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Online-Journal für systemische Entwicklungen

14. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Fremd im Mutter- und Vaterland – Vor- oder Nachteil?

14adventKurt Ludewig, Münster: Fremd im Mutter- und Vaterland – Vor- oder Nachteil?

Das Thema des diesjährigen Adventskalenders ist sicherlich von den aktuellen Verhältnissen inspiriert. Da geht es um die Folgen von Globalisierung, Nationalismus, Fremdenhass, Migration usw. Darüber ist bereits viel geschrieben worden und ich nehme an, dass viele Beiträge sich damit befassen werden. Ich möchte jedoch einen anderen Weg gehen und dieses Thema als Anlass nutzen, um über mein eigenes Fremdsein nachzudenken.

kurt ludewig

Kurt Ludewig

Als Sohn eines Hamburgers und einer Chilenin in Chile geboren und aufgewachsen, bin ich von früh auf mit dem »Fremden« konfrontiert worden. Meine Mutter war eine ausgesprochen anglophile Frau. Deshalb verbrachte ich meine Schulzeit in einer von britischen Lehrern geführten Schule, in der es außer in bestimmten Unterrichtsstunden verboten war, Spanisch zu sprechen. Unter britischen Lehrern lernte ich also zu heucheln, das heißt, schnell auf Englisch umzuwechseln, wenn Lehrer oder »prefects« – Schüler der letzten Klasse mit der Befugnis ausgestattet, Mitschüler zu bestrafen – in meine Nähe kamen. Man spielte Rugby, feierte den Geburtstag der Queen, sang bei Festlichkeiten »God save the Queen« und trank nach dem Sport Gin. Ich lebte zwar in Chile und fühlte mich als Chilene, gebärdete mich aber zuweilen unwillkürlich als Ausländer im eigenen Land. Das war allerdings in einem von Europäern kolonisierten Land keine auffällige Besonderheit. Außerhalb dieser pseudo-britischen Umgebung hörte ich manchmal, wie mein Vater mit Landsleuten auf Deutsch sprach, also in einer damals für mich unverständlichen Sprache. Dass er Spanisch mit hartklingendem deutschem Akzent sprach, habe ich als Kind nicht wahrgenommen. An manchen Sonntagnachmittagen im Winter hörte ich zusammen mit Freunden meinem Vater gern zu, wie er von seinen Erfahrungen als junger Mann in Deutschland und später in Spanien erzählte, wohin er in seinen Zwanzigern ausgewandert war. Seine Geschichten waren so eindrucksvoll, dass ich natürlich ein starkes Fernweh entwickelte. Das dürfte eines der Motive gewesen sein, die mich als Zwanzigjährigen dazu bewegten, das kleine Land am Ende der Welt zu verlassen und in die große Welt zu ziehen.

1963 wanderte ich nach den USA aus. Eine meiner ersten, mich dort prägenden Erfahrungen machte ich an einer Tankstelle in Texas, wo ich als Fahrer eines fremden Autos auf dem Weg von Florida nach Los Angeles haltmachte. Gegenüber der Tankstelle war ein Café, in dem eine schöne blonde Frau servierte. Ich wollte dahin, wurde aber vom mexikanischen Tankstellenwärter, mit dem ich ein paar Worte auf Spanisch gewechselt hatte, daran gehindert. Er warnte mich eindringlich davor, dahin zu gehen, denn die dortigen Cowboys würden keine Latinos mögen. Als ich brüskiert konterte, dass ich Halbdeutscher sei, ergänzte er, dass das noch schlimmer sei. Ich ließ es also sein. Ich hatte schnell gelernt, dass Lateinamerikaner zu sein, ein Grund sein könnte, diskriminiert zu werden. Also griff ich auf meine schulischen Vorerfahrungen zurück und war ab dann bemüht, Englisch mit betont britischem Akzent zu sprechen. Damit habe ich manchen Kunden der Bank, in der ich in Los Angeles als Kassierer arbeitete, irritiert; das war aber weniger schlimm, als für einen »Chicano« (in den USA lebende Mexikaner) gehalten zu werden.

Dann kam ich 1965 nach Deutschland. Meine allererste Erfahrung am Münchner Hauptbahnhof war arg enttäuschend. In Chile musste ich meinen Nachnamen immer buchstabieren, denn keiner verstand ihn. In den USA war dies nicht viel besser. Nun würde ich aber im Geburtsland meines Vaters meinen Nachnamen bloß auszusprechen brauchen und er würde verstanden werden. So glaubte ich das. Bei der Zimmervermittlung antwortete ich auf die entsprechende Frage mit »Ludewig« – von meinem Vater hatte ich gelernt, dass im Deutschen die Endung IG wie ICH ausgesprochen wird. Die bayerische Frau am Tresen schrieb aber »Ludewich«. Erstaunt darüber korrigierte ich, dass mein Name mit IG ende. Sie schaute mich erbost an und sagte, dass ich dann »Ludewick« hätte sagen sollen. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass in Deutschland Deutsch nicht gleich Deutsch ist.

Es war der 1. Oktober, also ging ich gleich am ersten Abend zum Oktoberfest. Ich betrat ein großes Zelt, in dem große kräftige Männer in Lederhosen – für mich also in Verkleidung – im Rhythmus einer Marschmusik lauthals »Erika« schrien und im Anschluss mit riesigen Gläsern dreimal kräftig auf den Tisch hauten. Mir gefror fast das Blut. Langsam gewöhnte ich mich an dieses seltsame Spektakel, als plötzlich hinter mir eine kräftige weibliche Stimme »Vorsicht« schrie. Ich drehte mich um, sah eine Art Panzer auf mich zurollen und konnte der Frau, die eine Menge riesiger Biergläser vor sich trug, mit einem Sprung zur Seite nur knapp ausweichen. Bei dieser ersten allzu heftigen Begegnung mit deutschen Gebräuchen kamen mir unwillkürlich beängstigende Assoziationen zu dem Wenigen, was ich über Deutschland aus der Ära bis 1945 wusste. Ob ich in einem mir so arg fremden Land würde bleiben können und wollen?

Im Frühjahr 1966 ging ich dann nach Hamburg. Mit den Ergebnissen von sechsmonatigen Intensivkursen in der deutschen Sprache am Goethe-Institut in Oberbayern gerüstet, begann ich dort ein Studium der Psychologie. Als Hafenstadt war Hamburg kosmopolitischer als das, was ich bis dahin in Deutschland erlebt hatte, und ich konnte mich dort wesentlich leichter einleben. Als aus dem modernen Amerika Gekommener hatte ich dennoch das Gefühl, mich in der Zeit zurückversetzt zu haben. Das Leben in Deutschland, ob in der Kleidung, der Musik oder den Kinofilmen, fand ich äußerst altmodisch und altbacken. Ganz erstaunlich fand ich zum Beispiel, wie unglaublich förmlich die jungen Menschen an der Universität miteinander umgingen. Viele Studenten trugen Jackett und Krawatte, viele Studentinnen Pferdeschwänze und Schottenrock. Man siezte sich und sprach sich mit Herr Kommilitone bzw. Frau Kommilitonin an. Aus dem jungen Amerika gekommen, war ich gewöhnt, gleichaltrige Menschen in Chile zu duzen und sie in den USA per Vornamen anzusprechen. Wollte man sich aber in Hamburg duzen, musste man auf umständliche Weise »Brüderschaft« trinken. Ich musste mich ein paar Jahre lang ziemlich umstellen.

