Im März ist Siegfried J. Schmidt im Alter von 84 Jahren gestorben. Er war einer der großen konstruktivistischen Denker hierzulande, auch wenn seine Werke im systemischen Feld nicht immer die Beachtung gefunden haben, die ihnen gebührte. Schon in den frühen 1980er Jahren war er maßgeblich an der Verbreitung radikalkonstruktivistischer Positionen im deutschsprachigen Raum beteiligt, seine Überlegungen zum Zusammenhang von Sprache, Denken und Handeln in Kultur und Kommunikation standen für ihn Zeit seines Lebens im Mittelpunkt seines Schaffens.
Walter Schwertl hat von ihm gelernt und ist sein Freund geworden. Als Freund nimmt er mit seinem Nachruf Abschied von Siegfried J. Schmidt.
Walter Schwertl, Alzenau: Nachgerufene Worte
Die Behauptung,
alles ist Konstruktion,
ist eine triviale Allbehauptung,
die alles und nichts aussagt!
SJ. Schmidt
Am 3. März 1925 ist Prof. Dr. Dr. Siegfried J. Schmidt nach langer schwerer Krankheit verstorben. Wir haben einen großen Geisteswissenschaftler, Philosophen und Künstler verloren. Mein geistiger Mentor, Diskurspartner für philosophische und literarische Fragen und enger Freund wird mir und vielen anderen Menschen fehlen. SJS hinterließ ein gewaltiges Werk von achthundert Publikationen, vierzig Büchern in zwanzig Sprachen und eine große Anzahl an Grafiken. Dies in einem Nachruf passend zu würdigen ist kaum möglich. In einer seiner letzten Publikationen schrieb SJS: wir benötigen Erzählungen und Geschichten. Die nachgerufenen Worte sollen meine Erzählung sein.
Geboren 1940 in Jülich, flüchtete die Familie vor immer neuen Bombenangriffen und Kriegszerstörungen letztlich in das großväterliche Grafendorf, Kärnten, auf den Bauernhof.
Österreich erfand sich nach Kriegsende neu. Die Alpenrepublik Österreich verstand sich nunmehr als Opfer des Naziregimes. In Folge wurde Familie Schmidt als Reichsdeutsche ausgewiesen und in verdreckten Viehwaggons abtransportiert. Dörfliche Idylle ade! Zielort: Ruhrgebiet, mit Hunger, Bombenschäden und Chaos als Zugabe. SJS schrieb: Wenn Sie eine solche Sozialisation mit der von Heinz von Foerster oder Ernst von Glaserfeld vergleichen, wird deutlich, wie uneinholbar die Differenzen waren. Der Weg zum international renommierten Wissenschaftler war weit.
SJS und ich hatten eine ähnliche Herkunft, viele Gemeinsamkeiten. Aber vor allem verstanden wir unsere Unterschiede als interessante Lernfelder. Sein Credo war: Alles ist einstweilig und nur die Veränderung ist stabil. Unsere Geschichte ist auch eine Geschichte der Veränderung. Allein die Anreden zeigten es. Aber wichtiger waren andere Veränderungen. Vom Lernenden zum Co-Autoren, zum Freund. Wieder zum Lernenden und jetzt zum nachrufenden Freund. Während der Mühen des zweiten Bildungsweges träumte ich davon, nach dem Abitur einen Hochschullehrer zu finden, der mich das Fehlende lehrte. Obwohl ich nie bei ihm studierte, habe ich ihn gefunden.
Ein Satz war besonders grell erleuchtet: Kommunikation kann man betreiben oder man kann es auch sein lassen. Zu dieser Zeit wurde ein Axiom zum allgegenwärtigen Mantra: Es ist nicht möglich, nicht zu kommunizieren.Höflich schrieb ich dem Herrn Universitätsprofessor, schilderte meine Überlegungen und bat um geistige Hilfe. Ohne professoralen Weihrauch zu verdampfen, frei von Hochnäsigkeit, aber dafür freundlich, kam die Erklärung. Ich verstand sie und war erleichtert. Rad fahren, fromm beten oder innerlich fluchen, all dies und viel mehr durfte ich jetzt, ohne kommunizieren zu müssen. Ich hatte gelernt, nach Setzungen Ausschau zu halten. Ohne die notwendigen Voraussetzungen zu benennen, war das Axiom von Watzlawick einfach nicht brauchbar.
