Brigitte Schigl, Klinische und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin und Supervisorin, ist Studiengangsleiterin für Psychotherapie- und Beratungswissenschaften an der Karl Landsteiner Universität für Gesundheitswissenschaften und leitet den Universitäts-Lehrgang Supervision & Coaching an der Donau Universität Krems. Als integrative Therapeutin hat sie viele inhaltliche Beiträge zur Verbesserung von psychotherapeutischen Kompetenzen geleistet, die ganz schulenunabhängig von Bedeutung sind – nicht zuletzt ihre Arbeiten über Fehler in der Psychotherapie, etwa hier oder hier.
Im Springer-Verlag ist 2024 ein Buch von ihr über die Psychotherapie von Essstörungen erschienen. Darin geht es, wie der Untertitel besagt, um ein „gendersensibles, integratives Behandlungsmodell“. Raluca Lechner aus Wien hat es für systemagazin gelesen und betont, dass es eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten auch für systemische Therapeutinnen und Therapeuten bietet.
Raluca Lechner, Wien:
Brigitte Schigl legt mit Psychotherapie von Essstörungen ein bemerkenswertes Fachbuch vor, das sowohl für angehende als auch für erfahrene Psychotherapeut:innen eine wertvolle Orientierung und Inspiration bietet. Obwohl die Autorin integrativ arbeitet, spricht ihr Zugang und ihre Haltung auch systemische Therapeut:innen an – sowohl theoretisch als auch methodisch.
Ihre Haltung gegenüber Essstörungen ist geprägt von Gendersensibilität und Gesellschaftskritik, ganz im Sinne eines systemischen Ansatzes: Der Mensch wird konsequent in Beziehung zu seinem sozialen, familiären und kulturellen Umfeld betrachtet. Die konstruierten „social worlds“, das geschichtliche und kulturelle Verhältnis zum Körper, zu Sexualität, Gender und Diversität als strukturgebende Faktoren werden hier dekonstruiert und erneut mit der Bedeutung der „Störung“ verknüpft.
Besonders interessant fand ich die Betrachtung einzelner Leidensbilder* mit Hypothesen und Leitideen, wie beispielsweise: Anorexie als „Möglichkeit der Autonomie im System“, Bulimie als „Ambivalenz zwischen verborgener Scham und perfekter Oberfläche“ und Orthorexie als Versuch, „alles richtig machen zu wollen“. Diese Bilder laden dazu ein, sich gemeinsam mit den Betroffenen auf die Suche nach Bedeutung zu begeben.
(*Ich bevorzuge den Begriff „Leidensbilder“ statt „Störungsbilder“ und konstruiere damit bewusst, wie ich Brigitte Schigls Buch gelesen und verstanden habe.)
Strukturiert nach dem „Tree of Science“-Modell führt Schigl von den Large Range Theories (Grundannahmen der integrativen Therapie über den Menschen als bio-psycho-soziales Subjekt) über die Middle Range Theories (z. B. zur Bedeutung von Nahrung und Essen, Perspektiven aus der Entwicklungspsychologie, Bindung, Körperarbeit und feministischer Psychotherapie) bis hin zu den Small Range Theories, die sich mit der Geschichte, Konstruktion und Diagnostik von Essstörungen befassen.
Der zweite Teil bietet vielfältige methodische Zugänge. Schigl widersetzt sich einer klassisch intrapsychisch begründeten Pathogenese und plädiert für ein relationales Verständnis: Essverhalten ist im Zusammenhang mit Biografie, Gesellschaft und Gender zu sehen. Im umfangreichen Praxisteil kommen auch Betroffene zu Wort. Auch hier konnte ich viel Systemisches in der Haltung und im Zugang der Autorin wiederfinden.
