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Sozialpsychiatrie und systematisches Denken

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Hartwig Hansen aus Hamburg hat in den vergangenen Jahren immer einen Text für den systemagazin-Adventskalender geschrieben, so auch dieses Mal. Ihm ist ein Buch in Erinnerung gekommen, das ihn auf die„systemische Spur“ gebracht hat:

Sozialpsychiatrie und systematisches Denken

Ich bin sicher, es muss noch irgendwo in meinem Bücherregal zu finden sein. Mal sehen. Ja, hier sind all die Wälzer – Simon und Co: „Die Sprache der Familientherapie“, Jeffrey Zeigs „Psychotherapie – Entwicklungslinien und Geschichte“, „Das Satir-Modell“ und so weiter – die letzten zwanzig, dreißig Jahre querbeet.
Ein paar Handgriffe weiter werde ich fündig. Der blaue Rücken ist schon etwas vergilbt, das Buch ist längst vergriffen und wurde damals auch in einer Druckerei mit dem Firmennamen Plump hergestellt.
Ja, genau das Charlie Chaplin-Bild aus „Moderne Zeiten“ von 1936, auf dem er sichtlich überfordert an der großen Maschine mit den zahllosen Zahnrädern rumschraubt. Das fanden wir damals passend zum Buchtitel, der da lautet: „Sozialpsychiatrie und systemisches Denken“ – weiße Schrift auf blauem Grund. Erschienen ist das Buch 1988 im Bonner Psychiatrie Verlag, dessen Leitung ich ein halbes Jahr vorher übernommen hatte.
Dieses unscheinbare, inhaltlich aber schwergewichtige Werk war meine erste Begegnung mit dem „Systemischen Denken“.
Thomas Keller, damals Abteilungsarzt in der Landesklinik Langenfeld und ausgewiesener Fan der systemischen Idee, hatte angefragt, ob der Verlag die Beiträge und Diskussionen des ersten Langenfelder Symposiums von 1987 veröffentlichen wolle, er halte es für notwendig und an der Zeit, die fortschrittliche psychiatrische Szene mit dem „Systemischen“ bekannt zu machen. Heute staune ich beim Lesen des Inhaltsverzeichnisses, wen er und seine Kollegen damals bereits in Langenfeld zusammengerufen hatten. Mir sagten die Namen nichts – heute weiß ich, dass es alles Pioniere für das „neue Denken“ waren: Luc Ciompi schrieb über „Systemtheoretische Aspekte der psychiatrischen Rehabilitation“, Fritz B. Simon und Gunthard Weber skizzierten „Das Invalidenmodell der Sozialpsychiatrie“, Klaus Deissler fragte in Form von „Zehn Thesen: Lohnt sich der Flirt mit der systemischen Therapie?“ und Jay Haley mahnte – unnachahmlich ironisch –: „Warum ein psychiatrisches Krankenhaus Familientherapie meiden sollte“ …
Am Ende des Buches stellte Thomas Keller selbst eine „Kleine Übersicht wichtiger Begriffe in der systemischen Therapie“ zusammen: Autopoiese, Delegation, Double bind, Kontext, Kybernetik, Symbiose, Zirkularität … Potzblitz, ich verstand nur Bahnhof. Gut, dass es hier mal knapp und verständlich erklärt wurde.
Irgendwas musste also dran sein an dem „Neuen“, immer häufiger begegneten uns in der Verlagsarbeit „systemische“ Ansätze, Ideen, Vokabeln – der Psychiatrie Verlag verstand sich ja als der innovative Fachverlag der Sozialpsychiatrie und war Neuem durchaus aufgeschlossen, auch wenn es sich manchmal so anfühlte, als könne das Ganze auch eine der schnelllebigen Moden sein.
Dass der für uns so wichtige Buchhandel mit dem Titel „Sozialpsychiatrie und systemisches Denken“ – aus heutiger Sicht ein Selbstgänger – so seine Probleme hatte, merkten wir an den wiederholten, mal schriftlichen, mal telefonischen, Hinweisen nach Erscheinen, dass uns da wohl ein peinlicher Satzfehler unterlaufen sei: Wenn überhaupt wollten sie das Buch „Sozialpsychiatrie und systematisches Denken“ für einen Kunden bestellen …
Und wir konnten nur mit dem ebenfalls im Verlag erschienenen Titel des Standardwerks „Irren ist menschlich“ antworten und das mit dem „Systemischen“ zu erklären versuchen. Das war dann mitunter nicht so einfach mit der Verständigung und endete in der Regel mit dem (etwas genervten) Satz: „Ja, dann schicken Sie uns doch bitte einfach das Buch …“
So schlecht finde ich die Verwechslung „systemisch – systematisch“ heute gar nicht mehr.
Thomas Keller und „das systemische Denken“ haben sich – systematisch überzeugend – durchgesetzt in den letzten Jahrzehnten, und ich freue mich, dass ich das Buch mit dem Charlie Chaplin-Cover in meinem Bücherregal noch wiedergefunden habe. Es ist ein kleiner Schatz, von dem ich vor 23 Jahren nie gedacht hätte, dass ich das heute so schreiben würde.

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