Martin Rufer, Bern:
Unter diesem Titel fand am 8./9. Juni in Salzburg ein Symposium zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Dr. Güntr Schiepek statt. Dazu wurden zahlreiche internationale Wissenschaftler, Forscher und Praktiker als Wegbegleiter von Günter Schiepek von seinem Mitarbeiterteam (am Institut für Synergetik und Psychotherapieforschung der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität, Salzburg) eingeladen. In über 25 Kurzvorträgen wurde nicht nur das inter- und transdisziplinäre Schaffen von Günter Schiepek einmal mehr deutlich, sondern auch die visionäre Ausrichtung auf eine prozessorientierte, empirisch dokumentierte Psychotherapie jenseits des Diagnose- und störungsorientierten medizinischen Standardmodells. Vieles deutet darauf hin, dass das, was sich aus der Komplexitätsforschung heraus in anderen Wissenschaftsfeldern schon längst durchgesetzt hat, auch im Bereich der Psychotherapie nicht mehr wegzureden ist, auch wenn sich wohl nicht alle Visionen eins zu eins durchsetzen lassen. Insofern darf Günter Schiepek diesbezüglich in der Tat als unermüdlicher Pionier einer systemtheoretisch orientierten Praxisforschung gelten, auch wenn seine wissenschaftlichen Arbeiten in der Community nicht überall dementsprechend aufgenommen wurden und werden. Da in diesem Rahmen nicht näher auf die einzelnen Symposiumsbeiträge eingegangen werden kann (ein Tagungsband wurde angekündigt), stelle ich im Folgenden meinen persönlichen, sowohl würdigenden wie kritischen Beitrag zur Verfügung. Es handelt sich dabei um einen fiktiven Dialog zwischen einem Forscher und Praktiker unter dem Titel «Einfach und komplex – geht das zusammen?», in welchem sich auch das Wegstück abbildet, das mich mit Günter verbindet.
Zwei Psychologen, der eine Therapeut, der andere Forscher, befreundet und beide seit Langem unterwegs in Sachen Psychotherapie, treffen sich nach einem langen Arbeitstag beim Heurigen mit der Frage: Komplex und einfach – geht das zusammen?
Therapeut: Um es gleich vorweg zu nehmen: wenn das nicht zusammen gehen würde, hätten wir beide wohl den Faden zueinander nie gefunden… Seit Jahren bin ich bemüht zu verstehen, warum, vor allem aber wie das, was ich in meinen Therapien mache, nicht mache oder auch mal anders mache, „einfach“ wirkt. So auf jeden Fall sagen es mir Lernende von Psychotherapie , v.a. aber meine Klienten und Patienten, auch wenn sie mir am Ende einer Therapie dann nicht genau sagen können, warum es ihnen besser geht, weniger Ängste haben oder keine Drogen mehr nehmen oder wie es ein Afrikaner in einer Paartherapie ausdrückte: „Eigentlich haben Sie gar nicht so viel geredet, nur unsere Herzen geöffnet“…
Forscher: Ein schönes Feedback, wirklich. In fast poetischer Weise macht es anschaulich, dass die Natur selber Komplexitätsreduktion einführt durch die Erzeugung von selbstorganisierten Strukturen und Mustern in Systemen. Ich gehe davon aus, dass Du Dir über die Jahre ein Wissen und Können angesammelt hast, das Dir hilft, das, was Deine Patienten Dir sagen oder auch nicht sagen, so zu gestalten, dass sich in fortlaufenden Feedbacks ein Resonanz- und Synchronisationsprozess entwickelt. Sicher orientierst auch Du Dich, wie die meisten Therapeuten – bewusst oder unbewusst – an gewissen Prinzipien und verfügst über ein Set an Faustregeln, die Dir helfen das zu tun, was passt.
Therapeut: Ja, in der Tat bin ich immer wieder auf der Suche nach solchen Essentials. Du aber meinst wohl diejenigen Prinzipien basierend auf der Synergetik, die Du als „Generische“ im Sinne einer Heuristik für die Therapie vor Jahren schon formuliert hast. Ein wahrhaft grosser Wurf, der Dir da gelungen ist und dies, wie Du mir einmal offenbart hast, erst noch ganz beiläufig auf einer Zugfahrt. Auch wenn ich nie herausgefunden habe, warum es gerade deren acht sind, für mich war es ein „Aha-Erlebnis“, pionierhaft ein Markstein für das, was systemische Therapie auch jenseits der Therapieschule bedeuten und beinhalten könnte.
