
Der Rassismus ist eine Pest unserer Vergangenheit und Gegenwart und nimmt gegenwärtig in Deutschland wieder zu. Mal versteckt er sich hinter Ausländerfeindlichkeit (die aber nicht zwangsläufig rassistische Wurzeln haben muss), mal wird er offen artikuliert. Bei einer im Jahr 2024 in Deutschland durchgeführten Umfrage äußerten 21,8 Prozent der Befragten als manifest ausländerfeindlich eingestufte Einstellungen. Die AFD befeuert Rassismus gegen Migranten und baut darauf ihre Remigrations-Kampagne auf. Juden werden in Deutschland nicht nur immer häufiger beschimpft und bedroht, sondern auch zunehmend körperlich angegriffen, sowohl von deutschen wie auch von arabischstämmigen Rassisten. In den USA feiert der weiße Rassismus unter Trump fröhliche Urständ mit dem bislang erfolgreichen Versuch, die Politik der Rassengleichheit Schritt für Schritt wieder zurückzudrehen. Nationalismen, identitäre Abschottung nach außen und zunehmendes rechtsradikales Gedankengut scheinen die kosmopolitische Phase der Globalisierung zunehmend abzulösen. Wir haben es also mit einer Zunahme rassistischer Einstellungen zu tun.
Grund genug, sich auch darüber Gedanken zu machen, wie das Thema Rassismus im systemischen Diskurs behandelt wird. In den zurückliegenden Jahrgängen systemischer Fachzeitschriften tauchen vermehrt Artikel auf, die sich diesem Thema widmen. Gemeinsam ist ihnen allen eine sogenannte „macht- und rassismuskritische Perspektive“, die sich in erster Linie auf die Theorielinien des Postkolonialismus und der „Critical-Whiteness“ beziehen. Der empirische Gehalt dieser Texte ist eher dürftig, die ideologische Emphase dagegen erheblich. Im Wesentlichen werden dabei immer die gleichen ideologischen Versatzstücke mit geringer Variation zum Besten gegeben. Gemeinsam ist allen Texten der Angriff auf das in der systemischen Praxis eine wichtige Rolle spielende Postulat der Allparteilichkeit. Interessanterweise regt sich in der systemischen publizistischen Öffentlichkeit bislang wenig Kritik an diesen Ansätzen, was bedauerlich ist.
Aus diesem Grund möchte ich an dieser Stelle viel ausführlicher als bei anderen Rezensionen auf ein maßgebliches Buch eingehen, das zunehmend im Diskurs zitiert wird, nämlich auf den Band von Ilja Gold, Eva Weinberg und Dirk Rohr, der „macht- und rassismuskritische Perspektiven für Beratung, Therapie und Supervision“ zu entwickeln beansprucht. Da Rassismus hier ausschließlich als weißer Rassismus gegenüber sogenannten Bi_PoC (Black, Indigenous, People of Color) behandelt wird, haben die weißen Autoren Interviewbeiträge von Souzan AlSabah, Sandra Karangwa, Berivan Moğultay-Tokuș und Amma Yeboah beigefügt, aus denen „wichtige und wertvolle Perspektiven sichtbar [werden], die wir als weiße Autorin und Autoren nicht hätten darstellen können“ (S. 15). Abgesehen davon, dass in den Interviews die Thesen des Buches noch einmal aus der Erste-Person-Perspektive wiedergegeben werden, hält sich der zusätzliche Erkenntnisgewinn jedoch in Grenzen.
Der Titel „Das hat ja was mit mir zu tun!?“ bezieht sich auf die zentrale These des Buches, dass weiße systemische Professionelle aufgrund ihres Weißseins immer schon zwangsläufig in „rassistische Strukturen“ involviert sind und daher einer intensiven Selbstreflexion ihres eigenen Rassismus bedürfen, der in der Regel unbewusst und nicht an Intentionen geknüpft sei. Dieses Argument bedarf einer massiven Ausweitung des Rassismusbegriffs, dürften doch offene oder auch verdeckte rassistische Einstellungen im systemischen Feld eher selten zu finden sein. Angesichts der eingangs erwähnten zunehmenden Bedrohung durch rassistisch motivierte Übergriffe und Gewalttaten sowie Politikprogramme stellt sich die Frage, welche Funktion der Fokuswechsel auf „unbewussten“ Rassismus (bei Systemikern) eigentlich haben soll. In Bezugnahme auf den Titel könnte man auch fragen: was hat das denn mit systemisch zu tun?
Da das Buch in gewisser Weise repräsentativ für den gegenwärtigen rassismuskritischen Diskurs in der systemischen Öffentlichkeit ist, möchte ich meine Einwände zu darin enthaltenen einzelnen Argumentationssträngen verdeutlichen, die jedoch auch in anderen Veröffentlichungen immer wieder (und oft stereotyp) zu finden sind. Dabei ist damit zu rechnen, dass meine Kritik selbst wiederum als Ausdruck meines nicht aufgearbeiteten unbewussten Rassismus gelesen werden kann. Eine solche Lesart liegt aber natürlich in der als Prämisse gesetzten Behauptung begründet, dass ich als weißer privilegierter Mensch zwangsläufig und unauflösbar Teil von rassistischen Strukturen bin. Eine Kritik an dieser Voraussetzung bestätigt nur zirkulär die Prämisse selbst, da eine nichtrassistische Position aus dieser Perspektive per definitionem nicht existieren kann. So immunisiert sich diese Form der Rassismuskritik selbst gegen Kritik.
