Ruppert Heidenreich, Aachen: Open Doors – In Memoriam Heinz Kersting
Heute Morgen habe ich die Tür für Heinz Kersting geöffnet. Ich wachte auf – und dachte an Heinz. Mir fiel ein, dass am 04. Dezember das Fest der Heiligen Barbara ist. Heinz hätte eine Würdigung des Barbaratages nie vergessen: Barbara ist die Schutzpatronin der Bergleute, aber auch vieler anderer Handwerker. Auch der SupervisorInnen, wie Heinz fest behauptete, weil nahezu alle Berufe, die mit Sprengstoff umgehen, sich Barbara als Schutzpatronin ausgewählt haben. Heinz meinte, dass auch SupervisorInnen mit Sprengstoff umgehen würden und Barbara eine würdige Schutzpatronin für sie wäre.
Brigitte, meine Frau, brachte Heinz am 4. Dezember immer ein paar Kirschzweige, Barbara-Zweige, die er in die Vase stellte und die dann just zu Weihnachten erblühten. Am 4. Dezember 2005 hat Brigitte die Zweige neben das Totenbett von Heinz gestellt. Heinz ist am frühen Morgen des 4. Dezember 2005 gestorben, heute vor 10 Jahren.
Noch immer bin ich Mitglied der Balintgruppe, die Heinz 1989 gegründet und geleitet hat. In diesen 10 Jahren seit seinem Tod hat die Gruppe unentwegt weiter existiert mit wechselnden Mitgliedern und anderen Leitern. Ich selbst kannte Heinz seit etwa 1974, weil seine erste Frau und ich Kollegen an der Schule für Erziehungshilfe in Aachen waren. Wir haben 1980 unser gemeinsames Haus in Eilendorf gebaut und bis zu seinem Tod dort mit unseren Familien gewohnt.

Ruppert Heidenreich
Ich habe heute Morgen die Tür für Heinz geöffnet und bin in den Garten unseres Hauses gegangen. Zu einem Apfelbaum, den Heinz im Frühjahr 2005 im Garten gepflanzt hat. Weil Heinz nicht so sehr mit Ackerbau und Viehzucht vertraut war, hatte er mich gebeten, ihn beim Pflanzen zu unterstützen. Ich grub ein tiefes Loch, füllte es mit Kompost und Erde. Dann kam Heinz und er legte ein Paket auf den Boden des Loches: Es war die Nachgeburt seiner Stieftochter Anne, die kurz zuvor ihr zweites Kind bekommen hatte. Es ist ein alter Brauch in vielen Ländern, ich kannte ihn nicht. Da soll sozusagen ein Lebensbaum für das Kind wachsen. Das war Heinz: ein aufgeklärter, kritischer Geist, der das Archaische im Leben liebte, mit dem man streiten und philosophieren konnte. Und der zugleich Riten, Rituale, Gebräuche in sein Leben integrierte. Der Baum ist wunderschön gewachsen und trägt jedes Jahr sehr viele Früchte.
Ich habe heute Morgen die Tür für Heinz geöffnet und mich erinnert, dass er Mitte der 80er Jahre den Gedanken entwickelte, einen Verband für SupervisorInnen zu gründen. Wir sind an manchen Sonntagen durch unseren weiten Garten gegangen und haben darüber diskutiert. 1989 war es dann soweit, die Deutsche Gesellschaft für Supervision wurde aus der Taufe gehoben und Heinz ihr erster Vorsitzender. Heute ist die DGSv der anerkannte Verband für Supervision in Deutschland mit nunmehr rund 5000 Mitgliedern.

Heinz Kersting 31.5.1937 – 4.12.2005
Open doors: Ich bin auch im Andenken an Heinz in den Gewölbekeller unter unserem alten Bruchsteinhaus aus dem 16. Jhdt. gegangen. Wir hatten dort einen gemeinsamen Weinkeller. Dann und wann trafen wir uns in diesem Keller, um Weine zu probieren (ob sie noch oder nicht mehr oder bald zu trinken waren) und um nebenbei ein paar Weltprobleme zu lösen. Heinz hatte noch die Kerze von seiner Primiz, das ist die erste Messe, die ein katholischer Priester nach der Priesterweihe liest. Die Kerze hatte Heinz in eine Nische im Weinkeller gestellt. Sie wurde zu Beginn der Weinproben angezündet und nach diversen Proben sang Heinz laut Tauflieder und sonstige kirchliche Gesänge, schüttete den Wein solcher Flaschen, die nicht mehr trinkbar waren, gegen die Kellerwände, von wo er in den Kellerboden sickerte. Und unser ehrenwertes Haus roch noch Tage danach wie ein veritables Weinlokal, nein eher wie eine runtergekommene Weinschwemme.
Wenn einmal die Tür geöffnet ist, dann fließen und strömen so viele Erinnerungen und Gedanken an Heinz. All das ist auf einmal gegenwärtig, was er für das Beratungsformat Supervision entwickelt, initiiert, durch seinen wissenschaftlichen Verlag publiziert hat, die Gründung des Instituts für Beratung und Supervision, das nach wie vor SupervisorInnen ausbildet, seine Arbeit als Hochschullehrer, all das und noch viel mehr, witzige und auch ernste Geschichten. Und weil es genau 10 Jahre her ist, dass Heinz gestorben ist, dachte ich, im Sinne seiner Vorlieben für Rituale, die Tür zum runden Gedenktag an seinen Tod im Adventskalender zu öffnen.