Dann kamen aber die 1968er Jahre und alles änderte sich. Ich erlebte diese Veränderung hautnah. Das Institut für Psychologie an der Uni Hamburg wurde als eines der ersten in Deutschland von Studenten besetzt und in Wilhelm-Reich-Institut umbenannt. Obwohl die Polizei mit großem Aufgebot das Institut zurückeroberte, fielen die Studenten nicht in den früheren Alltag zurück. Das gesellschaftliche Leben hatte sich im Nu nachhaltig verändert. An der Universität wuchsen bei den Jungs die Bärte und die Haare, die Jacketts landeten im Verlies; bei den Mädchen waren die Pferdeschwänze und die Schottenröcken auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Urplötzlich duzte man sich, nicht nur unter den Studenten, sondern sogar die Assistenten und manche Professoren wurden per Vornamen angesprochen und geduzt.

Mein Deutschland – ich betone »mein Deutschland«, denn sicherlich hat dieser Prozess an anderen Orten des Landes länger gedauert – war innerhalb kürzester Zeit auf erfreuliche Weise modern geworden. Einige Jahre später, als Willy Brandt sich aus der Politik zurückzog, dankte ich ihm in einem Brief, dass Deutschland während seiner Regierungszeit ein »normales« Land geworden sei, in dem meine Kinder unbedenklich aufwachsen können.

Diese sind einige der Gedanken und Assoziationen, die mir auf Tom Levolds Aufforderung gekommen sind, mich über meine Begegnungen mit dem Fremden zu äußern. Beim Rückblick musste ich mir noch bewusster als sonst werden, dass ich mein ganzes Leben lang fremd im fremden Kontext verbracht habe. In meinem Mutterland Chile war ich ein britisch erzogener Halbdeutscher, der sich für einen Chilenen gehalten hat, in den USA war ich ein Halblatino, der sich britisch gab, und in meinem »Vaterland« Deutschland bin ich ein Halbchilene, der erfolgreich integriert und doch fremd geblieben ist.

Ziehe ich darüber Bilanz, glaube ich behaupten zu können, dass ein Großteil dessen, was mir in Deutschland möglich war, nicht zuletzt dadurch erklärbar ist, dass ich den Vorteil des Fremdseins habe nutzen können. Vor allem in meinen Tätigkeiten als Therapeut, Lehrer und Autor bin ich als »Integrierter« durchaus in der Lage, mich innerhalb deutscher Verhältnisse sicher zu bewegen, als gebliebener Fremder bin ich aber nicht verpflichtet, die Einschränkungen, die jede Kultur ihren Mitgliedern abverlangt, einzuhalten, um dazu zu gehören. Als »integrierter Fremder« bleibt man auf Dauer eine Art »bunter Hund«, der über die Freiheit des Außenstehenden verfügt, zugleich aber mit tiefen Rissen im Identitätsgefühl auskommen muss. Fremdsein hat eben wie alles andere im menschlichen Leben Vor- und Nachteile.

13. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Es lebe das Fremde!

13adventRudolf Klein, Merzig: Es lebe das Fremde!

Die Gegenüberstellung der Begriffe „fremd“ und „vertraut“ lädt ein, über die damit verbundenen Implikationen nachzudenken. Mit der Wahl dieses Begriffspaares werden spezifische Bedeutungen nahegelegt: „Vertraut“ bedeutet laut Duden (www.duden.de) so viel wie „wohl bekannt“, „intim“, „gewohnt“, „eng verbunden“ während „fremd“ mit „nicht dem eigenen Land angehörend“, „unbekannt“, „nicht vertraut“, „anders geartet“ assoziiert wird. Das Fremde ist unbekannt und wird daher eher problematisiert während das Vertraute bekannt ist und eher unproblematisch erscheint.

Bei genauerem Hinsehen lässt sich aber das Fremde, das Nicht- oder Noch-Nicht-Bekannte, die Überraschung, der Zufall, kurz: der Unterschied nicht etwa nur außerhalb des Vertrauten verorten. Das Fremde existiert auch in dem Bereich, in dem man es am wenigsten erwartet: Im Vertrauen nämlich. Dabei muss man noch nicht einmal an die Debatte über Globalisierung, Migration o.ä. denken.

Wer in einer Partnerschaft lebt, weiß, wovon ich rede. Da merkt man, wenn man sich im Laufe der Jahre keine emotionale Hornhaut gegen jegliche Irritation angelegt hat (oft eine Ausgeburt pseudoharmonischer, konfliktvermeidender Beziehungsmythologien), dass Partner fast täglich Unberechenbares hervorzubringen imstande sind. Das kann bei dem nichtauffindbaren Joghurt (nein, gerade eben nicht im Kühlschrank!) losgehen und sich über die Themen Geld (wer gibt wofür, wann, wieviel aus und wer verdient es?), Sex (wann, wie oft, wie, womit, mit wem, ohne wen?) bis hin zu plötzlich neu gestalteten Wohn-, Schlaf-, Bade-, und Arbeitszimmern ausdehnen, von neuen Frisuren und Outfits ganz zu schweigen – um nur die harmlosesten Überraschungen zu nennen.

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Rudolf Klein

Spätestens dann dämmert einem, dass das Fremde der Normalfall ist und man nur deshalb nicht daran denkt, weil man sich durch die unhinterfragte Idee und Wortwahl des „Vertrauten“ im Gegensatz zum „Fremden“ selber in die Irre geführt hat.

So lange man über solche Unterschiede staunen, sie mit Ruhe hinnehmen, sich über neue neuronale Verschaltungsoptionen freuen und man über die Unterschiede und das Fremde meinetwegen auch debattieren, streiten und Konflikte austragen kann, ist die Sache relativ okay. Ja, es kann sogar eine Quelle der Inspiration und Kreativität sein.

Wenn nicht, wird es mindestens interessant, manchmal sogar riskant: Dann erscheint der Partner nämlich im Laufe der Jahre immer unbekannter. Fremd sozusagen. Obwohl man ihn von Tag zu Tag länger kennt. Man hat, so erklären sich manche dieses Phänomen, möglicherweise den falschen Partner erwischt oder er hat sich im Laufe der Zeit negativ verändert.

Öfter wird die zweite Erklärungsvariante gewählt. Und spätestens jetzt sollte man den Partner wieder auf den richtigen Kurs zu bringen versuchen. Auf den eigenen richtigen Kurs, versteht sich. Dummerweise denkt der Partner oft auch so: Die wechselseitige Fremdheit wird zum Problem und soll dem Vertrauten wieder weichen.