Das Problem der Definition
Landläufig werden unter Rassismus feindselige oder abwertende Einstellungen gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, Religion oder Herkunft verstanden, die gegen die Menschenwürde und die Grundsätze der Gleichheit aller Menschen verstoßen. Dieses Verständnis wird von den Autoren als ideologiekritisches Verständnis bezeichnet, aber für ihre eigene Zielsetzung verworfen. Das liegt nahe angesichts der Tatsache, dass solche Einstellungen bei den Professionellen im systemischen Feld eher nicht zu erwarten sind.
Stattdessen wird Rassismus vage als „gesamtgesellschaftliches Phänomen und wirkmächtige Diskriminierungsform“ definiert, die „sich in kolonialen Traditionen“ begründe und „gesellschaftlich tief verankert“ sei (S. 30). Zwar wird zugestanden, dass ein solches Verständnis eine ideologiekritische Perspektive schwäche. Jedoch sei „diese Schwäche eher zu vernachlässigen und somit ein machtkritisches Verständnis von Rassismus zentral“, „da es im Rahmen der Betrachtung von Rassismus im Kontext von Systemischer Beratung primär um Betroffenenperspektiven gehen muss“ (S. 31). Hier kommt ein wichtiges Konzept ins Spiel, dass nämlich die Deutungshoheit über Begriff und Definition des Rassismus ausschließlich bei den sich selbst als Betroffene definierenden Personen verortet wird. Betroffenheit als zentrales Legitimationsargument führt aber zur Delegitimierung anderer Positionen im wissenschaftlichen oder politischen Diskurs und immunisiert gegen jede Kritik von dieser Seite.
Die ideologiekritische Perspektive auf Rassismus wird auch deshalb zurückgewiesen, weil sie Rassismus als abzulehnendes Minderheitenverhalten behandelt (auch wenn der Prozentsatz rassistischer Einstellungen in der Bevölkerung keineswegs marginal ist). Der „machtkritischen“ Perspektive geht es aber darum, Rassismus definitorisch zum Allgemeinfall zu machen. Aus diesem Grund „wird eine Verortung von Rassismus und anderen Diskriminierungsformen an vermeintliche gesellschaftliche oder politische »Ränder« abgelehnt, da sie die Reflexion eigener Verstricktheit in eben jene Machtverhältnisse erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht“ (S. 13). Der Hinweis auf das Problem offenen rassistischen Verhaltens in unserer Gesellschaft wird hier als Ablenkungsstrategie vom eigenen subkutanen Rassismus denunziert.
Machtkritik
„Machtkritik“ ist derzeit ein Lieblingswort im systemischen Diskurs. In unterschiedlichen Varianten tauchen die Begriffe Machtverhältnisse (72 mal), Machtstrukturen (48 mal), Machtkritik (12 mal) auch im vorliegenden Buch auf. Leider bleiben die Autoren aber eine Definition von Macht schuldig und verwenden stattdessen Begriffe wie „Struktur“ und „Privilegien“ durchgehend im Sinne einer Sozialontologie, die Macht als Substanz und Verfügungsressource von herrschenden Mächten versteht anstatt als Kommunikationsmedium. Konsequenterweise können sie ihre eigene Machtkritik und den Versuch, der „Betroffenenperspektive“ zu mehr Macht zu verhelfen, auch nicht im Sinne einer Beobachtung 2. Ordnung unter Machtaspekten beobachten.
Ähnlich unterkomplex ist das Verständnis der Autoren für gesellschaftliche Zusammenhänge. Der Gesellschaftsbegriff taucht 161 mal auf, meist im Zusammenhang mit dem Strukturbegriff (104 mal) oder im Zusammenhang mit dem Begriff der Machtverhältnisse. So wird postuliert: „Das Gesellschaftssystem in Deutschland ist von multidimensionalen Machtstrukturen bzw. sozialen Hierarchien geprägt, die diskriminierend und als strukturelle Gewalt wirken“ (S. 13). Was mit multidimensionalen Machtstrukturen gemeint ist, bleibt dabei ebenso im Nebel der Worthülsen verborgen wie die Frage, wie denn „soziale Hierarchien“ allgemein diskriminierend wirken (abgesehen von den zwangsläufigen Unterscheidungen, mit denen Hierarchien notwendigerweise einhergehen und die gerade die Funktion von Hierarchien darstellen). Hier muss das Zauberwort der strukturellen Gewalt von Galtung aus dem Jahre 1975 herhalten, dessen Konzept eines völlig überdehnten und daher nichtssagenden Gewaltbegriffs nahezu jede gesellschaftliche Ungleichheit und jede Form sozialer Benachteiligung als Gewalt verstehen kann. Auch der Strukturbegriff wird an keiner Stelle erläutert, er hat eher die Funktion eines Alibis, mit dem die Abkehr von individuellen Einstellungen und Handlungsmotiven aufgefangen werden kann. Die Autoren erweisen sich hinsichtlich einschlägiger soziologischer und systemtheoretischer Analysen gesellschaftlicher Strukturen und Machtverhältnisse ziemlich unbeleckt und kommen über die immer wiederholten Phrasen und Worthülsen leider nicht hinaus.
