systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

23. Dezember 2023
von Tom Levold
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systemagazin 2023 – 23. Lina Nagel

Zwei Welten, die Unterschiede machen – zu Weihnachten 

Passend zur Adventszeit und für eines dieser Kalendertürchen habe ich recherchiert, was Bateson wohl zu Weihnachten gesagt hat oder hätte. Geschenke, Rentier, Tannenbaum, Spekulatius – nichts dergleichen findet sich in den Schlagwortverzeichnissen seiner Hauptwerke. Umpf… 

Bei genauerem Hinschauen bin ich doch noch fündig geworden. Auch wenn nicht klar ist, ob er diese zu Weihnachten verschenken wollte, aber Bateson hat im Laufe seines Lebens zwei Kisten gepackt (1979, S. 14f) – und es spricht ja nichts dagegen, sie jetzt im Advent mal auszupacken. Auch wenn sich nur Beschreibungen und Probleme darin befinden; aber das ist ja zur Weihnachtszeit bekanntlich gar nichts so Ungewöhnliches.

Also Bateson hat zwei Kisten gepackt.

In die eine Kiste hat er „die Beschreibungen von Stöcken, Steinen und Billardkugeln“ (1979, S. 14) gesteckt. In die andere „Krebse, Menschen, Probleme der Schönheit und Probleme des Unterschieds“ (Ebd.). Jede dieser Kisten beinhaltet nun eine Welt: die erste die des Unbelebten, die zweite die des Lebendigen[1]. So weit – so gut. Und nun? Was macht das für einen Unterschied?

Ich denke an sein Beispiel mit dem Stein und dem Hund (Ebd., S. 126f): Ersterer fliegt auf einigermaßen vorhersehbare Weise, wenn wir ihn treten. Mit Stöcken und Billardkugeln wird es sich wohl ähnlich verhalten, je nach Talent und Übung. Anders der Hund – ob er jault, beißt oder auch fliegt, wenn wir ihn treten[2], wissen wir vorher nicht, da nützen auch Talent und Übung nichts. Mit Krebsen und Menschen wird es sich wohl ähnlich verhalten, aber Probleme der Schönheit und des Unterschieds treten? Hm… 

Jedenfalls scheint es wichtig zu sein, sich dieser zwei Welten bewusst zu sein, wie Watzlawick schreibt: 

„Wir müssen umdenken lernen. Wie das aussehen kann, dafür bietet uns Bertrand Russell einen sehr wichtigen und brauchbaren Hinweis. Er verweist darauf, daß ein häufiger Fehler in der Wissenschaft darin liege, zwei Sprachen zu vermengen, die streng voneinander getrennt sein müßten. Nämlich die Sprache, die sich auf die Objekte bezieht, und die, die sich auf Beziehungen bezieht. Ein Beispiel: wenn ich sage, dieser Apfel ist rot, dann habe ich in der Objektsprache eine Eigenschaft dieses Objektes Apfel bezeichnet. Sage ich dagegen, dieser Apfel ist größer als jener, dann habe ich eine Aussage über die Beziehung gemacht, die sich nicht mehr auf den einen oder den anderen Apfel zurückführen läßt. Die Eigenschaft des Größerseins kann nur in Bezug auf die Beziehung verstanden werden. Das ist so schwer zu begreifen. Unser beginnendes Verständnis der Eigenschaften von Beziehungen ist noch ein sehr rudimentäres und gibt uns bisher eigentlich mehr Rätsel auf als Erklärungen.“ (1992, S. 26f)

Ob Bateson diese rätselhaften Kisten wohl mal zu Weihnachten verschenkt hat? Dazu ist nichts überliefert. Für mich sind sie dennoch ein Geschenk.

Bateson, G. (1979). Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. (4. Auflage, 1984). Frankfurt: Suhrkamp.

Watzlawick, P. (1992). Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns. Wien: Picus.


[1] Diese zweite Kiste ist übrigens Inhalt seines Buches „Geist und Natur“ (1979). 

[2] Ich gehe nicht davon aus, dass Bateson das selbst ausprobiert hat oder es zu tun empfehlen würde.