Wenn man es einfach ausdrücken will, entsteht Fremdheit als Problem eigentlich nur aus zwei Gründen: Wenn die Idee geteilt wird, dass aus dem Fremden das Vertraute werden, Gleichheit also die Maxime menschlicher Beziehungen darstellen soll und diese Idee als wahres Wissen konzipiert wird. Oder anders ausgedrückt: Wenn eine Gleichheits- bzw. Vertrautheitsmythologie unhinterfragt geteilt wird. Das Fremde wird somit also nicht bekämpft, weil es anders ist (das wäre trivial), es wird bekämpft, weil es nicht so ist wie ich.

Obwohl es theoretisch klar ist, dass Gleichheit nicht herstellbar ist (Fremdheit und Ungleichheit sind der zu erwartende Fall), wird in der alltäglichen Beziehungsgestaltung die Egalisierung immer wieder gerne angestrebt. Das Fremde soll im Extremfall ausgetrieben werden und wird bekämpft: Mit gut zureden, mit pädagogisch ausgeklügelten Strategien, mit Paartherapien, mit Drohungen, Bestechungen und Erpressungen jeglicher Art.

Man ist dann intensiv damit beschäftigt, erste Vorkehrungen für das Begräbnis der Partnerschaft zu treffen. Manchmal geschieht dies dann leider im wörtlichen Sinne – zum Beispiel nach Gewalttaten, bei denen die empfundene Fremdheit und Ungleichheit des Partners so groß erlebt wird, dass sie mit gewalttätigen Mitteln in Richtung Vertrautheit und Gleichheit verändert werden soll.

Vielleicht besteht die Herausforderung darin, eher mit der Unterscheidung zu operieren, im Vertrauten das Fremde und im Fremden das Vertraute aufzuspüren ohne dabei eigene Positionierungen sofort aufgeben zu müssen und ohne bereits vorab wissend vorzugeben, was man für die richtige Entscheidung hält. Und vielleicht ist es sinnvoller, angesichts des unvermeidlich Fremden im Vertrauten und des Vertrauten im Fremden das Staunen, die Neugierde am Anderssein zu entdecken und weniger von der Überlegung sich leiten zu lassen, wie man am besten, schnellsten und effektivsten Vertrautheit herstellen kann – mit allen gewünschten und unerwünschten Nebenwirkungen.

Und während ich das so schreibe, fällt mir mal wieder ein Zitat von Philip Roth ein, das mich seit Jahren begleitet. Er schreibt in seinem Buch „Der menschliche Makel“: „Mit „Jeder weiß“ ruft man das Klischee an und beginnt mit der Banalisierung der Erfahrung, und das eigentlich Unerträgliche sind die Feierlichkeit und das Gefühl der Autorität, mit der die Leute das Klischee aussprechen. Wir wissen nur, dass auf individuelle Weise niemand irgend etwas weiß. Man kann gar nichts wissen. Die Dinge, von denen man weiß, dass man sie nicht weiß. Absicht? Motiv? Folge? Bedeutung? Was wir nicht wissen, ist erstaunlich. Noch erstaunlicher ist, was wir als Wissen betrachten.“ (S. 235)

12. Dezember 2016
von Tom Levold
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Bernd Schmid wird 70!

Heute feiert Bernd Schmid seinen 70. Geburtstag, zu dem systemagazin herzlich gratuliert. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und promovierte in Erziehungswissenschaften und Psychologie. 1984  gründete er das Institut für systemische Beratung in Wiesloch, das seitdem zahllose systemische BeraterInnen weitergebildet hat. Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind seit Jahren die Auseinandersetzung mit Fragen einer Systemischen Lern-, Professions-, und Organisationskultur und die Arbeit mit Intuition, Träumen und inneren Bildern. Er ist Ehrenmitglied der Systemischen Gesellschaft, Lehrtrainer der internationalen Transaktionsanalytischen Gesellschaft sowie anderer Gesellschaften im Bereich Psychotherapie, Coaching, Supervision, systemische Beratung sowie Organisations- und Personalentwicklung. Darüber hinaus war er Mitgründer und Vorsitzender des Präsidiums des Deutschen Bundesverband Coaching DBVC sowie Gründer und langjähriger Vorsitzender der Gesellschaft für Weiterbildung und Supervision GWS. Viele seiner zahlreichen Veröffentlichungen stehen ebenso wie Videos seiner praktischen Arbeit auf der website des isb zum kostenfreien Download zur Verfügung. Nach seinem 70. Geburtstag und dem nur wenige Tage später zu feiernden über 40jährigen Berufsjubiläum will sich Bernd Schmid aus dem aktiven Berufsleben weitgehend zurückziehen – was nicht bedeuten soll, dass er seine Erfahrungen in Zukunft nicht mehr weiter zur Verfügung stellen würde. Dass dafür seine Energie und Schaffenskraft ungebrochen anhält, wünschen wir ihm von Herzen!

 

12. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: zoon politicon und die Sprachverwirrung

12adventBernd Schmid, Wiesloch: zoon politicon und die Sprachverwirrung

Als Berater arbeitete ich seit 1987 auch an Projekten in der Sowjetunion. Welche Bedeutung neben guten Beratern gute Dolmetscher hatten, wurde uns erst im Rahmen dieser Projekte klar. Zuerst hatten wir zum Glück einen ehemaligen österreichischen Regierungsdolmetscher, der offenbar für unsere oft unbedachten Äußerungen die richtigen Worte fand. Dann gab es aber auch schwierigere Szenen. Auch aus Kostengründen griffen wir auf Werksangehörige unserer russischen Partner zurück. Sie hatten im Geschäft

Bernd Schmid

Bernd Schmid

mit der DDR Deutsch gelernt. Im Rahmen eines Referats, das ich in Orsk im Südural hielt, erwähnte ich den von Aristoteles geprägten Begriff zoon politicon. Da fiel der Dolmetscher aus seiner Rolle und weigerte sich schlichtweg zu übersetzen. Stattdessen stellte er mich aufgebracht zur Rede, warum ich von russischen Menschen als Tiere sprechen wollte. Meine Versuche, ihm zu erklären, wie der Begriff gemeint war, blieben fruchtlos. Schließlich blieb mir nichts Anderes übrig, als ihm eine klare Anweisung zu geben, dass er das bitte einfach übersetzen sollte. Das wirkte sofort und ich konnte fortfahren. Allerdings ging mir noch nach, dass ich auf solche Gehorsam-Reflexe zurückgreifen musste.

