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Patchworkfamilien beraten

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2018 ist im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in der Reihe Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten Corina Ahlers‘ Buch Patchworkfamilien beraten erschienen, ein Thema, das Corina Ahlers, systemische Therapeutin in Wien und langjährige Lehrtherapeutin der dortigen ÖAS, schon seit Jahren beschäftigt. Wolfgang Loth hat das Buch gelesen und bescheinigt ihm, das zu verkörpern, „was mir Compassion zu bedeuten scheint: mitfühlend Orientierung ermöglichen“.

Wolfgang Loth, Niederzissen:

Vielleicht sollte ich es spannender machen, doch was soll’s. Mein Eindruck nach dieser Lektüre ist, ein wohltuendes Buch in der Hand zu haben. Wohltuend zu einem nicht einfachen Thema. Wenn es stimmt, man müsse nur bis drei zählen können und schon habe man es mit Chaos zu tun[1], dann gibt es im Fall von Patchworkfamilien dazu vielfältigen Anlass. Das könnte man ausschlachten und ein Drama draus machen. Man kann es aber auch anerkennend zur Kenntnis nehmen, und diese Anerkennung in zugewandtes, zutrauendes und kreatives Handeln übersetzen, die Grenzen der eigenen Möglichkeiten im Sinn, und bereit, den Raum, den sie markieren, zu nutzen. Darüber hinaus Mitgefühl empfinden – Ahlers spricht von „betroffener Partizipation durch Zeugenschaft“ (S.56) – und somit bereit für das Risiko sein, dass die eigene Resonanz von dem allfälligen Chaos angemacht wird. Und ebenfalls die Disziplin aufbringen, unerschrocken nach Anschlussmöglichkeiten zu suchen. Dass dies hier alles zusammenkommt, ist es wohl, weshalb ich das hier besprochene Buch als wohltuend erlebe.

Corina Ahlers führt mit geradezu leichter Hand durch das Thema, was nur möglich ist auf der Grundlage eines mit Herz und Verstand über viele Jahre entwickelten Verständnisses dessen, was da vor sich gehen kann. Das „kann“ ist hier wichtig, weil letztlich jede Patchwork-Konstellation ihr eigenes Gewicht und Gesicht herausbildet, selten sicher vorauszusagen, oft von Zufällen und Zufälligkeiten geprägt. Der unverstellte Blick darauf eröffnet sowohl Einblicke in vielleicht so nicht erwartete Kompetenz von Beteiligten, als auch manchmal verstörende Erfahrungen, die erst einmal wenig Spielraum lassen neben der Erkenntnis, nicht wirklich etwas ausrichten zu können. Ahlers verschweigt nicht, dass ihr manche der in dieser Arbeit gemachten Erfahrungen nachgehen, so oder so. Und dennoch: ihr Fazit am Ende: „Professionelle müssen den Einladungen, die neutrale Haltung zu verlassen, permanent widerstehen und gleichzeitig emotional für die Mitglieder des Problemsystems erreichbar sein. Hilfreich für das Patchwork bleiben sie, wenn sie beständig für die pragmatische Realisierung von Lösungen werben, die vielleicht immer nur für kurze Zeit Bestand haben – und dann neu verhandelt werden müssen“ (S.77).

Mit Nachdruck weist Ahlers darauf hin, sämtliche Personen einzubeziehen, die das Patchwork bilden: „Die am Auftrag von Klienten und Klientinnen orientierte systemische Arbeit hebelt sich bei Patchworkfamilien aus, wenn sie nicht alle Perspektiven mitdenkt“ (S.38). Die Aufgabe ist, Kommunikation möglich zu machen und zu halten. Das geht nur, wenn alle Beteiligten erleben können, dass sie angesprochen, gesehen und einbezogen sind. Auch wenn die Beiträge vieler Beteiligter aus der Dynamik des inneren und äußeren Geschehens heraus nicht immer förderlich wirken mögen, sie sind die Ausgangspunkte für mögliche gute Entwicklungen. Dazu muss man sie respektieren. Zur Arbeit gehört daher auch das nachhaltige Werben um Mitarbeit, auch brieflich oder per mail. Dass dabei manchmal auch unbezahlte Arbeitszeit herauskommt, hält nicht davon ab.

Corina Ahlers lässt nachvollziehen, wie das gehen kann. Sie stellt dabei jedoch kein Ablaufschema vor, eher ein essayistisch gefärbtes Entwerfen eines weiten Feldes, auf dem viele Wege möglich sind. Auch wenn dieses Feld von Kontingenzerfahrung geradezu überquillt, so sind die Wege, die sich darauf gehen lassen, nicht beliebig, selbst dann nicht, wenn es zunächst darum geht, in Kontakt zu kommen und für Anschluss zu sorgen. So finden sich in diesem Buch auch klare Ansagen. Etwa: „Die Paarbegleitung ist gut, bis die erforderlichen Schritte rund um die Trennung klar ausgesprochen sind. Danach ist das Einzelsetting besser“ (S.29). Oder zum Zeitpunkt, wann Kinder informiert werden sollen (erst wenn der Auszug eines Elternteils bevorsteht) und zur Verantwortung für die Botschaft: „Der Verlassende ist in der Verantwortung, die im Moment passende Trennungsgeschichte zu finden“ (S.33). Und nicht zuletzt: „Kinder werden im Patchwork überfordert, bzw. vernachlässigt, wenn man sie manipuliert oder gar vergisst“ (S.59).

