Unter dem Titel „Sollen wir wieder wissen, wo’s langgeht? Gedankengänge zur Vermittlung des systemischen Psychotherapieverständnisses in der Ausbildung“ haben sich Sabine Klar und Danielle Arn-Stieger, beide Lehrtherapeutinnen bei der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie und systemische Studien (ÖAS), Gedanken über die inhaltliche Ausgestaltung von Ausbildungscurricula in Systemischer Therapie gemacht, die gerade als Open Access-Artikel im Psychotherapie Forum veröffentlicht worden sind. Im abstract heißt es:
„Die gesellschaftliche Umgebung ist im Gesundheits- und Sozialbereich zunehmend von neoliberalistischer Kosten-Nutzen-Optimierung und Standardisierung geprägt. Klient:innen und deren Störungen sollen mit diversen psychotherapeutischen Techniken behandelt werden, um damit möglichst effizient gesellschaftlich erwünschte therapeutische Ziele zu erreichen. Systemische Ausbildungseinrichtungen geraten dadurch in ein Spannungsverhältnis – sie vertreten ihrer Tradition gemäß ein anderes Therapieverständnis und wollen gleichzeitig Studierende darauf vorbereiten, auch aktuellen Erwartungen zu entsprechen. Aus der Sicht der Autorinnen (die eine seit vielen Jahrzehnten Lehrtherapeutin, die andere erst seit kurzem in dieser Funktion tätig) wird eine (selbst)kritische Reflexion möglicher zukünftiger Entwicklungen als notwendig erachtet.“
Kosten-Nutzen-Optimierung ist nichts Schlechtes, erst recht nicht in einem solidarfinanzierten Gesundheitswesen mit hohen (Zwangs-)Abgaben, das schon aus Akzeptanzgründen Rechenschaft über seinen Nutzen ablegen und Restriktionen bezüglich seiner Ausgaben einfordern muss – so schwierig das im Einzelnen auch bestimmt werden kann. Der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP steigt zudem seit Jahrzehnten im ach so bösen „Neoliberalismus“ relativ und absolut wie in keinem anderen uns bekannten Wirtschaftssystem: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/76458/umfrage/deutschland-entwicklung-der-gesundheitsausgaben-seit-1997/
Schon insofern kann man sich über die Rahmung des Beitrags nur wundern und sich fragen, an welchem realweltlichen Maßstab sich dessen Klagen eigentlich messen wollen?
Eine völlig andere Frage ist freilich, wie man unter diesen im weltweiten und historischen Realvergleich paradisischen (!) Bedingungen (im Unterschied zu Vergleichen mit fiktiven Paradiesen und Schlaraffenländern) für die allgemeine Finanzierung von Therapien diese auch möglichst sinnvoll durchführen kann. Dass hier Kostenträger und Nutznießer unterschiedliche Ansprüche stellen und stellen müssen (und bei Dienstleistern entsprechend bilinguale Kompetenzen einfordern), könnten allerdings gerade systemisch (!) informierte Therapeuten nicht nur verstehen, sondern unter Berücksichtigung der eigenen Theorien geradezu erwarten.
Bei aller Sinnhaftigkeit (und Notwendigkeit!) der Frage, wie man eine für einen konkret leidenden Patienten unter notwendig widersprüchlichen Anforderungen eine bestmöglich hilfreiche Therapie gestaltet, wäre es zu begrüßen, sich darüber nicht in Klagen über Umstände zu verlieren, die man gerade mit den eigenen Modellen zunächst einmal und vor allem besonders gut verstehen könnte. Im Anschluss daran könnte man sogar über Alternativen nachdenken, wie konkrete Reformen unter Berücksichtigung (im Gegensatz zu: Verleugnung) auch der wirtschaftlichen Seite aussehen könnten. Aber klar: Das ist dann halt ein bisschen anstrengender als empirie- und theoriebefreite, mit politischen Kampfvokabeln aufgeladene Klagen darüber, dass Ressourcen endlich sind und öffentliche Gelder nicht ohne jede Begrenzungsregel (etwa: Diagnosen) einfach rausgehauen werden, wie man es selbst gern hätte.
Die Bestrebungen in der Richtlinienpsychotherapie in D (die Verhältnisse in Ö kenne ich zu wenig) sind ebenfalls bedenklich. Das Stichwort „Vereinheitlichung“ trifft es ganz gut. Es ist eine zunehmende „Verhaltenstherapeutisierung“ der PT zu beobachten, zudem werden die „digitalen Gesundheitsanwendungen“ (DiGA) inflationär beworben und von den Kassen gefördert.
Ob das „neoliberal“ ist, würde ich bezweifeln, den mit „freiheitlich“ hat das ja nichts zu tun. Es entspricht eher der globalistischen Gleichmacherei, die ja letztlich keine Vielfalt, sondern eine Gleichmacherei auf allen Ebenen zur Folge hat (ein paar wenige werden dann iS Orwells natürlich „gleicher“ sein als andere …).
Jedenfalls scheinen die 70er und 80er Jahre mit dem Blühen der Vielfalt in der PT endgültig vorbei zu sein. Die zunehmende Medikalisierung (selbst Hausärzte verschreiben sehr schnell Antidepressiva) ist ein weiterer trauriger Aspekt.