Ein andermal beriet ich den Generaldirektor in einem Vier-Augen-Gespräch, das wegen der dolmetschenden Mitarbeiterin eben unter sechs Augen stattfand. Es ließ sich ganz gut an, doch bemerkte ich zunehmende Zurückhaltung bei meinem Gegenüber, die ich mir zunächst nicht erklären konnte. Doch fiel mir auch auf, dass die Übersetzungen immer länger dauerten und die Stimme der Dolmetscherin immer dringlicher wirkte. Irgendwann wurde mir klar, was lief und ich stellte sie zur Rede. Sie gab zu, dass sie toll gefunden hat, dass man mit dem Generaldirektor mal ein offenes Wort sprechen konnte, und ihm daher kräftig ihr eigenes Feedback an ihn in die Übersetzungen eingebaut hatte. Zum Glück hatten ich bereits ein Vertrauensverhältnis mit dem Direktor, so dass wir mit einem anderen Dolmetscher noch einmal ansetzen konnten.

11. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Manchmal wäre ich gerne ein Fuchs

11adventDörte Foertsch, Berlin: Manchmal wäre ich gerne ein Fuchs

Fremd sein, um einen Grund zu haben, sich vertraut miteinander zu machen, das wäre eine heilsame Idee. Manchmal wird mir Angst und Bange, wenn ich die Nachrichten lese oder schaue und realisiere, wie mit unseren Fremdheitsgefühlen umgegangen und Politik gemacht wird.

Eigentlich mag ich es auch, selbst anderen zunächst fremd zu bleiben, um Neugierde zu wecken. Es sind nicht nur die Anderen, die mir fremd sind, ich gehöre zu Menschen, die anderen ebenso fremd ist. Es gab mal ein schönes Plakat, mit der Aufschrift, Ausländer sind wir alle, nur nicht im eigenen Land.

Mir fiel bei dem diesjährigen Thema die Begegnung zwischen dem Fuchs und dem kleinen Prinzen ein, die Geschichte von Antoine de Saint Exupery ist bekannt. Ein Ausschnitt aus dem Dialog:

„Guten Tag, sagte der Fuchs. Guten Tag, antwortete der kleine Prinz höflich… Ich bin hier, sagte die Stimme unterm Apfelbaum. Wer bist Du? fragte der kleine Prinz… Ich bin ein Fuchs, sagte der Fuchs. Komm und spiel mit mir… ich bin so traurig. Ich kann nicht mit Dir spielen, sagte der Fuchs, ich bin nicht gezähmt … Was bedeutet zähmen? … Das wird oft ganz vernachlässigt, es bedeutet sich vertraut miteinander zu machen. Vertraut machen? Natürlich, sagte der Fuchs, Du bist für mich nur ein kleiner Junge… Ich brauche Dich nicht und Du brauchst mich auch nicht, ich bin für Dich nur ein Fuchs unter hunderttausenden von Füchsen. Aber wenn Du mich zähmst, dann werden wir einander brauchen, Du wirst für mich einzigartig sein und ich werde für Dich einzigartig sein… Man versteht nur die Dinge die man zähmt, sagte der Fuchs… Was muss ich machen? sagte der kleine Prinz. Du musst sehr geduldig sein, sagte der Fuchs. Du wirst

Dörte Foertsch

Dörte Foertsch

Dich … mit einem kleinen Abstand zu mir ins Gras setzen, ich werde Dich aus den Augenwinkeln anschauen und Du wirst schweigen. Sprache ist eine große Quelle für Missverständnisse, aber jeden Tag setzt Du Dich ein wenig näher…“ Wie die Geschichte weitergeht ist bekannt und viel gelesen.

Als Kind fand ich das Wort „zähmen“ merkwürdig und altmodisch, es beinhaltet in unserem Verständnis eine Einseitigkeit in Bezug darauf, wer denn wen „zähmen“ sollte. So geht es mir allerdings auch mit dem Fremdsein. Genau genommen ist es wie in allen Beziehungen etwas Gegenseitiges, leider erlebe ich es zur Zeit aber eher nur einseitig – denn da sind die Fremden und da bin ich. Das ist auf Dauer keine gute Unterscheidung, wenn wir in Deutschland darauf zusteuern, in den nächsten Jahren ein Land zu entwickeln, in dem Flüchtlinge leben werden.

Eine kleine Adventsgeschichte dazu. In der letzten Woche kam eine iranische Mutter mit ihrem zwölfjährigen Sohn, der bitterlich weinte und gar nicht mehr aufhören konnte. Was war passiert? Auf dem Weg zu mir waren die Beiden einer älteren Dame begegnet, die schwere Tüten mit Weihnachtseinkäufen trug. Der Junge war zu ihr hingelaufen um ihr die Tüten abzunehmen, denn im Iran ist es eine unausgesprochene Selbstverständlichkeit, dass jüngere Menschen den Älteren immer die schweren Dinge abnehmen, um ihnen zu helfen. Ein kurzer Blick signalisiert „ich helfe Dir“. Die Dame hatte den Jungen allerdings ganz anders wahrgenommen. Sie beschimpfte ihn als Dieb, wollte die Polizei rufen und beschimpfte die Mutter, welch unerzogenen Sohn sie hätte. Die Geschichte kann für sich sprechen. Aber sie zeigt auch welch Herausforderung es ist, sich miteinander vertraut zu machen.

10. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Das Fremde

10adventPeter Fuchs, Soest: Das Fremde

Sie hatte schon während der Schwangerschaft bemerkt, dass zwischen den Beschreibungen des Schwangerschaftsglückes und ihrem Erleben ein Riss verlief.

Einerseits war manches so, wie es ihr gesagt worden war, leichte Übelkeiten beispielweise, aber ausgleichenderweise auch eine hohe soziale Beachtung, die Neigung in der Umwelt etwa, darauf zu warten, dass sie besondere Gelüste entwickele, was sie dann vorsichtshalber tat (sie kaprizierte sich auf Hähnchen und Sauerkrautsalat).

Andererseits war die ganze Angelegenheit, wie sie sich in einem Winkel ihres Kopfes flüchtig eingestand, ziemlich gewöhnlich. Sie wurde von innen her langsam aufgepumpt, sah bald aus (da sie sehr kantig war), als ob sie einen Fußball verschluckt hätte, der mehr und mehr zu einem Medizinball hinüberschwoll. Ihre Eltern und die Schwiegereltern freuten sich, Joseph war ein Überbehüter, alles bestens, und doch war ihr so, dass sie etwas Fremdes ausbrütete, dass sie ein Körper war, in dem etwas ausgebrütet würde, das sie kurioserweise mit einer Unfarbe verband, es war in ihren lose gleitenden Phantasien pechschwarz, außerdem schmierig und unsagbar fremd.

Ja, wenn es so etwas gab wie einen Ekel nach innen, so hatte sie ihn, wie sie sich ungern erinnerte, gehabt, so dass die Geburt, deren Schmerz sie ohne Furcht erwartete, wie eine Befreiung war – weswegen sie dann auch ganz erlöst gestrahlt hatte, als alles überstanden war und Joseph, der selbstverständlich der Geburt beigewohnt hatte, sie geküsst hatte, seinerseits strahlend, weil Zwillinge, das war schon was. Und sie waren keineswegs unfarbig, sondern wunderhübsch, pausbäckig, blauäugig und ganz und gar unproblematisch in den ersten Wochen und Monaten.

