systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

Stell Dir vor, es herrscht kulturelle Vielfalt – und keiner geht hin…

| Keine Kommentare


Liebe Leserinnen und Leser,

der diesjährige Adventskalender ist eröffnet. Nach anfänglicher Skepsis, ob das mit dem Kalender überhaupt etwas werden würde, bin ich jetzt zuversichtlich, dass wir die 24 Türchen zusammenbekommen. Zwei Drittel der Beiträge sind da, lassen Sie sich ermutigen, auch selbst noch etwas beizusteuern, das Thema„Interkultureller Dialog“ ist interessant genug, auch über den 24.12. hinaus weitergeführt zu werden. Die gesammtelten Texte werden zum Schluss in einem gemeinsamen PDF noch zum Download bereitstehen. Den Anfang macht heute der Psychologe und Ethnologe Clemens Metzmacher, der sein„Atelier für systemische Beratung und Supervision“ in Dresden betreibt. Lesen Sie, was er uns zu erzählen hat:

1. Stell Dir vor, es herrscht kulturelle Vielfalt – und keiner geht hin…
Gerade lese ich die wiederholte Einladung von Tom Levold zur Einsendung von Geschichten aus interkulturellen Begengungen für diesen Adventskalender mit der verwundert klingenden Frage, ob denn keine interkulturellen Begegnungen stattfänden, da fast keine Einsendungen eingetroffen seien. Ich fühle mich erinnert, denn das ist mir schon oft so ergangen: Wie oft habe ich gehört, dass das „Problem“ der interkulturellen Verständigung wirklich drängend sei. Da müsse man unbedingt mal z.B. „ein Seminar zu machen“. Und wenn dann eines angeboten wird – kommt niemand.
Mit warmem Gefühl denke ich an einen Einrichtungsleiter einer Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung, der sich in eine „Schnupper-Veranstaltung“ zu diesem Thema verirrt hatte. In einer kleinen Übung fand er sich plötzlich in einer Minderheitengruppe wieder und erlebte, wie es sich anfühlt, nicht mehr Teil der normgebenden Gruppe zu sein. „Ich habe mich in dieser kurzen Situation richtig ausgestoßen gefühlt, richtig anders. Und ich hatte das Gefühl, dass den anderen das eigentlich egal ist. Das war hart.“ Er ging mit dem Gefühl aus der Veranstaltung, dass das Thema „Umgang mit Andersartigkeit“, in das er das Thema Interkulturalität umbenannte, doch auch sein eigenes Thema ist, denn er hatte einmal „auf eine andere Seite geschaut“.

