Ich habe sehr früh mit dem Lesen begonnen, so früh, dass mein Vater prüfte, ob ich berichten bzw. erzählen könne, was ich gelesen hatte. An einem Heiligen Abend, ich mag acht Jahre alt gewesen sein, schenkte er mir, vermutlich in der gleichen Absicht, einen Western, dessen Protagonist Tom Prox hieß, dargestellt als einer jener Männer, die den Colt gedankenschnell ziehen, mit ihm in Bruchteilen von Sekunden ihr Ziel treffen konnten, aber auch in der Lage waren, mittels ihrer Fäuste eine Kneipe mit einem Dutzend Halunken zu räumen.
Das Besondere (und mein erstes wichtiges und deshalb erinnertes Leseerlebnis) bestand darin, daß ich nach den ersten Zeilen und Abschnitten nicht mehr von außen das Buch rezipierte, sondern im geschriebenen Geschehen hauste, als ob es nicht geschrieben sei. Ich hörte die Pferde wiehern, die Revolver knallen, hasste die Bösen, liebte den Helden, an dessen Stelle ich trat noch in meinen Phantasien vor dem Einschlafen und sogar im Traum. Fortan las ich, was immer mir unterkam, man kann wohl sagen: auf der Suche nach vergleichbarer Intensität, die bisweilen sich einstellte, aber meistens nur als Ahnung auftrat, von Enttäuschung begleitet.
So erzählt man Initiationsgeschichten, die sich fortsetzen, aber sich selten (wie das Wort schon sagt) wiederholen lassen. In meinem Fall gab es aber eine Art Neu-Initiation, viele Jahre später, als ich ungefähr das 40. Lebensjahr erreicht hatte und nach einem kuriosen Lebenslauf das Studium aufnahm. Es führte mich nach Bielefeld, weil ich von Niklas Luhmann gehört hatte. 1984 erschien sein Buch Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie.
Auch in diesem Fall erinnere ich gut, was mir zustieß, als ich es las. Ich fühlte mich wie damals als Kind eintreten in dieses Buch, nur: dass keine Handlung vorfindlich war, wohl aber eine Erstreckung von 660 Seiten, auf denen ein Tanz von Unterscheidungen inszeniert war, episch, ironisch, pragmatisch und alles andere als trocken trotz des immer spürbaren Unterstroms einer Ernsthaftigkeit, die viele, nachgerade sakrale Denktraditionen brach, aber sie gerade deswegen seriös würdigte.
Mein Erleben war nicht allein die Faszination durch den virtuosen Umgang mit begrifflichen Unterscheidungen. Es war auch ästhetisch grundiert einmal wegen der Kunst, die Sprache, die Rhetorik wie auch die Komposition des Zusammenhanges im genauesten Verständnis konzise zu halten in zuweilen sehr dichten, ungewöhnlichen Wendungen einer hoch elastischen Prosa; dann aber auch deswegen, weil das, worum es ging, Differenzen waren, die sich nicht vergegenständlich ließen. Sie sind nicht visibilisierbar, sie sind in gewisser Weise: metaphysisch und deswegen nicht empiriefähig. Das beste Beispiel ist der Ausdruck System selbst.
Kurz: ich las tagelang gebannt und enthusiasmiert und lernte dabei das theoretische Denken kennen, das nicht gekennzeichnet ist durch schwer verstehbare Begriffe, sondern durch den Blick auf das Webewerk der Unterscheidungen und deren Koppelungen in der Souveränität eines Überschauens. Es ist kein Zufall, dass Theoria und Visio Fernsicht bedeuten. (Foto: Wikipedia)
Peter Fuchs: Ein Western der Theorie
5. Dezember 2013 | Keine Kommentare