Peter Fuchs (Foto: Tom Levold)

Peter Fuchs
(Foto: Tom Levold)

Eine perfekte Mutter, da konnte ihr niemand etwas vorwerfen. Joseph hatte keinerlei Mühen und Ärgernisse mit den Kindern. Vera war immerzu für sie da. Es mangelte den Kindern an nichts, soweit sie es überblicken konnte, wiewohl sie mit einem gleichsam erblassenden Herzen registrierte, dass ihre Mutter eine seltsame Besorgnis signalisierte, irgendwie nicht einverstanden war mit dem, was sie tat, und ihr Vater, der weniger zurückhaltend war, sagte dann auch irgendwann: “Du knubbelst die Kinder ja gar nicht! Kinder muss man doch knubbeln…” Und er nahm die Zwillinge, schmiss sie durch die Lüfte, dass sie quietschten wie Ferkel, die abgestochen werden.

Beinahe war es so nach diesem Vorfall, dass die alte Phantasie des pechschwarz und klebrig in ihr Heranwachsenden in verdünnter Weise wiedergekehrt war, als eine leichte Schwärzung der Luft, wie eine zarte Vergiftung, die es ihr unmöglich machte, die Kinder zu küssen. Sie tat es notgedrungen, doch putzte sie sich heimlich den Mund danach ab. Sie ertappte sich ferner dabei, dass sie nicht wie all die anderen Mütter etwas in den Mund stecken konnte, was die Kleinen schon im Mund gehabt hatten, oder dabei, dass sie es nicht vermochte, aus einem Teller mit ihnen zu essen. Sie hatte dennoch (sie spürte es genau) einen ungeheuer liebevollen Gesichtsausdruck, wenn sie die beiden ansah, ja, sie registrierte sogar etwas wie eine tiefgehende Ergriffenheit, wobei sie, wenn sie diese Rührung zu begreifen versuchte, darauf stieß, dass es die Rührung gegenüber unschuldigen Opfern war, nicht die sentimentale Glückstrunkenheit angesichts gesunder, heranwachsender Kinder.

Sie konnte sich nicht verhehlen, dass sie keinen Zusammenhang zwischen sich und den Zwillingen fühlte. Sie waren in gewisser Weise weit weg, glucksende, prachtvoll genährte, blitzsaubere Kinder, auf die sie aufpasste (es durfte ihnen kein Leid geschehen) und die von Joseph und von allen möglichen Leuten vergöttert wurden. Ja, fast verspürte sie eine gewisse Genugtuung, wenn sie den Riss zwischen sich und den Zwillingen bedachte, der für all die anderen (mit Ausnahme ihrer Eltern, die es aber wohl nicht so ernst gemeint hatten) unsichtbar war, Ausdruck einer geheimen Fremdheit zwischen ihr und den Kindern, die (wie sich von selbst versteht) nicht von den Kindern ausging, von denen sie allem Anschein nach fast wie verrückt geliebt wurde, so sehr, dass man vermeinen konnte, ihr Leben bestünde darin, ihr zu zeigen, wie sehr sie geliebt wurde.

Die Zwillinge taten, was sie konnten, sie entzückten die Umwelt und bemühten sich, niemandem, vor allem aber der Mutter nicht, irgendeinen Schmerz beizufügen, der aber doch die Luft, die sie atmeten, unstörbar bewohnte.

9. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Fremdheit in Nähe verwandeln

9adventDennis Gildehaus, Bad Zwischenahn: Fremdheit in Nähe verwandeln

Innerhalb der letzten Monate sind in unserem kleinen niedersächsischen Ort Bad Zwischenahn (Niedersachsen) ca. 600 Flüchtlinge aufgenommen worden. Darunter vor allem viele unbegleitete Minderjährige, die besonders starken Belastungen ausgesetzt waren. Die Kinder und Jugendlichen mussten zum Teil den Verlust ihres Landes und ihrer Eltern allein bewältigen, die erlebten Traumatisierungen verarbeiten und sich darüber hinaus den neuen sozialen Beziehungen und unbekannten soziokulturellen Normen stellen.

Die Unterbringungsmodalitäten in Flüchtlingsheimen außerhalb des Ortskerns blockierten eher die Kontaktanbahnung und führten vor allem zu Unsicherheit und Skepsis auf beiden Seiten. Die Kinder und Jugendlichen aus Bad Zwischenahn waren einerseits sehr aufgeschlossen, Fremdheit in Nähe wandeln zu wollen und andererseits wurde diese Motivation durch Vorurteile der Erwachsenen wieder konterkariert.

Nach mehreren Wochen bewegten sich sukzessive immer mehr Kinder und Jugendliche außerhalb der Flüchtlingsunterkunft, um Bad Zwischenahn näher kennenzulernen. Schnell entdeckten sie auch das gut besuchte und meines Erachtens vor allem systemisch-pädagogische Jugendzentrum „Stellwerk“ und die dazugehörige Skateboardanlage. In dieser Einrichtung habe ich vor mehr als 15 Jahren mein Anerkennungspraktikum als Pädagoge gemacht.

gildehaus-dennisIn meiner heutigen psychotherapeutischen Praxis komme ich mit Flüchtlingen kaum in Kontakt und so hatte ich mich entschieden, eine durchaus vorhandene Fremdheit mit einem mir vertrauten Medium aufzulösen. Dies vor dem Hintergrund des Vereins „skate-aid e.V.“ Dieser Verein fördert mit der pädagogischen Kraft des Skateboards Selbstvertrauen, Gemeinschaftsbewusstsein, Eigenverantwortung und Zielstrebigkeit von Kindern und Jugendlichen und ihre freie Entfaltung – unabhängig von sozialer Herkunft, Ethnie, Sprache, Religion, Nationalität oder Kultur. Da ich bis 2001 Skateboard-Profi war, hatte ich als Erinnerung mehrere „Boards“ aufbewahrt. Auch wenn ich mit meinen 39 Jahren nicht mehr der eleganteste Praktiker bin, sind in meinem inneren Erlebnisrepertoire jedoch viele Tricks gespeichert, die durch imaginative Regressionen gut abrufbar sind.

An sonnigen bzw. trockenen Wochenenden treffen sich auf der Skateboardanlage in Bad Zwischenahn viele minderjährige Flüchtlinge, um Ablenkung zu finden von all ihren Erfahrungen der letzten Wochen, Monate und Jahre. Als Beobachter fiel mir auf, dass sie eher zurückhaltend und reserviert zuschauten und nicht aktiv den Kontakt zu den deutschen und deutsch-türkischen Kindern und Jugendlichen suchten. Die Barrieren bestanden nicht alleine in ihren fremden Sprachen, sondern auch auch in der Gestik, Mimik und Körperhaltung der Flüchtlinge. Sie waren eben äußerlich nicht so aufgeschlossen lustig, laut und schnell im Tempo.

Vorteilhaft war jedoch, dass oft auch Kinder und Jugendliche auf der Anlage waren, die als Dolmetscher gerne ihre Hilfe bei Bedarf anboten – also eine sehr soziale, sportliche Begegnung 2.0.