Die integrative Methodik der Autorin zeigt sich in kreativen, erlebnisorientierten (Gestalt-) und psychodramatischen Ansätzen in Einzel-, Gruppen- und Familiensettings. Viele dieser Interventionen lassen sich systemisch gut anschließen und „übersetzen“, wie zum Beispiel: Lebenslinien und Familienrituale → Biografiearbeit/Genogramm, „Rangordnung von Nahrungsmitteln“ → Skalierung, „Leerer Stuhl“ → Externalisierung etc.
Auch die verschiedenen Settingsangebote finden Einklang in die systemsiche Therapie : Einzelarbeit, Einbeziehung von Angehörigen, Arbeit mit Angehörigen, Gruppenarbeit sowie die Vernetzung mit angrenzenden Gesundheitsberufen.
Nicht zuletzt wird der Prävention und der Psychoedukation ein ganzes Kapitel gewidmet. Auch hier ist die systemische Betrachtung besonders sinnvoll und erwähnenswert, da verschiedene Risikofaktoren im Sinne des Zusammenspiels von Anlage und Umwelt beleuchtet werden.
Schigls Werk ist eine fundierte, empathische Einladung, Essstörungen neu, und im gesellschaftlichen wie feministischen Kontext, zu verstehen.
Insgesamt bietet das Buch wertvolle Einsichten und ist bereichernd für alle, die mit psychischen Leidensbildern arbeiten – anschlussfähig sowohl für systemische Ausbildungskandidat:innen als auch für erfahrene Therapeut:innen. Zugleich ist es auch für Betroffene und Laien gut zugänglich und verständlich und kann neue Perspektiven eröffnen. Die betont schulenübergreifende, respektvolle und ressourcenorientierte Herangehensweise an das Thema vermittelt eine Haltung, die man sich bei allen tätigen Therapeut:innen wünscht.
Als angehende Psychotherapeutin mit systemischer Brille habe ich das Buch bewusst mit meinem konstruktivistischen Verständnis gelesen und zahlreiche inspirierende Anknüpfungspunkte zwischen unseren Ansätzen gefunden.

Brigitte Schigl (2024): Psychotherapie von Essstörungen. Ein gendersensibles, integratives Behandlungsmodell. Wiesbaden (Springer)
271 S., Softcover
Preis: 44,99 € print: 32,99 € ebook
ISBN: 978-3-658-45305-3
doi: 10.1007/978-3-658-45306-0
Verlagsinformationen:
In kaum einer anderen psychischen Erkrankung wird die Verwobenheit von biologischen, psychologischen und sozialen Aspekten so deutlich wie beim Thema Essstörungen: All diese Aspekte müssen sowohl in der Erklärung der Entstehung, wie in der psychotherapeutischen Behandlung von Menschen mit Essstörungen beachtet werden. Essstörungen können als ein gender- und culture bound syndrome verstanden werden, das Sensibilität für die individuellen wie kollektiven verursachenden und aufrechterhaltenden Dynamiken in der Therapie verlangt. In dem Buch soll sowohl auf die Ätiologie von Essstörungen unter diesen Gesichtspunkten eingegangen, als auch daraus folgende integrative Handlungsleitlinien für die Psychotherapie dargestellt werden. Die Autorin liefert eine Vielzahl von praktischen Hinweisen zur gendersensiblen Psychotherapie von Essstörungen und stellt dazu passende Interventionen und Techniken vor.
Über die Autorin:
Brigitte Schigl, Prof.in Dr.in MSc., Klinische und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin und Supervisorin, ist Studiengangsleiterin für Psychotherapie- und Beratungswissenschaften an der Karl Landsteiner Universität für Gesundheitswissenschaften und leitet den Universitäts-Lehrgang Supervision & Coaching an der Donau Universität Krems. Brigitte Schigl lehrt in der Ausbildung von Psychotherapeut*innen und Supervisor*innen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind in der Psychotherapie die Prozessforschung und v. a. das Thema Gender, sowie auch Supervisionsevaluationen. Sie arbeitet freiberuflich als Psychotherapeutin und Supervisorin in eigener Praxis.