Rosita A. Ernst & Noah Artner, Wien: Open doors – offene Systeme und vorweihnachtliche Verstörung
Haben Sie schon einmal zu Weihnachten Ostereier verschenkt?
Wir konnten uns anfangs nicht einigen, womit wir uns inhaltlich beim diesjährigen systemischen Adventskalender beteiligen möchten. Zur Auswahl stand ein sehr persönlicher Fall, der ob der Aktualität und der fehlenden Distanz noch nicht veröffentlicht werden wollte. Wir dachten auch an eine systemisch-gruppendynamische Auseinandersetzung, die Fritz Simon dankenswerterweise bereits eifrig vorantreibt. Letztlich sind wir dann durch die daraus entstandene Diskussion bei der Verstörung gelandet. Warum also nicht etwas Verstörung in die ohnehin angepriesene geruhsame und dann davor oft doch turbulente Weihnachtszeit streuen.
Zumeist hören wir in systemischen Vorträgen den Verweis hin zu Luhmann und der Autopoiese. Systeme werden als sich selbst erschaffende und intern regulierende, in sich abgeschlossene Einheiten beschrieben. Die Menge der dem System zur Verfügung stehenden Operationen ist begrenzt, d.h. „geschlossen“. Man kann autopoietische Systeme nicht instruieren, andere Elemente hervorzubringen als diejenigen, aus denen sie bestehen, bzw. die strukturell angelegt sind. Schade, dass wir nicht öfters auch Bertalanffys Ausführungen mit einbinden. Er widmete sich unter anderem der Theorie offener Systeme und stellt fest, dass, wenn auch auf Thermodynamik bezogen, offene Systeme Energie aus ihrer Umwelt aufnehmen können und dies zu einer höheren Ordnung führt. Wagen wir hier eine Umlegung auf soziale Prozesse, so macht dies ebenso Sinn und widerspricht „geschlossenen Türen“. Inwiefern sich diese höhere oder neue Ordnung auswirkt, wissen wir nicht, jedoch können wir die erwähnte Energie vielleicht auch mit verstörenden oder andersartigen Interventionen vergleichen.
Letztens saß ich als Supervisor in einem Team, das ich etwa ein Jahr begleite. Und an dem einen Tag würde ich die Stimmung und Atmosphäre als zäh und starr beschreiben. Müdigkeit, Lustlosigkeit und auch Schweigen zeichneten sich ab. Nun könnte man stoisch sitzen, es aushalten und warten, was passiert. Ich könnte Hypothesen spinnen wie, dass das Team etwas belastet, es Streit gab, schlechte Nachrichten oder das sie heute einfach keine Lust auf Supervision oder mich hätten. Ich erinnerte mich an die anderweitig, im Zuge eines Gesprächs, vernommenen Worte von Gerda Mehta: „Die könnten doch einfach sehr beschäftigt sein. Vielleicht denken die gerade daran, wie sie weiterarbeiten können!? Unterstellen Sie doch einfach das Positive! Alles andere kommt von allein“. Gesagt getan. König (1998) meint, man kann ein soziales System, wie eine Gruppe nur verstehen, wenn man die Regeln kennt, die das Verhalten der Personen in diesem System leitet. Da die Gruppe bisher immer betonte, dass sie gerne etwas „tun“ und nicht nur reden und sitzen möchten, griff ich den Wunsch bereits die letzten Sitzungen auf.
Ich entschied, eine kurze Entspannungstrance anzuleiten und das passte, im Nachhinein betrachtet, richtig gut. Eine Intervention ist eine, im Sinne Kurt Lewins, theoriegeleitete Kommunikation ins System, die dort Muster verstört, allerdings nur, wenn das System dies zulässt (Helmut Willke, 1994). Eine Intervention soll überlegt sein und sich aus der Schrittfolge der systemischen Schleife ableiten.