Empirie
Wenn man Rassismus als ubiquitäres Phänomen beschreibt, muss man empirische Befunde beibringen. Da es in diesem Buch aber primär um Ideologie geht, wundert die schwache und hochselektive Berücksichtigung empirischer Befunde wenig. Als Beispiele für „Rassismus auf struktureller bzw. institutioneller Ebene“ werden längst bekannte Studienergebnisse präsentiert, die zeigen, dass Bewerbungen von Menschen mit ausländisch klingenden Namen auf dem Arbeitsmarkt weniger häufig berücksichtigt werden als das bei Menschen ohne einen solchen Namen der Fall ist. Des Weiteren werden Studien zitiert, die ähnliche Effekte bei Bewerbungen auf dem Wohnungsmarkt zeigen konnten. Dass es sich in beiden Fällen um eine empirisch feststellbare Diskriminierung handelt, ist einleuchtend. Unklar bleibt aber, ob es sich dabei tatsächlich immer um rassistische Diskriminierung handelt oder ob auch andere Motive für eine Ungleichbehandlung eine Rolle spielen können. Für die Autoren spielt das aber keine Rolle. Schließlich gestehen sie ja die Deutungshoheit über die Frage des Vorliegens von Rassismus alleine der „Betroffenenperspektive“ zu (die sie sich natürlich zu eigen machen), denn die Auffassung, „dass nur ein absichtlich oder intentional rassistisches Handeln auch rassistisch sein kann, [bedeute], dass somit nicht der betroffenen Person die Definitionsmacht zugesprochen wird, sondern dass die Deutungshoheit darüber, ob etwas rassistisch ist oder nicht, bei der weißen Person verbleibt“ (S. 42).
Ansonsten verbleiben die empirischen Hinweise im Bereich der Anekdoten und vagen Behauptungen. Das ist bei der unermüdlichen Betonung der allgegenwärtigen gesellschaftlichen Manifestation der Problematik erstaunlich. An dieser Stelle kommt hilfsweise der für das Buch zentrale Begriff der Mikroaggressionen ins Spiel, die sich „in alltäglichen Äußerungen, Handlungen oder auch abwertenden Blicken“, aber auch in „unbewussten oder vordergründig nett gemeinten Kommentaren und Verhaltensweisen“ manifestieren (S. 42), z.B. in der Frage, „woher man komme“. Über diese Beispiele hinaus kommt es zu keiner klaren Definition, was Mikroaggressionen sind. Es fehlt eine klare Benennung empirischer Kriterien für die Feststellung einer Mikroaggression und eine exakte Abgrenzung gegenüber unsensiblen, unhöflichem Verhalten oder einfach schlechtem Benehmen. Wann wird aus einer Mikroaggression eine sanktionierbare Aggression? Letzten Endes benutzen die Autoren den Begriff der „Mikroaggression“ nicht als methodisch belastbaren Fachbegriff, sondern als rhetorisch-emotionale Formel: der Terminus wird so stark ausgedehnt, dass er zur Sammelkategorie für alle möglichen Formen von erlebtem Befremden und Anstoßnahme werden kann.
Rassismus und Trauma
Gleichwohl wird eine massive Schädlichkeit von Mikroaggressionen dadurch behauptet, dass sie Traumatisierungsfolgen, nicht-abbaubaren Stress, Hypervigilanz, Schmerz und Verletzung, PTSB-Symptomen verursachen könnten. Der Konjunktiv ist hier von Bedeutung. Um die These zu untermauern, referieren die Autoren äußerst ausführlich Literatur zum Thema Trauma, verweisen auf eine breite umfassende Definition von Trauma nach Fischer und Riedesser (S. 75) und stellen dann systematische Parallelen zwischen allgemeinen Trauma-Kriterien und Rassismus-Erfahrungen her, die sich bei Rassismus-Betroffenen in Gefühlen von Hilf- und Schutzlosigkeit äußern können, weil „nie vorhersehbar ist, ob eine Konfrontation mit rassistischen Diskriminierungen erfolgen wird”, in Hypervigilanz aufgrund der Unvorhersagbarkeit von Ereignissen und in der Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses, da man ständiger „Fremdpositionierung“ ausgesetzt sei.
Rassismus wird dann in bestehende Trauma-Kategorien eingeordnet: Als „kumulatives Trauma”, bei dem „einzelne traumatische Erfahrungen zunächst unterschwellig bleiben, aber in ihrer ständigen Wiederholung … besonders schwächend” (S. 83) werden, als Polytraumatisierung wegen der „anhaltenden Dimension“ und der Tatsache, dass es sich sowohl um ein „man-made-Trauma“ (durch eine handelnde Person) als auch um ein „non-man-made-Trauma (durch die gesellschaftliche Struktur) handelt, schließlich als transgenerationales und kollektives Trauma, das durch koloniale Gewalt und Familiengeschichte bestimmt wird: „Denn zusätzlich zu den eigenen traumatischen Erfahrungen leben Bi_PoC auch mit dem kollektiven Trauma durch die koloniale Gewalt“ (S. 84).
Daran, dass rassistische Übergriffe dramatische Folgen im Sinne traumatischer Beeinträchtigungen für die Betroffenen haben können, kann keinerlei Zweifel bestehen. Allerdings zeigt sich hier eine charakteristische Verbindung zwischen allgemeinen Aussagen über Traumata und Beschreibungen traumatischer Rassismus-Erfahrungen einerseits und der Einführung des vagen Mikroaggressionsbegriffs andererseits, die sich als rhetorische Brücken-Strategie beschreiben lässt. Beginnend mit etablierten, klinisch fundierten Definitionen wird das Konzept schrittweise erweitert, bis alltägliche und sublime Diskriminierungserlebnisse unter den Trauma-Begriff subsumiert werden können. Diese Strategie ist rhetorisch geschickt, aber methodisch problematisch, da sie die Grenze zwischen klinisch relevanten Traumata und unangenehmen oder auch belastenden, aber nicht zwangsläufig traumatisierenden Erfahrungen verwischt. Im Buch werden deshalb durchgängig unbestimmte Mengenbegriffe wie „häufig”, „oft”, „zunehmend”, „meist“ u.ä. verwendet – ohne jede quantitative Untermauerung. Diese ermöglichen eine Dramatisierung des Mikroaggressionskonzeptes und erwecken den Eindruck empirischer Fundierung, liefern aber keine belastbaren Daten.