22. Dezember 2023
von Tom Levold
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systemagazin 2023 – 22. Lothar Eder

„Die Erklärungswelt der Substanz
kann keine Unterschiede und keine Ideen
anführen, sondern nur Kräfte und Einflüsse.
Und umgekehrt führt die Welt der Form
und der Kommunikation keine Dinge, Kräfte
oder Einflüsse an, sondern nur
Unterschiede und Ideen. Ein Unterschied,
der einen Unterschied macht, ist eine Idee“
(Ökologie des Geistes, Suhrkamp 1981, stw 571, S. 353).


Der Akkusativ, der Dativ und die geistige Ökologie der Ökologie des Geistes

Unterschiede?

Weder in meinem persönlichen noch in meinem professionellen Erleben haben Unterschiede einen herausgehobenen Platz. Da gibt es Bindung oder Ungebundensein, da gibt es Freiheit oder Unfreiheit, da gibt es Wohlbefinden oder Missbehagen, Bedürfnisse, Gefühle wie Freude, Liebe, Trauer, Ärger, Angst oder Wut. Es gibt Licht und Dunkel, Schwere und Leichtigkeit. Und es gibt das Leben, be-seelte Existenz. Kein Stein ist wirklich tot, er ist Teil zyklischer Abläufe.
Da gibt es Jahreszeiten, expandierende oder zusammenziehende Kräfte, die auf die Seele wirken. Therapeutisch sind für mich Kategorien wie Bedürfnis, Mangel oder Fülle, Ladung und Entladung, Angst oder Sehnsucht, Kontraktion oder Extension bedeutsam. 
Menschen sind für mich Bindungswesen, die v.a. in ihren ersten Lebensjahren ein grundlegendes Bedürfnis nach Halt, Geborgenheit, körperlicher Nähe und Resonanz haben. 
Eine Theorie, die sich darauf nicht wesentlich bezieht, hat für mich wenig Anziehungskraft und Erklärungswert. 
Überhaupt: Theorie. Mehr als 99% ihres Existierens auf dieser Welt ist die Tierart Homo sapiens sapiens ohne Theorien in unserem heutigen Sinn ausgekommen. Theoria ist in der Antike eigentlich die Schau auf die Dinge. Der Beherrschungswille, der sich in der frühen Renaissance in Europa Bahn bricht, macht aus der kontemplativen Schau ein Instrumentarium der technischen Beherrschung. Die Ergebnisse dieses Wandels – Zerstörung der Natur und der Lebensgrundlagen des Menschen einschließlich seiner seelischen Integrität –  bringen mich zu dem Gedanken, dass der theoriefreie Teil der Evolution wohl der bei weitem erfolgreichere (und womöglich glücklichere) war.
Das kann einem zu denken geben. Vielleicht als Anregung zu einer kontemplativen Schau. Verbunden mit dem Impuls, das kontemplative Sinnen wieder mit der Lebenskunst zu verbinden, wie wir es sowohl aus der europäischen als auch aus der asiatischen Antike kennen. 

Der Akkusativ überwuchert den Dativ – vom andauernden Gemache

Genau genommen ist der Satz vom „Unterschied, der einen Unterschied macht“ kein Deutsch. Er übernimmt den englischen, v.a. amerikanischen Sprachduktus des making a difference.
Weder Goethe noch Schiller, weder Kant oder Hegel noch Schopenhauer hätten wahrscheinlich von einem „Unterschied“, der etwas „macht“ gesprochen. 

In meiner persönlichen Unterscheidung gibt es den Akkusativ- und den Dativmodus. Dieser Unterschied, der tat-sächlich einen Unterschied ausmacht, beruht nicht auf einer Idee, sondern auf der Tatsache der Polarität des vegetativen Nervensystems.
Die heutige Welt präferiert den Akkusativmodus, in dem wir mit den Dingen, der Welt, mit uns und anderen etwas machen. Das entspricht dem sympathischen Aspekt des Vegetativums. Der andere Pol, der parasympathische, also der Ruhenerv Vagus, steht für Passivität, Ruhe, Verdauung, Immunsystem, Sexualität und Regeneration. Um in diesen Modus zu gelangen, muss das Gemache, also der Akkusativmodus aufhören- Eine Welt, in der wir ständig etwas zu tun haben, in welcher selbst Freizeit[1] zum Stress wird, in der man sich stets in-formieren und auf dem Laufenden sein muss, macht uns sympathikuslastig.
Deshalb sind stressbedingte Erkrankungen in der westlichen ZUVIELisation so dominant, angefangen beim erhöhten Blutdruck bis hin zu Krebs. 