Für mich war es eine Herzensangelegenheit, denn die Kinder und Jugendlichen können über diesen Sport traumatische Erinnerungen abbauen, über Wünsche und Bedürfnisse kommunizieren, Emotionen zeigen, wieder Humor empfinden, sich physisch wieder spüren. Sport ermöglicht ihnen hypnoimaginativ Anschluss an ihre Welt vor der Flucht herzustellen und wieder einen Kontakt zu ihren Wurzeln zu bekommen, den ich „sportlich-therapeutisch“ begleiten konnte.

So nutze ich das Skateboard beispielsweise zur Zeitstrahlarbeit 2.0 auf der gesamten Anlage. Mit bunter Kreide zogen wir eine Linie von A nach B, die mit Symbolen (Jacken, Dosen, Spielzeuge etc.) und Bildern (Geburt, Schule, Familie, Haus bzw. Wohnung etc.) verknüpft war. Die Kinder und Jugendlichen beschrieben in ihrer Art ihren eigenen Weg, indem sie mit dem Skateboard ihre eigene „Landschaft“ befuhren und auf allen Sinneskanälen erlebten. Einstreuen ließen sich während dieser Übung auch immer wieder Fragen nach Ressourcen und bisherigen Lösungsversuchen – auch die der Angehörigen.

Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei Arist von Schlippe, Mohammed El Hachimi und Gesa Jürgens bedanken. Ihre Veröffentlichungen im multikulturellen Feld haben mir in jeglicher Hinsicht die Türen zu unbekannten Systemen geöffnet.

8. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Fremdeln im Phasenübergang

Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach: Fremdeln im Phasenübergang

8adventEine Geschichte aus dem Frühjahr 1987. Keine große Sache. Interessant nur im Nachhinein. Mit dem Wissen von heute. Ich bin mit einem Freund für eine Woche in Ägypten. Herbert und ich wollen auf eigene Faust etwas sehen von Land und Leuten. Wir geraten in die letzte Woche eines Wahlkampfs.

Mohammed war vor Jahren Offizier in der Armee, jetzt ist er freiberuflicher Fremdenführer und sucht sich seine Kundschaft. Er hatte uns gesagt, dass bei dieser Wahl zum ersten Mal eine fundamentale islamistische Partei zugelassen sei. Auf dem Weg nach Memphis begegnen wir einer kleinen Demonstration von Anhängern dieser Partei. Mit lautem Rufen und Fahnen und Transparenten ziehen sie eine ländliche Straße entlang. Sie lachen und winken uns zu. Mein Bart, damals noch schwarz und lang, der sei es, sagt Mohammed. Sie hielten mich für einen der ihren. Wir finden das lustig. Wie die Sache am Museum, „Rich man!“, hatte der Alte gesagt, als er mir in den Bart griff, „oh a rich man!“, mir sollte es recht sein.

Wir fahren mit der Bahn nach Luxor, allein, ohne Mohammed. In der abendlichen Teestunde, zum Ausklang des Tages auf dem Trottoir vor einem kleinen Restaurant in der Nähe des Tempels spüren wir einer Stimmung nach, die sich da einstellt. Wie wird das werden im Land, was wird politisch passieren? Wir haben die Ereignisse im Iran im Kopf, Chomeinis Revolution und wir sinnieren über mögliche Auswirkungen in den arabischen Ländern. Was ist, wenn das auch hier durchschlägt? Immer wieder begegnen uns Männer mit Flinten über der Schulter. Folklore, so wirkt das, die Männer mit ihren Flinten in den langen Gewändern. Dass das täuscht, wissen wir selbst. Kein rheinischer Schützenverein. Einige Male spielen wir durch, wie das wohl ist, wenn der Funken überspringt. Das Leben auf der Straße scheint wie gewohnt, buntes Treiben, ohne Hast. In der Supermarktgarage gegenüber grelles Neonlicht, das Geschäft läuft. Im Bäckerladen gibt es frische Fladen. Drei Jungen, ihre langen Gewänder um die Knie geschlungen und noch ohne Kopfbedeckung, haben sich etwas abseits von uns niedergehockt, schauen auf die andere Straßenseite. Verschleierte Frauen in Schwarz balancieren knallbunte Einkaufskörbe aus Plastik auf dem Kopf. Alles friedlich, wie immer, normal offenbar. Und doch bemerken wir unsere Unruhe. Nicht, dass wir uns ernsthaft unsicher fühlen, doch etwas ist anders. Weiterlesen →

7. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Ähnlichkeit der Vielfalt

Iris Kuchta, Düsseldorf: Ähnlichkeit der Vielfalt

7adventIm Rahmen meiner Arbeit als Lehrerin an einer Grundschule leiste ich einen Beitrag, dass die Seiteneinsteiger-Schüler (Flüchtlingskinder) bereit sind, sich mit einer fremden Sprache, einem fremden Inhalt und Kontext auseinanderzusetzen. Dazu gehe ich den ersten Schritt auf sie zu. Ich gehe freundlich mit Gesten, Mimik und Worten auf sie zu. Ich lade sie ein mit mir in Beziehung zu treten, ihr neues Klassenzimmer zu entdecken und sich mit dessen Gegenständen vertraut zu machen und biete Spielräume; neue Lerninhalte zu entdecken. Dabei geht es ganz häufig darum mit dem Fremden und teilweise Befremdlichen zu kooperieren. Dies gilt sowohl für die Schüler untereinander als auch mit mir.

Wir sind uns zunächst als Menschen fremd. In größeren Gruppen spricht oftmals jeder eine eigene, andere Sprache. Musik hilft zur Überbrückung der anfänglichen Sprachlosigkeit im Sinne von einer Art fehlendem Übersetzungsprogramm. Feste, verlässliche Rituale – wie unser internationales Begrüßungslied und unsere Vorstellungsrunden – stecken einen sicheren Rahmen ab. Mit Musik gelingt es leichter unsere Bewegungen miteinander zu koordinieren, Sprache dient dann eher als Hintergrundfolie z.B. wenn wir unser links-rechts Lied hören und uns dazu bewegen. Der Rhythmus ist universal erlebbar, gegenseitiges Beobachten, Vormachen, Nachahmen fällt mit Musik leicht.