Dass die übermäßige Betonung einer möglichen Traumatisierung womöglich auch als Pathologisierung der Betroffenen verstanden werden kann, scheint den Autoren auch aufgefallen zu sein. Deshalb warnen sie vor der von ihnen selbst eingeführten Pathologisierung, da „keineswegs alle“ durch Rassismus diskriminierten Menschen „von einem umfassenden Trauma ähnlich einer PTBS betroffen“ seien (S. 87). Auch wird zugestanden, dass ein „Zusammenhang zwischen individueller Persönlichkeitsstruktur und Rassismuserfahrungen unbekannt“ bleibe (S. 88). Daraus dürfe man aber wiederum nicht schließen, dass man sich als Berater auf die betroffene Person und ihre individuellen psychischen Prozesse fokussieren dürfe, weil das eine Verschiebung von „unterdrückenden“ Personen hin zu den „unterdrückten“ Personen bedeute. „Vielmehr soll die rassistische Machtstruktur thematisiert und eine Sprache für deren mögliche Auswirkungen gefunden werden, statt beides weiter zu verschweigen. In der Benennung des kritischen Umgangs mit pathologisierenden Diagnosen, lässt sich ein Zusammenhang zur Systemischen Beratung ziehen, der hier als anschlussfähig gesehen werden kann“. Systemische Diagnostik-Kritik wird hier so zurechtgebogen, dass ausschließlich die Selbstdiagnose der Klienten zählt und die Beratung sich in der Benennung einer vorgegebenen „macht- und rassismuskritischen“ Gesellschaftsdiagnose zu erschöpfen hat. Immerhin: „hier spielt auch die Tatsache eine große Rolle, dass, wenn in Familien und Freundeskreis weiße Menschen sind, überall die Gefahr einer neuen Konfrontation mit rassistischer Diskriminierung herrscht und es fast keine sicheren Orte gibt“ (ebd.). Der Berater darf sich nur selbst beobachten und auf seine weißen Privilegien reflektieren, eine unabhängige Zurverfügungstellung seiner Beobachtungen des Klienten(systems) wird hier zur rassistischen Gefahr.
Geschichte
Gänzlich krude wird der Band, wenn historische Bezüge ins Spiel kommt. Für ein Buch, das in Deutschland erscheint, einem Land, dessen Bevölkerung die Ermordung von sechs Millionen Juden aus rassistischen Gründen auf dem Gewissen hat, ist es schon sehr erstaunlich, dass Juden mit keinem Wort erwähnt werden. Nur an einer einzigen Stelle wird Antisemitismus als eine „Diskriminierungsform“ unter anderen genannt, die von einer „Ideologie der Unwertigkeit“ gekennzeichnet seien. Das ist alles. Der Nationalsozialismus wird ebenfalls nur ein einziges Mal erwähnt, und zwar auf eine sehr verstörende Weise. Dass nämlich Rassismus „in die Welt des Rechtsextremismus verlagert“ oder „in die Vergangenheit, hier vor allem in den historischen (sic!) Nationalsozialismus verschoben“ werde, diene dazu, eher die „Rassismusdiagnosen“ zu skandalisieren, die seitens marginalisierter Gruppen getroffen werden als die „rassistischen Praktiken“ (gegenüber Bi_PoC) selbst (50f.). Der Verweis auf Rechtsextremismus und Nationalsozialismus erscheint hier nur noch als Distanzierungsversuch von der eigenen Beteiligung am wahren Rassismus.
Spielt der Nationalsozialismus bei der Darstellung der historischen Wurzeln des Rassismus in Deutschland auf diese Weise keine Rolle mehr, gilt dies umso mehr für Kolonialismus und Sklaverei. In der amerikanischen Literatur zu Critical Whiteness spielen diese beiden Themen natürlich angesichts der US-amerikanischen Geschichte eine bedeutsame Rolle. Da Deutschland aber eigentlich nicht als Sklavenhalter- und händlergesellschaft bekannt geworden ist und nur eine geringe Zeitspanne als Kolonialmacht zur Verfügung hatte (nicht ohne jede Menge Verbrechen dabei zu begehen), muss der jahrhundertelange gesamteuropäische Kolonialismus herhalten, um das auch jetzt noch virulente „kollektive koloniale Trauma“ in Deutschland begründen zu können. „Schon durch diesen – sehr verkürzten Blick – in die deutsche Kolonialgeschichte wird deutlich, dass Rassismus als eine scheinbar naturgegebene Struktur diente und noch weiter dient, um die Ansprüche auf Herrschaft, Macht und Privilegien weißer Menschen sicherzustellen und zu begründen“ (S. 37). In einer solchen Darstellung ist für Rassismus von Weißen gegen weiße Menschen ebenso wenig Platz wie für Rassismus von nicht-weißen Menschen.
