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Peter Müssen: Wirklichkeit gleich Beziehung – Die Geschichte vom Holzpferd

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Liebe Leserinnen und Leser des systemagazin,

eine Weile hatte ich Sorge, ob ich den diesjährigen Adventskalender füllen kann, aber dann haben mir doch so viele Kolleginnen und Kollegen mit ihren Beiträgen geholfen, dass der Kalender mal wieder überfließt. Die beiden verbleibenden Beiträge können Sie also heute und morgen hier lesen. Den Anfang macht Peter Müssen aus Köln, hier sein Beitrag:

Als ich die Einladung von Tom für ein Adventskalendertürchen bekam, dachte ich sofort  an seinen Artikel aus dem Jahr 2000 in ‚System Familie‘ über„149 Bücher aus dem letzten Jahrhundert, die systemische Therapeuten und Therapeutinnen auch zukünftig nicht vergessen – beziehungsweise noch lesen – sollten“
In dem zauberhaften Film von Nora Ephron„Julie & Julia“  kocht Julie die Liste aller 524 Rezepte des großen Kochbuchs von Julia Child„Mastering the Art von of French Cooking“ für Amerikanerinnen nach. Ganz ähnlich habe ich mich vor über 10 Jahren an Toms Liste für Systemiker_innen heran gemacht. An beiden Listen habe ich mich in den letzten Jahren gerne abgearbeitet, ohne sie jedoch zu bewältigen.
Wenn ich jetzt aber sagen soll, welche Texte mir wichtig sind und welche Texte ich in meiner Arbeit gerne nutze (nach den Rezepten hat Tom mich ja nicht gefragt), dann sind es nicht die großen und wichtigen Bücher in meinem Bücherschrank (die sicherlich im Hintergrund wirken), sondern eher kleine Geschichten, Gedichte, Märchen und Erzählungen.
Eine dieser Geschichten möchte ich hier im Adventskalender gerne erzählen; und auch meine Geschichte mit dieser kleinen Geschichte.
Ich besuchte Ende der 70er Jahre einen Studienkollegen, der sich wegen einer persönlichen Krise im Vianney-Hospital in Überlingen am Bodensee aufhielt. Mein erster Kontakt mit einer Psychiatrie.
Seit vielen Jahren lebte dort schon Heinrich Spaemann als geistlicher Rektor. Er ist der Vater des Philosophen Robert Spaemann. Aufgewachsen in einem evangelischen Elternhaus studierte er Kunstgeschichte und trat aus der Kirche aus. Zusammen mit Ernst Bloch war er Redaktionsmitglied der Sozialistischen Monatshefte. Nach seiner Heirat mit der Tänzerin Ruth Krämer wurde 1927 Robert geboren und beide traten in die katholische Kirche ein. Nach dem frühen Tod seiner Frau 1936 studierte Heinrich Spaemann Theologie und wurde 1942 von Clemens August Graf von Galen in meiner Heimatdiözese Münster zum Priester geweiht.
Jeden Abend hielt er einen Gottesdienst in der Kapelle der Klinik und dabei hielt er sich vor allem nicht an die Grundregel für katholische Prediger: Du kannst über alles reden, aber nicht über 10 Minuten. Heinrich Spaemann saß dabei aus Altersgründen auf einem Stuhl und sprach – mindestens 30 Minuten lang. Gleich am ersten Abend erzählte er die Geschichte vom Holzpferd im Kinderzimmer:“Das Holzpferd – so heißt es – lebte länger im Kinderzimmer als irgend jemand sonst.Es war so alt, dass sein brauner Stoffüberzug ganz abgeschabt war.Es war in Ehren alt und weise geworden …
‚Was ist wirklich?‘ fragte eines Tages der Stoffhase, als sie Seite an Seite in der Nähe des Laufställchens lagen. ‚Bedeutet es, Dinge in sich zu haben, die summen und mit einem Griff ausgestattet zu sein?‘
‚Wirklich‘, antwortete das Holzpferd, ‚ist nicht, wie man gemacht ist. Es ist etwas, was an einem geschieht. Wenn ein Kind dich liebt für eine lange, lange Zeit, nicht nur um mit dir zu spielen, sondern dich wirklich liebt, dann wirst du wirklich.‘
‚Tut es weh?‘ fragte der Hase.
‚Manchmal‘, antwortete das Holzpferd, denn es sagte immer die Wahrheit. ‚Wenn du wirklich bist, dann hast du nichts dagegen, dass es wehtut.‘
‚Geschieht es auf einmal, so wie wenn man aufgezogen wird?‘
‚Es geschieht nicht auf einmal, du wirst langsam. Es dauert lange. Das ist der Grund, warum es nicht oft an denen geschieht, die leicht brechen oder die scharfe Kanten haben oder die schön gehalten werden müssen. Im allgemeinen sind zur Zeit, da du wirklich sein wirst, die Augen ausgefallen; du bist wackelig in den Gelenken und sehr hässlich.
Aber diese Dinge sind überhaupt nicht wichtig; denn wenn du wirklich bist, kannst du überhaupt nicht hässlich sein, ausgenommen in den Augen von Leuten, die überhaupt keine Ahnung haben.‘
‚Ich glaube, du bist wirklich‘, meinte der Stoffhase. Und dann wünschte er, er hätte das nicht gesagt – das Holzpferd könnte empfindlich sein. Aber das Holzpferd lächelte nur …
„Dass uns nicht so sehr ausmacht, welche Eigenschaften, Fähigkeiten oder Qualitäten wir vorzuweisen haben, sondern viel mehr, in welchen Beziehungen wir leben und welcher Art diese Beziehungen sind, das war für mich damals eine wichtige Erkenntnis.
Erst später habe ich mich dann mit„relationaler Ontologie“,„sozialen Systemen“, Konstruktivismus u.ä. beschäftigt und gesehen, wie viele der 149 Bücher aus Toms Liste sich für mich wie in einer Mind-Map mit dieser kleinen Geschichte vom Holzpferd verbinden.
Ich habe damals in Überlingen übrigens nicht den Mut gehabt, dem alten Heinrich Spaemann zu sagen, wie stark ich seine Wirklichkeit gespürt habe. Er hätte ja empfindlich sein können …

Ein Kommentar

  1. Lieber Peter Müssen,
    Danke für diese schöne Geschichte. Sie spricht mich séhr an und vor meinem inneren Auge stehen einige Menschen und Gelegenheiten, zu denen ich diese Geschichte gerne weiter trage. Die kleinen Geschichten bündeln so oft all das Kluge, das in den großen Büchern steht.
    Frohe Weihnacht und ein wirklich schönes neues Jahr
    Herzlich
    Rainer Schwing

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