Forscher: Danke, danke. Aber das Alles ist ja nicht alleine auf meinem Mist gewachsen.
Therapeut: Ja, Du denkst hier wahrscheinlich u.a. an die „Allgemeinen Wirkfaktoren“, auf die nicht genügend hingewiesen werden kann. Darüber hinaus gehend eröffnete sich mir aber mit den „Generischen Prinzipien“ ein vereinfachendes Erkenntnis- und Handlungsmodell, in welchem sich meine Therapieprozesse so nachverfolgen und nachzeichnen liessen, dass ich mich in meinem Tun in diesen eins zu eins wieder erkennen konnte. Auch wenn man, um therapeutisch erfolgreich zu sein, nicht zwingend eine Landkarte braucht, hast Du damit eine Art von offener „Partitur“ vorgelegt, die insbesondere auch Lernenden helfen kann, passende, manchmal auch verblüffend einfache Entscheidungen von Klienten überhaupt zu erkennen und solche im fortlaufenden Therapieprozess auch selber zu fällen.. Mit ein Grund, warum ich später in meinem Buch „Erfasse komplex, handle einfach“ – zu dem Du mir ja Mut gemacht und mir die Türe zum Verlag geöffnet hast – vorwiegend Fallbeispiele transkribiert und diese entlang der Generischen Prinzipien step by step kommentiert habe. Dass Einfaches nun aber nicht noch einfacher gemacht werden darf, hat schon Einstein gefordert. In diesem Sinne schliesse ich mich Wolfgang Loth an, der mir einmal schrieb: «Je länger ich diese intensive Auseinandersetzung mit der Theorienwelt pflege, desto freier werde ich in der praktischen Arbeit» und unterstrich damit die schon bald 70 Jahre alte Weisheit von Kurt Lewin. dass «es nichts Praktischeres gibt als eine gute Theorie.»
Forscher: Das freut mich natürlich. Dies umso mehr als ich unsere Forschung als praktische verstehe, auch wenn ich damit, wie Du weisst, auch in unserer community auf hartes Brot beisse. Manchmal scheint mir sogar, dass ich mich – insbesondere auch unter Systemikern – in einem anderen, wenn gegen außen auch gleich etikettierten Universum bewege…
Therapeut: Ja, den Eindruck, dass es sich dabei um zwei unterschiedlich geregelte, oft sogar voneinander gänzlich abgekoppelte Sinn-, Sozial- und Kommunikationssysteme handelt, teile ich. Nicht zuletzt darum verstehe und bewege ich mich mit „meinen zwei Seelen in der Brust“ oft als Übersetzer und Brückenbauer in zwei unterschiedlichen Welten. Allerdings kann man sich auch damit, als Überläufer und Nestbeschmutzer, in die Nesseln setzen.
Und das mit den Etiketten ist ja so eine Sache, denn nicht immer ist auch drin, was drauf steht. Das gilt übrigens nicht nur für die systemische Therapie. Wir beide haben diesbezüglich ja mit der Schreibweise versucht, einen Unterschied zu machen zwischen Systemischer Therapie mit grossem S als spezifisches Verfahren einerseits und integrativ verstandener systemischer Therapie mit kleinem s andererseits. Ob sich diese Unterscheidung auf die Länge etablieren wird, muss sich zeigen. Schon Klaus Grawe hat ja mit der „Allgemeinen Psychotherapie“ (grosses A) versucht, sein integratives Modell im Mainstream zu positionieren (kleines a). Bisher etabliert, hat sich aber m.E. leider nur das nach ihm benannte (spezifische) Verfahren (mit grossem A).
Was aber das aus der systemtheoretischen Komplexitätsforschung generierte Wissen und im Speziellen die Theorie der Selbstorganisation anbetrifft, habe ich auch aus Sicht des Therapeuten keine Zweifel, dass diese sich nicht nur wie schon in der Neurowissenschaft, sondern auch in den Humanwissenschaften als neues Paradigma etablieren wird. Dies allerdings wäre dann in der Tat, durch alle Anfechtungen hindurch und über Jubiläen hinaus, eine, wenn auch späte Ehre für Dich.