Jedes Kind erhält einen Platz in unserer Runde sowie Mitspracherecht und Anteilnahme. Wertschätzung, aber auch Emotionen wie Anspannung, Angst, Unsicherheit, Unbehagen, welche durch Unvertrautes ausgelöst werden können, erhalten hier ihren Raum. Denn sich mit dem Fremden auseinanderzusetzen heißt, das Risiko eingehen, eigene Denk- und Verhaltensweisen, seine Interessen zu hinterfragen. Bezogen auf die neue Sprache bedeutet es, sich in eine unbekannte, anfangs unverständliche Sprachmelodie einzuhören. Unbefangen mit den fremden Lauten umzugehen, Wortgrenzen zu erkennen, Buchstaben kennenzulernen und einen Wortschatz aufzubauen. Eine neue Sprache wird leichter gelernt, wenn zuvor bereits eine Muttersprache gelernt und gefestigt ist. Was das Sprachlernen betrifft arbeiten wir integriert: Wir kombinieren Musik, motorische Übungen, trainieren die Sprachmelodie, führen Buchstaben und einen neuen Wortschatz ein und legen grammatische Strukturen an. Zunächst entsteht ein sich herantastender Suchprozess. Einzelne Worte oder Sätze werden als Erstes erlernt. (Chunks wie: „Darf ich auf die Toilette gehen?“ oder „das Heft, der Stift“ etc.) Rituale geben Halt und eröffnen zugleich Sprechanlässe. Voller Herzlichkeit präsent sein und Freiräume gönnen können, erscheint mir wichtig zu sein. Das erfordert eine gegenseitige Anstrengung im Bemühen aufeinander zuzugehen und Kommuni-kationskompetenz (in beide Richtungen) zu erlangen und Orientierungswissen zu erwerben. Allerdings gibt es keine Gelingensgarantie. Wir können aber Anerkennung vermitteln. Weiterlesen →

6. Dezember 2016
von Tom Levold
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Klaus G. Deissler wird 65!

Heute feiert Klaus G. Deissler seinen 65. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen. Als wir uns kennen lernten, 1980 auf der DAF-Tagung in Erlangen, waren wir beide noch keine 30 Jahre alt. Als jemand, der von Beginn an den Wandel von der familientherapeutischen Bewegung zur Systemischen Therapie nicht nur miterlebt, sondern auch initiiert hat, hat Klaus Deissler einiges zur Geschichte der Systemischen Therapie in Deutschland beigetragen. Von 1979 bis 1982 war er Gründungs- und Mitherausgeber der Zeitschrift Kontext, die seit 2000 von der DGSF getragen wird. 1982 richtete er in Marburg die DAF-Tagung aus, bei der Helm Stierlin den Eröffnungsvortrag hielt und erstmals US-amerikanische KollegInnen ihre Konzepte auch einem deutschen Fachpublikum vorstellten. Mit dieser Tagung hat er Geschichte geschrieben, sie führte zu einem innerverbandlichen, notwendigen Eklat und polarisierte das familientherapeutische Feld – waren doch dazumal die Positionen der Richter-Gruppe in Gießen dominant: keine Professionalisierung, keine institutionalisierte Weiterbildung, stattdessen Regionalgruppen nach dem Selbsthilfegruppen-Prinzip. Klaus Deissler hat der anstehenden Professionalisierung des systemischen Feldes eine erste Tür geöffnet – und musste dafür jede Menge Gegenwind aushalten (Als blutjunges DAF-Mitglied wurde ich gewählt, um die nachfolgenden Konflikte zwischen Verband und Organisationsgruppe zu moderieren, was für ein Einstieg in die familientherapeutische Szene 🙂 ).

Aus der Ferne konnte ich immer nur einen Teil von Klaus‘ Aktivitäten verfolgen. Angepasst hat er sich nie, trotz seiner freundlichen und positiven Art war er immer auch für Konflikte und klare Positionierungen gut. In den 80er Jahren gehörte er zu den Mitbegründern der IGST in Heidelberg, von der er sich bald wieder trennte, um seiner eigenen Wege zu gehen. 1992 übernahm er von Jürgen Hargens die Herausgeberschaft der Zeitschrift für systemische Beratung und Therapie, die er bis 2009 innehatte, und leitete auch hier eine deutliche Wende ein, indem er ihr ein klares sozialkonstruktionistisches Profil verpasste – auch hier hat er weniger eine integrative Haltung eingenommen, sondern stattdessen einer wichtigen Position (unter anderen) im systemischen Feld eine deutliche Stimme gegeben. Wie nur wenige andere steht er hierzulande für eine dialogische sozialkonstruktionistische Perspektive ein, im Mainstream steht er dabei nicht – und kann das auch gut aushalten.

Was mich immer sehr beeindruckt hat, war sein systemisches Engagement (gerade vor seiner Geschichte als alter Linker) in den ehemaligen sozialistischen Ländern, bevor der Export systemischen Gedankenguts im systemischen Feld schick wurde. Schon sehr früh hat er sich intensiv (und praktisch ehrenamtlich) dem Austausch mit KollegInnen aus und der Weiterverbreitung systemischer Konzepte in diesen Ländern gewidmet, noch vor der Wende, als all das leichter wurde. Viele seiner Aktivitäten u.a. in Polen und Kuba haben dort KollegInnen inspiriert und ermutigt. 2015 erhielt er die Ehrenmitgliedschaft der Psychiatrischen Gesellschaft Kuba, wo er von 1999 bis 2014 in Havanna eine Gastprofessur an der Universitätsklinik ausübte.

1993 haben wir gemeinsam mit anderen Instituten in Köln die Systemische Gesellschaft gegründet, auch das ist mittlerweile schon ziemlich lange her.

Lieber Klaus, zum runden Geburtstag alles Gute, bleibe uns mit Deiner Perspektive erhalten, sie würde im systemischen Chor sehr fehlen. Alles Gute und viel Glück, Erfolg und Gesundheit für die folgenden Jahre wünscht Dir mit anderen Gratulanten

Tom Levold
Herausgeber systemagazin  Weiterlesen →

6. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Das Fremde am eigenen Kind entdecken

Hans Lieb, Edenkoben: Das Fremde am eigenen Kind entdecken

6adventEine Klientin erzieht ihr dreijähriges Kind alleine. Sie hat ziemlich aversive Gefühle gegenüber dessen Vater, von dem sie schon länger getrennt lebt. Dieser hat gerichtlich das Umgangsrecht mit seiner Tochter erstritten. Die Patientin sieht in der Begegnung zwischen Tochter und Vater eine Belastung und auch eine  Beschädigung für das Kind. Nun übernachtet dieses – gerichtlich erzwungen – regelmäßig beim Vater.

Wenn es dann zu ihr zurückkommt,  gibt es jedes mal zwei Probleme: zum einen verhalte sich das Kind ihr gegenüber schwierig bis ablehnend.Zum anderen sehe und vor allem rieche sie am Kind den Vater (zum Beispiel den Geruch seiner Wohnung) worauf sie emotional und physiologisch stark reagiere. In den 2 bis 3 Stunden nach Rückkehr des Kindes vom Vater  sei es einfach „nicht mein Kind“.

Natürlich hat sie in früheren Beratungen und auch in der jetzigen Therapie die Hintergründe reflektiert und ist zig mal mit der Aussage konfrontiert worden, sie projizierte ihre eigenen Probleme auf das Kind und für dieses sei nun mal ein Kontakt zum Vater wichtig. Das alles wisse sie – aber mit derartigen Belehrungen läßt sich in der Arbeit mit dieser Patientin nicht viel Land gewinnen.