Wenn im Vorwort (von Eia Asen) in einer Anmerkung davon die Rede ist, das „Schwarz (…) hier bewusst mit einem großen »S« geschrieben [ist], da es sich in diesem Kontext nicht um die Farbe, sondern um eine politische Selbstbezeichnung von Menschen handelt, die durch Rassismus diskriminiert werden“, stellt sich die Frage, ob Juden oder andere rassistisch stigmatisierte weiße Menschen damit auch eingeladen sein könnten, sich „politisch“ als Schwarz zu bezeichnen. Darauf sind im Buch keine Hinweise zu finden. Historische Wissensbestände werden hier nur völlig undifferenziert und selektiv behandelt. Die Geschichte der Sklaverei und des Kolonialismus mit all ihren Verbrechen ist absolut aufschlussreich und keineswegs irrelevant, aber wesentlich komplexer als hier dargestellt. Sklaverei als geschäftsmäßiger Besitz und Handel mit Menschenkörpern seit Tausenden von Jahren ging und geht zwar vielfach mit Rassismus einher, war und ist ist aber damit keineswegs identisch. Darüber hinaus ist Sklaverei keinesfalls ein exklusives Merkmal des weißen Kolonialismus (der übrigens historisch erst relativ spät im Vergleich zur Sklaverei auftaucht und letzten Endes zu ihrer Beendigung beitragen hat, was den Blick auf die kolonialen Verbrechen in keiner Weise schmälert). Während der transatlantische Sklavenhandel intensiv erforscht und öffentlich diskutiert wird, bleibt der arabische Sklavenhandel weitgehend ein „verschleierter Völkermord“ (Tidiane N’Diayes) und wird in der arabischen Welt bis heute tabuisiert. Die Opferzahlen des arabischen wie des europäischen Sklavenhandels werden auf ca. 30 Mio. geschätzt, der arabische Anteil daran auf ca. 17 Mio. Es reicht halt nicht, die Standard-Klischees der postkolonialen Theorie nachzubeten, ohne sich selbst genauer mit den historischen Fakten zu beschäftigen, die ein differenzierteres Bild vermitteln könnten.
In einem Werk, das sich als umfassende Darstellung macht- und rassismuskritischer Perspektiven positioniert, offenbart die inhaltliche Leerstelle in Bezug auf den historischen und gegenwärtigen nationalsozialistischen und rechtsextremen Rassismus (und vor allem Antisemitismus) die ideologische Schlagseite dieser „macht- und rassismuskritischen Perspektive“. Antisemitismus weist spezifische Charakteristika auf, die eine eigenständige Behandlung erfordern würden. Die fast völlige Ausblendung deutet auf blinde Flecken der Autoren hin, zu deren Aufklärung ihre eigene „kritische Selbstreflexion” offenbar nicht in der Lage ist.
Kultur
In einem mehr als irritierenden Kapitel wird von den Autoren behauptet, dass „sich unter dem Deckmantel der »Kultur« weiterhin biologistisch-rassistischer Konzepte bedient wird“ (S. 39f.), gewissermaßen als „Rassismus ohne Rassen“ (Balibar). Die Frage ist allerdings, von wem? Da der Ansatz des ideologischen Rassismus, also eines Rassismus der bewussten Einstellungen, in diesem Buch ja nicht weiter verfolgt wird, weil es primär um die unbewusste Reproduktion von Rassismus auch gerade gegen die bewusste Haltung geht, stellt sich die Frage, wer denn den Rassenbegriff durch den Kulturbegriff ersetzen möchte. Zitiert wird dazu ein Beitrag von Sebastian Friedrich aus dem „Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe“, der beschreibt, wie durch rechtsradikale Narrative „festgelegte kulturell-territoriale Einheiten […] als ,Kulturkreise’ homogenisiert“ werden, die sich am besten nicht vermischen sollten. Dem Unterkapitel „Rassismus und ‚Kultur’ wird ausgerechnet ein Zitat von Theodor W. Adorno als Motto vorangestellt: „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch“.
Das Zitat findet sich in Adornos Studie über „Schuld und Abwehr“, eines grundlegenden Textes für das Verständnis des sekundären Antisemitismus, jener Form der Judenfeindschaft im Nachkriegsdeutschland, die in der Relativierung oder Leugnung des Holocaust, der Forderung nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit oder in der rhetorischen Umkehr von Opfern und Tätern zum Ausdruck kommt. In diesem Text wertet Adorno Gruppen-Interviews aus, die das Institut für Sozialforschung 1950/1951 durchführte, um „die Oberfläche der öffentlichen Meinung, so wie sie sich offiziell bekundet, zu durchdringen und ein wissenschaftlich fundiertes Urteil zu ermöglichen, wie charakteristische Gruppen der Bevölkerung der Bundesrepublik zu weltanschaulichen und politischen Fragen tatsächlich stehen“, wie es im Vorwort des von Max Horkheimer und Adorno herausgegebenen Bandes „Das Gruppenexperiment“ heißt. Das hier als Motto benutzte Zitat steht also in keiner Weise für eine allgemeine Aussage, dass Kultur nichts anderes als ein „schönerer Begriff“ für Rasse sei, sondern bezieht sich auf die Analyse einer spezifischen Aussage einer Person, die sich darüber auslässt, dass es „ja hier nicht um Amerikaner oder um Engländer oder um die Russen [gehe], sondern es dreht sich hier doch darum, daß wir die weiße Rasse, in diesem Fall die abendländische Kultur verteidigen wollen. Und wir als … eben Zugehörige der weißen Rasse haben die Verpflichtung, da mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten“ (S. 276). Adorno führt hierzu aus: „Die Stelle erlaubt Einblick in die subtilen Mechanismen der Anpassung der Rassentheorie an die veränderte politische Lage. Anstelle der »weißen Rasse« setzt der Sprecher »in diesem Fall« – also doch wohl im Gedanken an den gegenwärtigen Konflikt von Westen und Osten – die »abendländische Kultur«. Nicht selten verwandelt sich der faschistische Nationalismus in einen gesamteuropäischen Chauvinismus (…). Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch“ (ebd.).