2. Zugang zum „System“ von „ganz woanders“
Meinen ganz individuellen Zugang zur systemischen (Familien-)Therapie habe ich vor etlichen Jahren in KwaZulu/Südafrika gefunden: Während einer längeren Mitarbeit in einem Selbsthilfeprojekt von Behinderten in weit abgelegenen Bergtälern hat es mich irritiert zu erleben, wie viel mehr sich die Menschen als Teil einer Familie oder Gruppe erleben, denn als Individuum. Das war ein völlig anderes „Selbst-“Erleben, als ich mir das bisher vorstellen konnte. Und das hatte auch im Umgang mit fast allen Lebensbereichen tiefgreifende Konsequenzen, angefangen beim Umgang mit Leiden („Therapien“) bis hin zur Eigentumsverteilung. Als Philosophie formuliert steht dahinter: Umuntu ubuntu xabantu („Der Mensch ist Mensch durch andere Menschen“). Bei genauerem Hinschauen, fing ich an, diese Anteile bei mir selbst zu entdecken. Als systemischer Familientherapeut ist das mittlerweile nicht mehr überraschend, aber dennoch sind mir die genannten Erlebnisse immer wieder eine Hilfe, die Tiefgründigkeit dieses Gedankens wach zu halten. Für mich steht die Wiege der Familientherapie in Südafrika.
Ein weiterer frappierender Aspekt dieses Arbeitsaufenthalts war der allgegenwärtige Rassismus, ein gelebter „Diskurs“, an dem ich teilnehmen musste, ob ich wollte oder nicht. Und natürlich wollte ich nicht. Auf der späteren Suche, dieses Phänomen für mich auch theoretisch „fassbar“ zu machen, bin ich bei der Systemtheorie luhmann’scher Prägung gelandet: Gesellschaft als Kommunikation.
Ein drittes Mal überwältigt war ich viel später bei einem anderen Arbeitsaufenthalt in der Elfenbeinküste: Die Menschen verhielten sich mir als Weißem gegenüber lange nicht so „unterwürfig“, wie ich es oft in Südafrika erlebt hatte. Mir wurde schlagartig deutlich, wie stark ich bestimmte Erlebnisse als Persönlickeitszuschreibung mit Hautfarbe bzw. einem europäisch generalisierenden Begriff „Afrika“ verknüpft hatte und wie wenig ich den Kontext einbezogen hatte. Kurz: Wie rassistisch ich bin! Ich bin jetzt etwas vorsichtiger geworden. Deutlicher hätte ich für mich die Lektion vielleicht nicht lernen können, die ich später in der Kybernetik zweiter Ordnung fand: Als „Beobachter“ erschaffe ich das System immer mit. Vor allem aber versuche ich heute immer wieder, mich als „Beobachter“ zu beobachten. Denn da stecken noch viele „Rassismen“.
Das Erlebnis, als „Weißer“ in verschiedenen Kontexten in Afrika zu leben, stößt mich immer auf einen Punkt, der mir im systemtheoretischen Diskurs bislang etwas fehlt: Das Wissen darum, dass ich „Weißer“ bin. Das ist mir sonst ja so selbstverständlich, dass ich es gar nicht zu thematisieren brauche. Vor allem aber prägt es mich so, dass ich das gar nicht merke. Es geht mir um das Benennen und das Hinterfragen des „Selbstverständlichen“. Etwas weiter sind wir vielleicht in der Geschlechterdebatte. Ich wünsche mir, dass auch im systemtheoretischen Diskurs die Frage nach der Verortung von uns als „Beobachtern“ genauer beleuchtet wird. Als Frage formuliert: Von welchen Positionen aus gesehen bin ich „anders“ – und was ist die Konsequenz?

3. Häusliche Gewalt – auf Englisch…
Sie hatte sich mit ihrem Mann angemeldet als „Täterin bei häuslicher Gewalt“. Ihr Mann sollte mitkommen, weil „er natürlich auch was damit zu tun hat“. Sie, resolute und Kompetenz ausstrahlende Mitteleuropäerin, er aus Zentralasien stammend. Als Beratungsteam arbeiten wir bei Paaren gemischtgeschlechtlich, um eine Balance herzustellen. Angefragt war Beratung in Englisch, da er kein Deutsch könne.
Sie sind beide gekommen. Die Situation ist komplex, da meine Kollegin nur wenig Englisch spricht. Auch er spricht so wenig Englisch, dass selbst seine Frau ihn oft nicht versteht. Ihre Beziehungssprache sei Englisch, er lerne Deutsch, sie könne seine Sprache nicht sprechen. Es geht bisher nur um den Beratungsrahmen. Alles ist zäh, dauert ewig. Er zeigt sich als „Besucher“, es wird jedoch immer deutlicher, dass er massive körperliche Gewalt ausübt. Mehr und mehr gibt sie sich als Opfer zu erkennen. Die aufenthaltsrechtlichen Fragen sind recht komplex. Zentraler Dreh- und Angelpunkt ist das gemeinsame Kind und die unterschiedlichen Ansprüche an die Elternschaft…
…Beratungsalltag in meiner Beratungsstelle. Ich habe den Eindruck, dass man an jedem Eckchen anfangen könnte und müsste, dass überall Fallstricke lauern. Um so mehr bin ich überrascht, dass er wiederkommen will. Und beim nächsten Termin bin ich gerührt, als er beginnt, sich zu öffnen und plötzlich etwas von Herzlichkeit spürbar wird: Er ist angekommen. Sie auch. Aber jeweils einzeln. Eine Lösung haben wir als Beratende nicht, können wir auch nicht haben. Und das ist vielleicht das Entlastende, niemand verlangt, dass wir die Expertenlösung für diese Komplexität haben. Wir gestalten den Prozess und den Rahmen, mir kommt der Satz einer Lehrtherapeutin in den Sinn: Wenn Du schnell sein willst, sei langsam…

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.