Nicht lange wartend lud ich SJS im Rahmen unserer Seminarreihen nach Frankfurt ein. Die Abstraktionshöhe, sein Tempo und unsere Langsamkeit hinterließen am Ende des Tages deutliche Spuren. Die Teilnehmer und wir, die Veranstalter, wirkten müde, herausgefordert, aber erfüllt.
Während des Abendessens erzählten wir uns Berührungspunkte, die uns näherbrachten. Die Kärntner und Salzburger Geschichten waren dem Spott eines Thomas Bernhard nahe.
Kaum hatten der Philosoph und der Praktiker Gemeinsamkeiten entdeckt, kündigte der Herr Professor das Ende des gepflegten Abendessens an. Heute spielt Deutschland. Das muss sein! Kognitive Geschlossenheit – Konstruktionen – Wahrheit – Wirklichkeit – das bäuerliche Kärnten – das hochnäsige Salzburg – mein aktueller literarischer Favorit Thomas Bernhard und dann Angriff – Doppelpass Tor!
Solche Sprünge und pointierten Sätze habe ich schätzen gelernt. Ich erinnere mich an sehr überraschte Gesichter, als der Satz kam: Die Inhalte der Zeitung mit den vier Buchstaben sind nicht blutrünstig, das Blut kann höchstens hineingelesen werden.
SJS war mir ein Mentor im besten Sinne, aber nie ein Lehrer. Er war ein großartiger Ermutiger. Wir haben gemeinsam publiziert. Meinen ersten Gehversuch als Romancier veredelte er mit einem wunderbaren Schmuckzitat auf der Rückseite des Buches.
Beide liebten wir die Berge, diese Auseinandersetzung mit der Natur hat uns Heraklit sinnlich erfahren lassen: wir können keine Gipfel zweimal besteigen. Jeder Gletscher ist jedes Jahr anders. Die Dinge sind im Fluss. Jetzt kann er seinen geliebten Latemar nicht mehr besteigen. Die Berge, Kärnten, hatten ihn nicht mehr losgelassen. Er war immer ein Wanderer zwischen Ländern, den akademischen Eliten, einer bäuerlichen Welt und als ob dies nicht reichen würde, auch einer künstlerischen Welt. Experimentelle Dichtung, Poesie, unzählige Grafiken und ein imposantes wissenschaftliches Werk – eine satte Lebensleistung!
Eines Tages kam er aus der Namib-Wüste mit dem Manuskript von Geschichten und Diskurse zurück. Man kann es als Korrektur des Radikalen Konstruktivismus lesen. Es war eine Art, zur Seite zu treten. Wahrscheinlich hätte er es als kognitive Lockerung bezeichnet. Das Gerede über Konstruktionen, wir haben es gemeinsam Vulgärkonstruktivimus genannt, wurde ihm zu viel.
Nichts hat Bestand. Aber das, was ich von SJS gelernt habe, bleibt mir: In vielen relevanten Publikationen ist von dem Beobachter die Rede. Aber was macht der Praktiker damit? Ist es eine Theoriefiktion? Was hilft es dem Praktiker, wenn er ein Beobachter ist? SJS hat es wunderbar erklärt.
Wir beobachten die Welt, um handeln zu können. Ich beobachte und berate Menschen. Dies kann man Beobachtung 1. Ordnung nennen. Hierbei geht es aber nicht um Erkenntnistheorie. SJS: Um eine Küche aufzuräumen, benötigt man keine Erkenntnistheorie. Beobachten wir einen Beobachter, wie er beobachtet, z. B. einen Berater, ist es Beobachtung 2. Ordnung. Wie denkt der Berater über die Aufgaben usw.? Letztlich können wir auch Beobachtungen zweiter Ordnung beobachten -z. B. Wie lehren wir das Lehren von Beratung. Dies wäre Beobachtung 3. Ordnung. Hier ist der Bogen zur Praxis modelliert. Kunde – Berater – Ausbilder von Beratern.