Es ist schon merkwürdig, wenn hier nicht nur nicht auf den spezifischen Zusammenhang mit antisemitischen Einstellungen eingegangen wird, sondern eine inhaltsanalytische Interpretation einer empirischen Aussage eines Altnazis von 1950 hier im Motto als allgemeine Aussage dargestellt wird, um die Behauptung zu stützen, dass es „bei der Benennung von »Kultur« als Differenz-merkmal (sic!) im Kern nicht um die kritische Ablösung und Distanzierung von biologistisch-rassistischen Konzepten, noch gar um eine differenzierte Auseinandersetzung mit »Kultur« (auch der »eigenen«!) an sich, sondern vielmehr um die Aufrechterhaltung und Legitimierung rassistischer Denk- und Handlungsweisen sowie entsprechender Machtverhältnisse – bei gleichzeitiger Verleugnung eben dieser“ gehe. Interessant wäre es, von den Autoren zu erfahren, wo denn z.B. im systemischen Feld Rassismus durch die Referenz auf Kultur unsichtbar gemacht wird. Das könnte ja auch eine empirische Herausforderung sein. Angedeutet wird zumindest, dass die Verwendung des Begriffes der Interkulturalität im systemischen Feld mit einer „Zurückhaltung“ einhergehe, „Rassismus- und Diskriminierungsverhältnisse klar zu benennen bzw. sich mit deren Einfluss auf Beratungskontexte entsprechend auseinanderzusetzen“ (S. 116). Der Kulturbegriff scheint den Autoren schon deshalb verdächtig, weil „auch in Bezugnahme auf »Kultur« weiterhin ein Fokus auf Differenzen gelegt wird, die durch äußere Zuschreibungen erzeugt werden. Es werden also weiterhin Konstrukte erschaffen und aufrechterhalten, die Menschen durch ihre sogenannte »Kultur« voneinander unterscheiden sollen“ (S. 38). Was denn sonst?
Das ist das Hauptproblem dieses Buches: Es ist eindimensional und setzt die eigenen Beobachtungen erster Ordnung absolut. Rassismus ist nichts anderes als weißer Rassismus gegen Schwarze und Farbige, über die Definition von Rassismus entscheiden nur die Betroffenen, Rassismus hat nichts mit eigenen Haltungen zu tun, sondern ist unbewusst, unabhängig von Intentionen, strukturell vorgegeben und durch die eigene Kolonialgeschichte in die weiße Psyche eingeschrieben.
Was hat das mit systemisch zu tun?
Was hat das nun mit dem systemischen Ansatz zu tun? Entsprechend dem hier verfolgten Argumentationsmuster „werden rassistische Strukturen auch im Kontext Systemischer Beratung reproduziert – trotz aller Reflexion der Berater*innen“ (S. 12). Deshalb müssen „lieb gewonnene systemische Gewissheiten und Methoden vor diesem Hintergrund kritisch“ hinterfragt werden (S. 14), denn die Systemische Beratung ist „als Idee – sowie auch ihre Vertreter*innen – verstrickt in rassistische Machtverhältnisse“ (S. 103). Da würde man gerne näheres erfahren, wird aber leider durch fehlende Belege enttäuscht. Zwar wird konzediert, dass sich der systemische Ansatz durch „professionelle Neugierde und Offenheit für die Geschichten, Erzählungen und Erklärungsmodelle von Klient*innen, für das, was sie erleben und wie sie es erleben, sowie für das, was sich zukünftig verändern soll“ als kontingente Wirklichkeitskonstruktionen auszeichnet (s. 114). Die daran anknüpfende Haltung des Nicht-Wissens wird aber verworfen, weil sie das „Wissen von Macht, Rassismus und entsprechenden Diskriminierungen und Privilegien“ (ebd.) ausblende. Dieses Wissen wird hier aber nicht als seinerseits kontingente Wirklichkeitskonstruktion behandelt. Gefordert wird zwar eine „bewusste und selbstkritische Relativierung ,weißer Wissensbestände’“, gleichzeitig wird vor der „Relativierung von Wissenskonstruktionen der Klient*innen im Kontext von Rassismus und Diskriminierung“ gewarnt, da „weiße Berater*innen im Zusammenhang mit Rassismus kein Erfahrungswissen über die eigene negative Betroffenheit von Rassismus haben können und ihnen gegenüber Klient*innen mit Rassismuserfahrungen nicht die Deutungshoheit obliegt, ob nun beispielsweise etwas rassistisch sei oder nicht. Vielmehr ist es grundlegend für eine macht- und rassismuskritische Auseinandersetzung, dass das Wissen um gesellschaftliche Machtstrukturen und deren Auswirkungen – sowohl auf die eigenen Wissensbestände als auch auf den Beratungsprozess – nicht dem Bereich des angestrebten Nicht-Wissens zugeordnet, sondern explizit als Teil der Beratungsexpertise definiert wird“ (115).
