starkes Gefühl, das mir beim Lesen von Fachartikeln unbekannt war: Rührung! Im Kern ging es in dem Artikel um eine Klientin, deren Mann gestorben war und die nicht über seinen Tod hinweg kam, so dass ihre Mitmenschen (auch Fachleute) begannen, ungeduldig zu werden. Michael Whites Vorgehen basierte auf der Idee, die gängige Vorstellung der Trauerverarbeitung (Loslassen) zu dekonstruieren und der Klientin die Vorstellung anzubieten, den Kontakt zum verstorbenen Ehemann zu verstärken. Dazu bat er sie, sich ihre Situation durch die Augen des Verstorbenen anzusehen (technisch gesprochen handelte es sich also um zirkuläre Fragen) und gewissermaßen seinen Rat einzuholen. Aus dem Artikel (besonders vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrung des Workshops) sprach eine so große Menschenfreundlichkeit und Warmherzigkeit, dass ich hätte heulen können – ein gewisser Kontrast zu der Aura der systemischen Szene zur damaligen Zeit, die mir doch eher durch ausgesprochene Intellektualität und kognitive Brillanz geprägt schien. Diese überaus emotionale Reaktion mag ein Beleg sein für die These, dass wir Ereignisse besonders gut erinnern, die mit starken Gefühlen verbunden sind. Was wiederum plausibel macht, dass ich ausgerechnet diesen Text hier auswählte.
In der folgenden Zeit habe ich mich intensiv mit dem narrativen Ansatz beschäftigt, der mich lange Zeit fasziniert und begeistert hat besonders in Verbindung zu der sozialkonstruktionistischen Infragestellung scheinbarer Selbstverständlichkeiten als gesellschaftlich konstruiert. Zwar fand ich später die Art der therapeutischen Fragen, die individuelle Probleme gesellschaftlich kontextualisieren sollen, für meinen Geschmack manchmal etwas suggestiv und spürte einen Anflug von Selbstgewissheit darin, die ich gern wieder radikal konstruktivistisch hinterfragt hätte. Aber dennoch bildet m. E. der narrative Ansatz einen sehr geeigneten Rahmen, um z. B. systemisch über Biographie und deren Thematisierung in der Therapie nachzudenken (und dabei durchaus Michael Whites Arbeitsweise zu erweitern).
Wenn ich auch seit dem Sommer 1989 viele vielleicht intellektuell wertvollere Beiträge als den besagten Artikel gelesen habe, steht er doch auch heute noch für die Fähigkeit, flexibel die eigenen Prämissen infrage zu stellen und die Perspektive des Denkens zu wechseln wie für das Vermögen, eine warmherzige, zutiefst empathische Beziehung zu anderen Menschen zu gestalten. Beides (und gerade ihr aufeinander-bezogen-sein) sind für mich Eckpfeiler des systemischen Ansatzes. Das ließe sich theoretisch ausgefeilter sagen, aber in einem Adventskalender-Türchen ist (zum Glück) nicht so viel Platz