Forscher: Danke für die Blumen. Ich nehme sie gerne, denn oft spüre und sehe ich mehr die Dornen als die Rosen. Obwohl uns beiden aus wissenschaftlicher wie praktischer Sichtweise heraus klar ist, dass die schulenspezifische Orientierung in der Psychotherapie obsolet geworden ist, weist der nach wie vor an den Verfahren orientierte Anerkennungsprozess immer noch in eine andere Richtung …
Therapeut: Und in einem erweiterten Zusammenhang teile ich als Psychotherapeut die Sorge von Michels, der vor kurzem in einem Artikel in der Zeitschrift „Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis“ geschrieben hat: „Die Initiativen laufen, wenn sie planmäßig umgesetzt werden sollten, auf eine noch stärker biologisch-neurowissenschaftlich orientierte psychiatrische Forschung hinaus. Es ist zu befürchten, dass psychologisch und sozialwissenschaftlich begründete Ansätze noch weiter ins Hintertreffen geraten“. Dem gilt es das entgegen zu setzen, was der Soziologe Peter Fuchs in seinem Buch „Die Verwaltung der vagen Dinge“ einmal treffend formuliert hat: „Wenn Psychotherapie in der Medizin aufgeht, hat sie aufgegeben“. Für mich ein unmissverständlicher Appell an Therapeuten und Forscher, auch in Sachen Wissenschafts- und Berufspolitik, die immer auch Machtpolitik ist, nicht abseits zu stehen. Und wenn die systemische Therapie darauf Antworten hat, soll sie Teil dieses, auch selbstkritischen Diskurses sein.
Forscher: Nun, ich für meinen Teil versuche vor Ort, aber auch als Reisender und Publizierender in dieser Sache Zeichen zu setzen für ein genuin humanistisches Anliegen – immer auch auf der Suche nach Bündnispartnern.
Therapeut: Was Deine Publikationen anbetrifft, da allerdings macht Dir keiner so schnell was nach. Die müssten wohl schon eher gewogen als gezählt werden, auch wenn Vieles davon weder im Mainstream der Psychotherapieforschung noch beim Gros der Therapeuten richtig angekommen ist. Ich selber würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich davon den Löwenanteil gelesen, geschweige denn diese in grosser Differenziertheit geschriebenen Texte auch gänzlich verstanden hätte.
Forscher: Das musst Du auch nicht. Ich denke aber, dass wir mit unserer Praxisforschung und dem internetbasierten SNS eigentlich ein einfaches Instrument geschaffen haben, das Therapeuten und Patienten mittels differenzierten Zeitreihenanalysen helfen kann, besser zu verstehen und navigieren, was in- , aber auch und ausserhalb der Therapiestunden geschieht und bedeutsam ist.
Therapeut: Ich zweifle nicht daran, dass heute, wo Paarforscher sogar die Liebe vermessen und Online-Therapien sich mit ansehnlichem Erfolg verbreiten, auch wir PsychotherapeutInnen weder an der Mathematik noch an der Nutzung digitaler Medien vorbei kommen. Dass ein international anerkannter Psychotherapieforscher wie Bruce Wampold Deinen diesbezüglichen Ansatz in einem Panelbeitrag auf dem Heidelberger Forschungskongress im letzten Jahr als „Therapie der Zukunft“ titulierte, müsste auch Kritiker und Skeptiker aufhorchen lassen. Trotzdem: Die Arbeit mit dem SNS etabliert sich zwar zusehends in klinisch stationären Kontexten, in der ambulanten Alltagspraxis ist diese m.E. aber noch nicht wirklich angekommen.
Forscher: Nun, inzwischen liegen ja einige Forschungen auch aus ambulanten Settings vor. Hier bräuchte es eben Kollegen wie Dich, die bei der Multiplikation mithelfen. Schon vor Jahren hast Du ja im Rahmen eurer Praxisgemeinschaft erste Erfahrungen im Umgang mit dem SNS gemacht. Das Ganze hat sich im Laufe der Jahre ja nun auch weiterentwickelt und, was die Handhabung anbetrifft, auch vereinfacht.
Therapeut: Das will ich auch gar nicht in Abrede stellen. Trotzdem hat es sich noch nicht etabliert. Die Gründe dafür gälte es, auch im Diskurs mit TherapeutInnen in freier Praxis genau zu reflektieren. Für mich als Psychotherapeut, der sein Handwerk vorwiegend in der Beziehungsgestaltung in unterschiedlichsten Settings und damit als Gesprächskünstler auch als Kunsthandwerk versteht, steht und bleibt die direkte, unmittelbare Begegnung mit leidenden Menschen im Zentrum. Sie ist Teil meiner Identität. Auch wenn das SNS Begegnung mit einschliesst und dem Therapeuten und Patienten mittels visuell dargestellten Komplexitätsdiagrammen wertvolle Inputs gibt und so auch hilft, Sackgassen zu erkennen, bleibt mir, wie Du aus unsern Gesprächen weisst, ein über Rechner gesteuertes synergetisches Prozessmanagement irgendwie halt doch etwas fremd. Aber als Oldie der Szene bin ich ohnehin ein Auslaufmodell und altersentsprechend vielleicht eben auch ein bisschen Nostalgiker.