Das läuft auf die Forderung hinaus, dass sich Therapeutinnen und Therapeuten proaktiv in der Arbeit mit Klienten politisch positionieren sollen, damit diese sich sicher fühlen können, dass ihre eigene Weltsicht nicht möglicherweise von Seiten der Professionellen in Frage gestellt wird. Auf diese Weise wird zugunsten einer gesellschaftspolitischen Indienstnahme professioneller Praxis eine zentrale Aufgabe unserer Profession aufgegeben, nämlich als Arbeit am individuellen Fall dazu beizutragen, dass Leid vermindert, Freiheitsgrade vergrößert und Entwicklungsperspektiven eröffnet werden, und zwar unabhängig davon, ob dem Klientensystem Ungerechtigkeit widerfahren ist oder nicht, und ob und in welchem Maße es selbst dazu beigetragen hat, das es zur zu bearbeitenden Problematik gekommen ist.
Damit sind wir bei einem zentralen Topos angekommen, was den systemischen Ansatz betrifft, nämlich beim Angriff auf das Prinzip der Allparteilichkeit. Im Interview mit Sandra Karangwa und Berivan Moğultay-Tokuş heißt es: „Ein wesentlicher Bestandteil unserer Beratung, der wichtig für uns ist, ist unsere Parteilichkeit. Das bedeutet, dass wir immer und in jeder Hinsicht die Forderungen (sic!), Wünsche und auch Haltung der Person unterstützen, die zu uns kommt“ (S. 62, Hervorh. TL.). „Wirklichkeitsbeschreibungen zu hinterfragen, um so neue Perspektiven zu erlangen“ (S. 135) ist für die Autoren ein No-go, weil dies die „Deutungshoheit“ der betroffenen Person in Frage stelle und damit Machtverhältnisse reproduziere. „Vielmehr liegt es an den Berater*innen Position zu beziehen, indem sie zeigen, dass sie um rassistische Machtverhältnisse wissen und sich – je nach gesellschaftlicher Positioniertheit – selbstkritisch im Sinne der Eingebundenheit darin verorten (…). Aus rassismuskritischer Perspektive würde dies in einem Mehrpersonensetting auch bedeuten, Position für die davon berichtende Person zu beziehen und damit explizit nicht neutral aufzutreten oder sich allparteilich zu allen Beteiligten zu verhalten. An dieser Stelle ist es geboten, sich als Berater*in für die Parteilichkeit und bewusst gegen die vermeintliche Neutralität zu entscheiden, weil jene im Kontext von gesellschaftlichen Machtverhältnissen Rassismus und Diskriminierung gewähren ließe und Berater*innen diese damit in der Beratungssituation stützen würden.“ (136).
Die Fokussierung auf Systemiker als primäre Adressaten des Buches wirft also interessante Fragen auf. Die Autorinnen argumentieren, dass der systemische Ansatz „in hohem Maße anschlussfähig” sei für rassismuskritische Perspektiven, eliminieren mit dem Prinzip der Allparteilichkeit (das nebenbei bemerkt noch nie als Allparteilichkeit von Systemikern in Bezug auf gesellschaftspolitische Fragen gedacht war, sondern immer nur als Bereitschaft, sich den unterschiedlichen Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen in Klientensystemen so offen wie möglich zuzuwenden), einem einseitigen ideologischen Wissensbegriff und der mangelnden Beobachtung der eigenen Unterscheidungen im Sinne einer Beobachtung 2. Ordnung aber ganz wesentliche systemische Positionen.
Rassismus als Erbsünde
Eine der bedenklichsten Aspekte des Buches ist die quasi-religiöse Konzeption von Rassismus als unvermeidliche, ererbte Schuld. „Weißsein ist … eine Machtposition, die nicht abgelegt werden kann“ (S. 18). Diese Sprache erinnert stark an das christliche Konzept der Erbsünde: eine unvermeidliche Schuld, die durch Geburt an weiße Menschen übertragen wird und von der man sich niemals vollständig befreien kann. Rassismus wird hier zu einer ontologischen Eigenschaft weißer Personen, die durch „Selbstreflexion der Berater*innen und die ständige Überprüfung eigener Perspektiven und Haltungen” gemildert, aber nie überwunden werden kann. Die Parallelen zum christlichen Weltmodell sind unübersehbar: Eine angeborene, unvermeidliche Schuld (Erbsünde/Weißsein), die Unmöglichkeit vollständiger Erlösung (“niemals abgeschlossen”), die Notwendigkeit ständiger Buße (Selbstreflexion) innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen vs. die Ungläubigen (Rassismuskritische vs. andere), Selbstreflexion als säkulares Gebet.
Besonders deutlich wird die religiöse Struktur bei den Empfehlungen zur „Selbstreflexion”. Die Autor schlagen vor, „sich der eigenen Abwehrreflexe und Zerbrechlichkeiten immer wieder aufs Neue bewusst zu werden” (S. 20). Dies soll durch “Fragestellungen” und den “Besuch von Seminaren” geschehen.
Diese Praxis weist verblüffende Ähnlichkeiten mit religiösen Ritualen auf: Regelmäßige Selbstprüfung (Gewissenserforschung), Gemeinschaftliche Bekenntnisrituale (Seminare als säkulare Gottesdienste), Geistliche Begleitung (Supervision etc. als säkulare Seelsorge), Katechismus-ähnliche Fragenkataloge zur Selbstprüfung (Beichtspiegel).
Die Empfehlung, sich immer wieder aufs Neue zu prüfen, erinnert an das tägliche Gebet oder die regelmäßige Beichte. Die „Seminare“ oder „critical-Whiteness-Gruppen“ funktionieren wie Gemeinschaftsgottesdienste, in denen gemeinsam die richtige Haltung eingeübt wird.