Die Reihe „Leben.Lieben.Arbeiten“, in der dieses Buch erschienen ist, setzt sich die anspruchsvolle Aufgabe, das jeweilige Thema prägnant und konzentriert zu umreißen, und dies praxisnah zu illustrieren. Ahlers wird dieser Aufgabe auf eine Weise gerecht, die mir sehr gefällt. Das Essayistische ihres Beitrags verläuft sich an keiner Stelle ins Ungefähre, was umso mehr imponiert, je deutlicher wird, dass Professionelle „nur Zaungäste“ sind, „die die ganze Wahrheit hinter dem Konfliktpotenzial nicht kennen und immer mit Vermutungen operieren“ (S.59). Fast beiläufige Hinweise prägen sich ein, wie etwa die ebenso kurze wie plausible Erläuterung zu den beiden gegenläufigen Forschungstraditionen, die im einen Team eher die Defizite betonen und im anderen eher die Möglichkeiten. Oder die unterschiedlich akzentuierenden Terminologien im Deutschen, Englischen und Spanischen. Nicht nur hier zeigt sich die Bedeutung von kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten. 

Kurz umrissen die Gliederung des Teils zur themenspezifischen systemischen Beratung: Die „Chronometrie der Trennung“ skizziert einige charakteristische Dynamiken und Aufgaben in der Trennungsphase (wie z.B. das Mitteilen der Situation an die Kinder, oder „Loyalität im Konflikt“). Im nachfolgenden Teil „Komplexität und Kontingenz in der Zusammensetzung neuer Beziehungen“ geht es um Patchwork-Konstellationen und –Fragen im eigentlichen Sinn. Am ausführlich diskutierten (idealtypischen) Fall von „Karl“ zeigen sich die vielen möglichen personellen, ideellen und sozialen Querverbindungen, Verwerfungen, Kombinationen, Abbrüche, Wiederaufnahmen, sowie deren Wechselspiel als permanentes Hintergrundrauschen und jeweils aktuell-spezifischer Situation.

Durch die vielen Fallbeispiele zieht sich ein respektierender Grundton, der die vielfältigen Variationen des Patchwork-Grundmusters freundlich, zugewandt und klar aufgreift. Die inhaltlichen Informationen und Überlegungen der Autorin finden in diesen Arbeitsskizzen einen lebendigen und überzeugenden Ausdruck. Das wirkt nicht nur äußerst kompetent, sondern verkörpert das, was mir Compassion zu bedeuten scheint: mitfühlend Orientierung ermöglichen. Wie gesagt, wohltuend und für die einschlägige Arbeit unbedingt zu empfehlen.


[1] wie Strunk und Schiepek das so schön auf den Punkt bringen (2014, Therapeutisches Chaos, Hogrefe; S.52)

(mit freundlicher Genehmigung aus systeme 33(1), 2019)

Zur website der Autorin

Inhaltsverzeichnis und Vorwort

Corina Ahlers (2018): Patchworkfamilien beraten. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)

87 Seiten, mit 2 Abb.
Paperback
ISBN: 978-3-525-40627-4
Preis: 9,99 €

Verlagsinformation:

Eine Familie, bei der mindestens ein Elternteil ein Kind aus einer früheren Beziehung miteingebracht hat, bezeichnet man als Patchworkfamilie. Das Patchwork – das Flickwerk – steht für die zufällige Anordnung von Beziehungen nach dem Bruch der elterlichen Partnerschaft. Die Trennung bringt ein Kaleidoskop an Veränderung mit sich: neue Bindungen zu biologischen Kindern, Stief- und Halbgeschwistern und hinzukommenden Partnern entstehen. Manche Eltern und Kinder bleiben allein.

Wie kann nach der Trennung der übergang in die neue Lebenssituation für Erwachsene und Kinder beraterisch optimal begleitet werden? Die systemische Haltung, die eine zirkuläre Betrachtung von Kommunikation voraussetzt, ist besonders geeignet, um das Gelingen professionell zu unterstützen. Dafür muss der Gesamtkontext im Auge behalten werden. An der Konstruktion des gelingenden Patchworks sind die Ex-Partner, mögliche neue Partner und alle vorhandenen Kinder beteiligt. Auch die professionelle Umwelt (Jugendamt, Familiengericht, Schule, Mediation, Therapie) rahmt die problematische Kommunikation der Betroffenen. Die professionelle Haltung verlangt die emotionale Perspektivenübernahme für alle Mitglieder im Patchwork. Die gemeinsam erarbeiteten Veränderungsvorschläge werden auf ihre Machbarkeit überprüft. Pragmatisch optimiertes Vorgehen und die zähe Verhandlung von Alternativen sind der permanenten Einladung zur emotionalen Verstrickung mit Einzelnen entgegenzustellen.

Das Patchwork funktioniert nur, wenn die Kränkung aus dem Bruch verarbeitet und gute Erinnerungen in ein neues Leben integriert wurden. Die dafür notwendige Zeit ist nicht für alle gleich. Therapeutinnen und Therapeuten helfen die Zeit angemessen zu verwalten.

Über die Autorin:

Dr. Corina Ahlers, Psychologin, Dozentin, Systemische Familientherapeutin und Lehrtherapeutin für Systemische Therapie an der ÖAS (Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Systemische Therapie und Systemische Studien) und Sigmund Freud Privatuniversität in Wien, ist derzeit zu den Themen Patchworks, Gender und kultureller Bindung tätig (www.familieneu.at).

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