Forscher: Sicher ist, dass die Psychotherapie von morgen, nicht zuletzt wegen den zunehmenden Kosten im Gesundheitswesen, eine andere sein wird. Im Markt behaupten können sich wohl nur solche Modelle, die „wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich“ (WZW Kriterien, Schweiz) sind. Daran müssen sich die Jungen wohl zunehmend messen lassen.
Therapeut: Ja, so ist es. Genau darum auch stehe ich, wenn auch als kritischer Beobachter hinter Deiner und eurer Sache. Uns Therapeuten, Jüngeren und Älteren, hilft das Wissen um die Kraft von Selbstorganisationsprozessen und die Erforschung derselben ungemein. Nicht nur um sich von „sudden changes“ überraschen zu lassen, sondern im Blick auf die Kompetenzen von Klienten und Patienten diese Selbstorganisationsprozesse auch zu fördern, sich aber im Blick auf die Grenzen der Machbarkeit auch zu bescheiden. Oft ist das „Leben ja gar nicht so, sondern ganz anders als man denkt“, hat Tucholsky einmal gesagt. Auch wenn die Systemtheorie sensu Synergetik nicht alle Geheimnisse lüften kann, ist sie ein Schlüssel zum Verständnis von Wandel als einer Türe, die sich nur von innen, d.h. von den Patienten und Klienten öffnen lässt. Und genau hier liegt das Einfache im Komplexen oder wie es der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler in seinen Poetik-Vorlesungen (Das Kurze, das Einfache, das Kindliche) sagt: «Das Einfache ist nicht das Simple, sondern es ist das Komplexe, das sich nichts anmerken lässt.» Unser Metier betreffend heisst dies, das Augenmerk auf die Mikroprozesse im Rahmen der viel beschriebenen, aber kaum konkretisierten therapeutischen Beziehung zu richten. Oder wie es Daniel Stern, kein Systemtherapeut i.e. S., aber als Psychoanalytiker und Forscher ein Synergetiker, treffend geschrieben hat: „Die Realität wird erst erkennbar, wenn man sich diese Ebene der Mikrovorgänge sehr genau anschaut».
In diesem achtsamen Tun sind aber nicht nur wir Therapeut gefordert, Augen und Ohren zu öffnen, sondern genauso steht auch Ihr als Forscher in der Pflicht, Komplexes verständlich und auf solche Art anschlussfähig zu machen, dass auch erfahrene und kundige Therapeuten ihr Können und Wissen, das sie seit Jahrzehnten mit gutem Erfolg „einfach tun“, einbringen können: z.B. ihre Erfahrung, dass komplexe Probleme oft einfache Lösungen nahe legen. Aber wem sag ich das, als einem mit seinen Wurzeln auch in der lösungsorientierten Therapie …
Forscher: Und in diesem Sinne lässt sich all das bisher Gesagte über das Einfache im Komplexen und das Komplexe im Einfachen auch gar nicht mehr eindeutig dem Praktiker bzw. dem Forscher zuordnen, ein „scientist-practitioner“-Modell in seinem besten Sinne, oder etwas hipper: „Reduce to the max, hold the vision and trust the process“.
Therapeut: ja, was soll ich da noch anfügen … ausser ein letztes Wort direkt und persönlich zu Dir, lieber Günter: Ich gratuliere Dir ganz herzlich nicht nur zu Deinem 60., sondern zu Deinem unermüdlichen Schaffen von Bedingungen für die Etablierung der Selbstorganisation in den Humanwissenschaften. Dies in guter Erinnerung an unsere Begegnungen als „Therapeut und Forscher“, aber auch an die persönlichen, auch anlässlich meines 60. vor fast 10 Jahren. Verbunden mit dem Wunsch, dass wir uns, sozusagen mit Duncan und Millers „heart and soul of change“ im Gepäck, noch lange in einem inspirierenden, heiteren und kritischen, v.a. aber freundschaftlich geführten Dialog erhalten bleiben.