Nicht überraschend fordern die Autoren „vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen und des Anspruchs einer Professionalisierung von Beratung (…) die Aufnahme von Macht- und Rassismuskritik als verpflichtende Bestandteile in die Weiterbildungsinhalte von Beratung, Coaching, Therapie und Supervision – und zwar sowohl in dem Bereich »Theorie und Methodik« als auch im Bereich »Selbsterfahrung«“ (S: 148).
Dass man sich diesbezüglich auch an die Autoren als „Moralunternehmer“ wenden kann, versteht sich von selbst. Howard S. Becker bezeichnete Menschen oder Organisation als Moralunternehmer, die sich aktiv dafür einsetzen, bestimmte moralische Werte durch gesellschaftliche Regeln und Gesetze zu verankern. Moralunternehmer versuchen, die öffentliche Meinung und die politische Agenda zu zu beeinflussen und tragen zur sozialen Kontrolle bei, indem sie bestimmte Verhaltensweisen kriminalisieren oder ächten. Im Erfolgsfalle werden sie nicht nur zu Repräsentanten der Problemwahrnehmung, sondern können auch zu Experten der Problembearbeitung werden, was nicht selten ein einträgliches Geschäftsmodell ist.
Die geforderte verpflichtende Aufnahme von „macht- und rassismuskritischen Perspektiven“ in Weiterbildungsgänge würde sich natürlich für die Anbieter entsprechender Angebote bezahlt machen. Was das aber noch mit dem systemischen Ansatz zu tun hat bzw. ob diese Perspektiven dann im Weiterbildungskontext auch noch einer kritischen Beobachtung 2. Ordnung unterzogen werden dürfen, bleibt eine offene Frage. Die systemischen Verbände SG und DGSF sind jedenfalls schon auf den Zug aufgesprungen und promoten entsprechende Workshops und Weiterbildungsangebote. Man darf auf die weitere Entwicklung gespannt sein.
Erwähnte Literatur:
Adorno, Th.W. (1955): Schuld und Abwehr. In: Inst. f. Soz.Forsch. 1955
Fischer, G. u. P. Riedesser (2009). Lehrbuch der Psychotraumatologie. München/Basel (Reinhardt)
Institut für Sozialforschung (Hrsg.)(1955): Gruppenexperiment. Ein Studienbericht. Frankfurt a.M. (EA/VA)
N’Diayes, Tidiane (2010): Der verschleierte Völkermord. Die Geschichte des muslimischen Sklavenhandels in Afrika. Hamburg (Rowohlt)

Ilja Gold, Eva Weinberg & Dirk Rohr (2021): Das hat ja was mit mir zu tun!? Macht- und rassismuskritische Perspektiven für Beratung, Therapie und Supervision. Heidelberg (Carl-Auer)
Mit einem Vorwort von Eia Asen sowie Interviewbeiträgen von Souzan AlSabah, Sandra Karangwa, Berivan Moğultay-Tokuş und Amma Yeboah.
170 S., Kart.
ISBN: 978-3-8497-0379-0
Preis: 26,95 € – ebook: 25,99 €
Verlagsinformation:
Dieses Buch richtet sich an Berater:innen, die sich mit Rassismus in Bezug auf die eigene Arbeit auseinandersetzen und vermeintliche Gewissheiten und Methoden hinterfragen wollen. Es thematisiert die Frage, wo Systemische Beratung kritische Anschlussmöglichkeiten bietet, wo aber auch Widersprüche zu Macht- und Rassismuskritik bestehen – bis zur Gefahr, Rassismus selbst zu reproduzieren.
Über die Autoren:
lja Gold, Studium der Politikwissenschaft und Erziehungswissenschaft sowie der Organisationsentwicklung, arbeitet als Referent für politische Bildung und Systemischer Berater (DGSF). Er ist pädagogisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln sowie als Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln tätig. Gründungsmitglied des Netzwerks Macht- und Diskriminierungskritik in der DGSF. Schwerpunkte: Qualifizierung und Weiterbildung von Multiplikator:innen zu den Themen Rassismus, Diskriminierung und extreme Rechte sowie entsprechende Beratungstätigkeiten für unterschiedliche Zielgruppen und Organisationen.
Eva Weinberg, Studium der Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Systemsiche Beratung. In ihrem Masterstudium in Erziehungs- und Rehabilitationswissenschaften fokussiert sie sich auf die Zusammenhänge von psychischen Erkrankungen und gesellschaftlichen Ungleichheiten. Dabei liegt ein besonderes Interesse auf der Erforschung von Traumatisierungen. Neben ihrem Studium war sie drei Jahre lang in der projektbezogenen Jugendarbeit mit dem Fokus auf Machtkritik sowie in der intersektionalen Mädchenarbeit und Sexualpädagogik tätig.
Dirk Rohr, Dr.; Studium von Sonderpädagogik und Sport (1. und 2. Staatsexamen) sowie Diplom-Heilpädagogik (Schwerpunkt Beratung); Gestalttherapeut, systemischer Lehr-Supervisor (DGSv/DGSF) sowie Instituts- und Weiterbildungsleiter „Systemische Beratung“ im koelner institut für Beratung & pädagogische Professionalisierung; als Akademischer Direktor Leiter des Arbeitsbereiches Beratungsforschung sowie des Zentrums für Hochschuldidaktik an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln; Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF). Herausgeber der Reihe Beratung, Coaching, Supervision im Carl-Auer-Verlag; Publikationen u. a.: „Systemisch lehren – Lernen begleiten. Ein Lehr- und Praxisbuch für die Erwachsenenbildung“ (2023).