Während der Anleitung wirkten die Gesichter entspannter. Als ich im Anschluss um Reflexion bat, folgte das produktive Donnerwetter. Es sei entspannend gewesen, aber man habe sich nicht so richtig darauf einlassen können, meinte ein Teammitglied. Ein anderes Teammitglied meinte, dass eine Entspannungseinheit total unpassend gewesen wäre, es gäbe so viel zu tun, man müsse endlich ins Tun kommen und zusehen, wie man die aktuellen Herausforderungen und Schwierigkeiten bewältigen könne. Vermeintlich ein Fehlgriff, würde man vielleicht meinen. Ein Musterbruch findet jedoch streng genommen bereits in dem Moment statt, wenn die Kontingenz der spezifischen Konstruktion eines Musters sichtbar wird. Damit rückt die Möglichkeit ins Blickfeld, es einfach mal anders zu machen, d. h. der Möglichkeitsraum des Systems wird vergrößert. Die Ergebnisse der Interventionen können erneut als Daten beobachtet werden, sie werden interpretiert, für ein bestimmtes Handlungsanliegen werden Optionen gesucht und bewertet, um den Zyklus der Schritte erneut zu starten. Muster sind beobachtbar durch gemeinsame Reflexion von Zusammenhängen, durch Rückspiegelung von Beobachtungen aus der Außensicht oder durch Beobachtung von anderen Interaktionsmustern in ähnlichen Kontexten. Gemäß den Auführungen ergab sich aus der Reflexion heraus ein äußerst produktiver Austausch und eine Reflexion über die derzeitige Teamsituation , das Verhalten des Teams sowie deren einzelnen Mitgliedern, wovon anscheinend alle sehr profitiert haben und ein näher Zusammenrücken ermöglicht wurde.
Da uns von Anfang an eine Offenheit für verschiedene Methoden, Perspektiven, Richtungen als auch Haltungen und infolge auch Kulturen und Lebensweisen wichtig ist, möchten wir eine Einladung hinsichtlich Verstörungen und ungewohnten Interventionen aussprechen und zu offenen Türen für das Andere einladen. Letztens Jahr habe ich in meinem Adventskalender zur Definition und Abgrenzung systemischer Theorie geschrieben. Dies widerspricht sich jedoch nicht unbedingt. Und auch hier fand Gerda Mehta einmal sehr weise Worte: „Es ist wichtig den eigenen Bereich gut zu kennen, damit man sich umso besser davon, falls gewollt, distanzieren kann.“ Lassen Sie uns also Frau und Herr im wohlbekannten eigenen Haus und zugleich gastlich sein. Bedienen wir uns des Begriffes Gastlichkeit, also der Beherbergung, Bewirtung und Unterhaltung von Besuchern. Wenn wir die Türe öffnen, wissen wir natürlich nicht, wer da in unser Haus kommt und was dann passiert. Manchmal geht es um kurze Begegnungen, manchmal bleibt man länger, verbringt eine gute Zeit miteinander, bringt Neues auf den Weg, manch einer bleibt ein Leben lang, bei anderen fällt der Abschied schwer und bei manchen kracht es und man setzt den ungeliebten Gast vor die Tür. In jedem Fall aber bewegt es uns und zwingt uns dazu Dinge zu überdenken und sich gegebenenfalls neu auszurichten. Und ganz ehrlich, ist bei Ihnen Gastlichkeit jemals negativ angekommen?
Momentan sind wir, neben den „üblichen Weihnachtsvorbereitungen“, eifrig am Eierfärben und bemalen. Und ob Sie es glauben oder nicht, die Verstörung, die wir uns selbst damit zumuten, ist durchaus spannend und erheiternd. Ob wir es letztlich wirklich wagen gegen die Traditionen anzugehen und unsere Werke unters Volk zu bringen wird sich in den nächsten Tagen noch herausstellen. Wir grübeln gerade, ob es zumutbar ist, die übrigen Schokonikoläuse bis Ostern aufzubewahren…