Der systemische Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass er bei der Erklärung von (vermeintlich individuellen) Phänomenen immer die verschiedenen relevanten sozialen, historischen, ökonomischen, rechtlichen u.a. Kontexte einbezieht. Gerade bei der Frage, was als psychisches oder seelisches Problem, Krankheit oder Störung gelten kann, ist diese Perspektive von besonderer Bedeutung. Allerdings ist die Frage, inwiefern gesellschaftliche Entwicklungen Einfluss auf die Entstehung psychischer Probleme nehmen oder diese sogar verursachen, schon viel älter als systemtheoretische Beschreibungen. Ob der Kapitalismus krank macht, ist eine alte soziologische Fragestellung, die aber natürlich von eminenter politischer Bedeutung ist (und seit den 60er Jahren diskutiert wird).
Martin Dornes, Soziologe und Psychoanalytiker aus Frankfurt, der durch seine Bücher über die neuere Säuglingsforschung bekannt geworden ist, hat nun ein Buch „über seelische Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften“ vorgelegt, dass eine Antwort auf diese Frage bieten soll. Entscheidend für seine Argumentation ist der Unterschied zwischen einer erheblichen Zunahme von Depressionsdiagnosen in den vergangenen Jahren auf der einen Seite, einer relativen Konstanz der beschriebenen Probleme, die sich in epidemiologischen Untersuchungen zeigt, andererseits. Martin Rufer aus Bern hat das Buch für systemagazin gelesen und hält es für „einen wichtigen, wenn auch kontrovers zu diskutierenden Beitrag“ zu dieser Debatte.
Martin Rufer, Bern:
Macht der Kapitalismus depressiv? Wer eine solche Frage so pointiert ins Blickfeld des Lesers stellt, muss diese auch dementsprechend prägnant beantworten können. Um es gleich vorweg zu nehmen: dies gelingt Martin Dornes, seines Zeichens promovierter Soziologe und habilitierter psychoanalytischer Psychologe hervorragend und vor allen Dingen so eindeutig, so dass es auch dem kritischen Leser bei der Lektüre schwer fällt, gegen sein klares „Nein“ zur Titelfrage anzutreten. Dass sich der Autor damit aber wohl auch nicht nur Freunde schafft oder gar als Speichellecker des Kapitals (Internet-Rezension) abqualifiziert wird, mag da nicht überraschen. Dabei geht es ihm keineswegs um ein antikapitalistisches Manifest, sondern um eine kritische Prüfung der „Zunahmethese“ psychischer Krankheiten und der Suche nach Antworten auf die Frage: „Diagnosen nehmen zu, Krankheiten nicht: wie ist das möglich?“. Dabei ist sich Dornes durchaus bewusst um die Fülle von Studien mit widersprüchlichen Befunden. Wenn der Autor aber aufgrund der Durchsicht zahlreicher sozialwissenschaftlicher Arbeiten zum Schluss kommt, dass psychische Krankheiten in den letzten 30 Jahren nicht zugenommen haben, löst er damit natürlich eine Reihe von Fragen im Bereich der psycho-sozialen Grundversorgung aus. „Klärungsbedürftig ist also nicht mehr, ob psychische Krankheiten zugenommen haben – sie haben es nicht -, sondern allenfalls, warum es diesen Hype gibt.“ (S.128). Weiterlesen →