Peter
Meine systemische Entwicklung wurde angestoßen durch ein Buch und Film von Arist von Schlippe et al. „Zugänge zu familiären Wirklichkeiten“ (2000). Ich würde fast sagen, dass ich vorher recht linear interveniert habe. Damals war ich noch als Familientherapeut in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung tätig und war eher dem Problem ausgesetzt, dass der Altersunterschied zu den Eltern der Hilfeempfänger recht groß war. Ich kann mich noch immer an die vielen Aussagen erinnern, die mich in meiner Entwicklung als Therapeut retrospektiv positiv beeinflussten: „Kannst Du mir bitte einen Betreuer holen, ich habe ein Elterngespräch…“; „Was wollen Sie mir denn erzählen, Sie könnten mein Sohn sein…!“; „Ist Ihr Vater auch zu sprechen…?“
Es waren aus heutiger Sicht oft nicht die zeitaufwändigeren systemischen Interventionen, wie z.B. die Arbeit am Familienbrett, der Skalierungsscheibe oder Aufstellungsinterventionen im Raum, sondern die scheinbar pragmatischen Techniken, die unglaublich schnell wirkten und die Klienten sofort zum Nach-denken anregten und ein „Aha-Erlebnis“ auslösten. Ebenso waren auch systemische Abschlussszenarien unglaublich hilfreich, um bei mir Entwicklung verdichtet anzustoßen, wie z.B. „Hat Ihnen innerhalb der letzten 6 Sitzungen etwas gefehlt, was Sie bisher nicht angesprochen haben?“; „Angenommen, Sie könnten meine therapeutische Entwicklung positiv beeinflussen, was würden Sie mir empfehlen? Fehlte Ihnen etwas an meinen Vorgehensweisen?“; „Angenommen, Sie wären ein Therapeutentester Undercover – Undercover Reportagen sind momentan ein Trend in Deutschland … was würden Sie an meiner Praxis oder an meinen Eigenschaften als Therapeut konstruktiv kritisieren?“
Liebe Leserinnen und Leser,
Mein Vater war ein aufbrausender, jähzorniger Mann. Aus einem chronischen Gefühl des Ungenügens heraus, jedoch allem Lernen abgeneigt, lebte er mit rasch wechselnden Tätigkeiten in den Tag hinein und tyrannisierte seine Umgebung. Meine Mutter gab dazu das entsprechende Negativ. Eine zierliche, anziehende Frau mit höchsten intellektuellen und emanzipatorischen Ansprüchen, die in krassem Gegensatz zu ihrem gelebten Leben standen, weckte sie in ihrer Umgebung den Wunsch, sie zu erlösen, den sie standhaft zu enttäuschen wußte. Versunken in einem chronischen Gefühl der Leere, das sie mit ihren Kindern vergeblich auszufüllen suchte, blieb sie beschränkt auf ihre zunehmend verhasste und dementsprechend ausgefüllte Mutter- und Hausfrauenrolle. Mein älterer Bruder bekam die Last dieser Verhältnisse ungemindert zu spüren, was ihn für sein Leben zeichnete. Man sollte meinen, der Arme, an dem sich meine Eltern schon einigermaßen abgearbeitet hatten, bevor ich das Licht der Welt erblickte, wirkte als Barriere und Schutzschild gegen deren direkte Einwirkung auf meine zarte Seele. Aber der Böse erwies sich vielmehr als ein Art Brennglas, durch das er alles in höchster Konzentration auf mich weiter leitete. Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass ich ein mehrfach seelisch missbrauchtes Kind war, unterdrückt, entwertet, gleichzeitig als Rettungsengel phantasiert. Ohnmacht, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle waren der fruchtbare Boden für eine katholische Erziehung, die sich mir, wenngleich moderat und ohne äußeren Zwang ausgeübt, als kosmische Rechtfertigung des in mir angerichteten seelischen Chaos darstellte. Es erübrigt sich, auszuführen, dass mein Leben den vergeblichen Bemühungen eines Verdammten gleichkam, eine einzige Misere. Leistungsneurotisch und trotz aller möglichen Qualifikationen mein Berufsfeld immer wieder wechselnd, konnte ich nie schätzen, was ich erreichte. Auch im Privatleben unternahm ich mehrere Anläufe, was dazu führte, dass ich heute, umgeben von vielen Kindern, die mich immer noch ausbeuten, allein lebe. Was Wunder, dass mich – verbraucht durch alle die vergeblichen Anstrengungen, meinem vorgezeichnetem Schicksal zu entkommen – zu guter letzt eine lebensbedrohliche Krankheit heimsucht, die sich nun auch noch weigert, dem allen ein gnädiges Ende zu bereiten. Ich erlaube mir, mich durchgängig als gescheitert anzusehen.