Jede Erkenntnis und damit Wirklichkeiten sind abhängig von Bedingungen und Voraussetzungen. Dies knüpft an Gregory Batesons Begriff des Kontexts an. Wissenschaft wird nicht in Abrede gestellt. Aber damit produzierte Wahrheiten sind lokal und zeitbedingt. Konstruktivismus ist somit nur eine mögliche Sicht der Welt.
Berater sind immer davon bedroht, von der süßen Frucht der absoluten Wahrheit vernebelt zu werden. Der Konstruktivismus ist das beste Gegengift, er relativiert die Expertenrolle. Ganz generell geht es im Konstruktivismus um das Infrage stellen, genauer gesagt um die Aufhebung der Herrschaft über andere Personen. SJS wurde nie müde, auf die Rückbezüglichkeit hinzuweisen. Letztlich landet man dann bei Bescheidenheit. Darin war SJS ein Meister.
Ein ganzes Beraterleben hat mich die Frage umgetrieben, wie wir die Kunden unterstützen können, ihre eigenen Lösungen zu finden, ohne Herrschaft auszuüben. Viele Jahre suchte ich nach Antworten auf die Fragen. Die eigenen Fachdisziplinen haben immer nur Wege aufgezeigt, wie man die Definitionsmacht vergrößert oder erhält. Meine Suche ist bis jetzt nicht zu Ende. Aber ich weiß nun, wo ich suchen kann. Kontingenz beachten! Geschichten erzählen! Mit Kunden Diskurse führen!
Ein Beispiel: SJS beschäftigte sich mit dem Denken über das Denken. Dies lässt sich hervorragend auf die Praxis von Paarberatung übertragen. Man kann mit Paaren über ihr Denken von Liebe und Partnerschaft Diskurse führen. SJS: Wenn man einmal eingesehen hat, dass man lernen muss, sich mit den Augen der Anderen zu sehen … Wir können unsere Kunden ihre eigenen Schlüsse ziehen und Entscheidungen treffen lassen. Hierfür benötigt man kein Pathologiekonzept von Partnerschaft, keinen Geschlechterkrieg. Auch Catwalks von Beratern und Diagnosen von Beziehungen erübrigen sich.
Kontingenz war SJS besonders wichtig: die Möglichkeit, dass die Dinge anders sind, als wir denken. Auch hier warnt er vor zu schnellen Schlüssen, denn auf die Fiktion der Wahrheit können wir nicht verzichten. In einem Interview hat SJS die kürzeste aller Formeln geprägt: Es gibt keine Wahrheit, aber wir brauchen sie. Allerdings war er hinsichtlich der Popularität von Kontingenzdenken nicht sehr optimistisch. Er zweifelte daran, ob wir bereit sind, den Anspruch auf Steuerbarkeit und das Beharren auf Herrschaft über Menschen aufzugeben. In Anbetracht der Tatsache, dass Politiker unwidersprochen heute erneut von Kriegsvorbereitung sprechen, ist seine Skepsis mehr als berechtigt.
In meinem neuen Roman führt die Hauptfigur Selbstgespräche über den großen Abschied. Konfrontiert mit der Endgültigkeit des Todes, verschwinden alle Erklärungen. Es sei denn, man ist fest in einen Glauben eingebunden. Aber was hilft dann, wenn man den Glauben verloren hat oder ihn nie hatte? Leider kann man Glauben nicht bei Bedarf bestellen. Einmal hatten SJS und ich über solche Themen gesprochen. Es dauerte nicht lange und wir fabulierten darüber, wer denn unsere Tischnachbarn im Himmel sein sollten. Wie so oft hatten wir die Welt verlacht und mit Ironie betrachtet, so wollten wir es mit dem Vorgriff auf den Himmel auch handhaben. Die Namen unserer Tischnachbarn? Er würde sanft lächeln und einstweilig nichts sagen.
Irgendwo habe ich gelesen, die entscheidende Frage sei, ob man Spuren hinterlässt, wenn der Vorhang gefallen ist. Bei mir hast Du tiefe Spuren hinterlassen.
Danke!