Hans Lieb

Hans Lieb

In der letzten Sitzung fragt sie: Wie kann ich damit umgehen, wenn das Kind vom Vater kommt? Nebst anderem hat ihr folgende Metapher oder Lösung am besten gefallen und sie meinte, das könne sie gut anwenden: Wir sind metaphorisch von der Situation ausgegangen, man sei in einem anderen Land und begegne zum Beispiel unguten Gerüchen (etwa von Speisen, die den Menschen dort schmecken und vielleicht sogar mir irgendwann schmecken könnten). Die Frage war nun : wie kann man gut mit solchen fremden und zunächst unangenehmen Gerüchen umgehen lernen? Ihre eigene Antwort war: Man müsse neugierig sein, die Dinge ansehen und beschnuppern und so das Land und dessen Eigenarten kennenlernen.

Wir haben das dann auf die Situation mit ihrem Kind, das vom Vater kommt, angewandt: Wenn das Kind dann zunächst nicht so richtig „ihres“ sei, weil etwas Fremdes an ihr hänge ( ein ‚vaterkontaminiertes’ Kind), dann gelte es vielleicht, dieses „andersartige“ Kind neugierig wie etwas fremdes kennen zu lernen.

Mit dieser Vision sah sie der nächsten diesbezüglichen Situation relativ gelassen entgegen: Die Abneigung, die Ohnmachtsgefühle und alles, was damit zusammenhängt, könne dann einer neugierigen Beobachterposition weichen. Das wolle sie versuchen.

(Die Klientin wurde um Zustimmung zur Veröffentlichung dieser Geschichte gebeten und war damit einverstanden, herzlichen Dank auch dafür).

5. Dezember 2016
von Tom Levold
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„Das tun, was funktioniert“

Heute würde Milton Erickson seinen 115. Geburtstag feiern. Grund genug, an dieser Stelle auf einen Autor zu verweisen, der in der Tradition von Erickson steht und arbeitet: Bernhard Trenkle. Für sein neues Buch „3 Bonbons für 5 Jungs – strategische Hypnotherapie in Fallbeispielen und Geschichten“ hat ihn Margarethe Seul-McGee vom Carl-Auer-Verlag interviewt:

Carl-Auer: Lieber Herr Trenkle, Ihr neues Buch „3 Bonbons für 5 Jungs – strategische Hypnotherapie in Fallbeispielen und Geschichten“ ist – bei aller erzählerischen Verve – nicht ganz einfach zu verstehen. Mit dem Begriffspaar „strategische Hynotherapie“ im Untertitel stellen Sie sich sehr explizit in die Nachfolge von Milton Erickson. Im Vorwort aber zitieren Sie Ericksons Tochter Betty Alice, die den therapeutischen Ansatz ihres Vaters definierte als, „das zu tun, was funktioniert“. Wie passen Strategie und Pragmatismus (oder Utilisation?) zusammen? Liegt darin im langläufigen Verständnis nicht ein gewisser Widerspruch?

Bernhard Trenkle: Milton Erickson war gegen das Gründen von Therapieschulen. Erickson war auch gegen das Gründen eines Erickson’schen Ansatzes. Das ist vielleicht der Grund, warum es bei den Therapeuten, die sich auf Erickson berufen, so eine kreative Vielfalt von effektiven Ansätzen gibt. Erickson befürchtete, dass die Klienten durch zu viel Therapie-Schule in das Prokrustes-Bett einer Theorie gezwängt werden könnten.

Erickson plädiert also dafür, sehr flexibel in der Situation zu entscheiden, welcher therapeutische Ansatz in der jeweiligen Situation angebracht ist. Von daher sind natürlich auch immer „strategische“ Entscheidungen nötig. Zum Beispiel die Entscheidung: Ist Hypnose angebracht oder eine andere Form von Therapie? Das habe ich hauptsächlich im Kapitel über die „Ordeal-Therapie“ thematisiert. Das dahinterliegende Hauptkonzept von Erickson ist Utilisation, das heißt, es wird versucht, alles inklusive der Pathologie für positive therapeutische Ziele zu nutzen.

Bernhard Trenkle

Bernhard Trenkle

Carl-Auer: Könnte man also sagen, Ericksons Strategie oder sein Konzept bestünde darin, sämtliche sich bietenden Eigenschaften, Ressourcen und selbst Aspekte der Störungsbilder eines Klienten einzubeziehen und für das therapeutische Ziel nutzbar zu machen? Setzt das nicht eine geradezu lauernd-beobachtende Distanziertheit des Therapeuten zum Klienten voraus?

Bernhard Trenkle: „Lauernd-beobachtend“ ist eine interessante Idee aus Ihrer journalistischen Perspektive. Wie wäre es, wenn wir das umformulieren in „wohlwollend-neugierige“ Haltung, um nützliche Potenziale für die Behandlungsziele des Klienten zu entdecken? Nossrat Peseschkian, der schon 1967 das erste Buch über Positive Psychotherapie geschrieben hat, beschreibt in einem seiner Bücher ein wunderbares Beispiel. Eine Klientin definierte sich selbst als frigide. Er antwortet: Sie sind nicht frigide. Sie haben die Fähigkeit, mit dem Körper Nein zu sagen. – Es ist dieser wohlwollend-neugierige Blick auf die positiven Potenziale und Anteile bei unseren Klienten, die die Erickson’sche Hypnotherapie auszeichnet und wovon wir auch Elemente in anderen Therapieansätzen finden.

Nun habe ich eine Gegenfrage. Wie würde unsere Welt aussehen, wenn auch die Mehrheit der Journalisten bei Interviews häufiger „wohlwollend-neugierig“ anstatt „lauernd-beobachtend“ unterwegs wären? In der Beantwortung dieser Frage habe ich mich z. B. strategisch entschieden, ein Beispiel eines Nichthypnotherapeuten zu bringen, und dann habe ich gleich noch die Möglichkeit gesehen, etwas zur Interviewführung zu sagen, was mich beim Fernsehschauen schon länger beschäftigt hat.

Das vollständige Interview können Sie hier lesen…

5. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Solang man heim kann…

Margret Omlin, Stans (Schweiz)

5adventZum Thema Ihres Adventskalenders „Fremd – Vertraut. Begegnungen mit der Fremdheit“ sende ich Ihnen ein Zitat von Franz Michael Felder (1839-1869), das fast so etwas wie eine paradoxe Intervention darstellt.

Fotografiert habe ich es am 4. Oktober 2014 auf der Fassadenscheibe des www.vorarlbergmuseum.at in Bregenz, das dem Vorarlberger Bauer, Rebell und Sozialreformer Franz Michael Felder zu dessen 175. Geburtstag eine wunderbare Ausstellung gewidmet hatte.

http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/felder-dichter-und-rebell-1.18391591

http://www.vorarlbergmuseum.at/fileadmin/user_upload/landesmuseum/Presse/Pressemappe_Ich_Felder_final_SF.pdf
solang-man-heim-kann-wenn-man-will_felder-bregenz_4-10-2014

Herzliche Grüsse aus der Schweiz,

Margret Omlin