Der Akkusativmodus hat Ziele, er denkt entlang der Linie, er will fort schreiten (und kommt nie an). Der Dativmodus weiß um die Wiederholung, die Wiederkehr, das Zyklische. Er folgt dem „Wohin wir gehen? Immer nach Hause!“ von Novalis.

Auf der sprachlichen Ebene korrespondiert dies mit einem Ge-mache, wo einst Er-fahrung oder Wider-fahrnis stand. Unterschiede ergeben sich in unserer Sprache ebenso wie Sinn. Die verdeutschten Sprachneophyten making a difference oder making sense machen aus einer Erfahrung etwas, das gemacht wird. Sinn also ergibt sich nicht mehr, z.B. aus der Kontemplation, dem Innehalten, dem Verweilen, dem Poetischen, er wird in die Welt des
Her-gestellten verwiesen und geht damit verloren. 

Das ist ein Verlust. Denn die Schönheit, die aus dem Betrachten entstehen und zur inneren Ruhe führen kann, entsteht aus dem Verweilen, nicht aus dem Machen und Tun. Sie ist vagal, nicht sympathisch. Byung-Chul Han nennt diesen inneren Modus ein „Verweilen am Schönen“. 

Die geistige Ökologie der Ökologie des Geistes

Für die Naturvölker der Jungsteinzeit war die Natur be-seelt, sie war durchzogen von Geist. Dies findet sich auch im antiken Denken. Geist und Atem teilen sich ein Wort – spiritus, gr. pneuma. Wer in-spiriert ist, ist zugleich be-atmetund be-geistert.

Zwar finden sich in der antiken Philosophie kategoriale Unterscheidungen von Geist, Seele, Wirkprinzipien und Lebenskraft, aber letztlich ist der antike Kosmos be-atmetbe-seeltdurch-geistigt. Im Gegensatz zu heute hatten die Menschen der europäischen Antike, so Peter Sloterdijk, nicht ihre Gefühle, sondern Gefühle hatten ihre Menschen. Wut, Zorn, Freude, Liebe waren Kräfte, die im Menschen und durch ihn hindurch wirkten; seine Aufgabe war es, diese Kräfte, die sowohl innen als auch außen waren, zu kultivieren.

Ähnliches lässt sich von den Naturvölkern Nordeuropas sagen, den Kelten und Germanen. Weder Kelten noch Germanen kannten Tempel. Ihre heiligen Stätten waren Wälder, heilige Orte und Bäume. Letztlich war die Natur und war alles Tempel, war durchzogen von Heiligem. 

Die sog. Christianisierung, die eigentlich eine Kirchianisierung war (weil sie mit der von Jesus gepredigten Liebe nichts gemein hatte), setzte dem eine Ende. Karl der Große rottete im 8. Jahrhundert durch Mord, Folter und Verschleppung v.a. die naturreligiösen Sachsen aus und bereitete der ursprünglichen Spiritualität und damit einem ganzen Weltbild ein blutiges Ende. Die heiligen Stätten wurden zerstört, es gab Zwangstaufen und Tod für diejenigen, welche die alten Rituale pflegten. Diejenigen, die sich Christen nannten, nutzten die alten Kraftplätze, um ihre Kirchengebäude darauf zu errichten und definierten die keltischen und germanischen Feste als christlich um[2].

Fortan gibt es eine Trennung von Seele/Geist und Natur/Materie. Der Geist wohnt im Gotteshaus und „draußen“ ist die unbeseelte Natur. Erst diese radikale Dichotomie macht Descartes und die mit der Industrialisierung einsetzende Naturzerstörung möglich. Denn das Un-heilige (die Natur) darf ge- und benutzt und rücksichtslos ausgebeutet werden. 

Über Bateson ist zu lesen, er habe sich strikt gegen die Leib/Seele-Dichotomie Descartes gewandt. Betrachtet man aber das Eingangszitat, so findet man mE, dass er zumindest darin die kirchianische und cartesianische Spaltung fortschreibt: er attestiert der Welt der Substanz, dass sie nur (!) Kräfte und Einflüsse aufweise. Allein die Welt der „Form“ und der „Kommunikation“ beinhalte Geistiges (Ideen). 

Was würde ein Kelte oder Germane, für den es keine Dichotomie von Beseeltem und Unbeseeltem gab, darauf antworten? Ich vermute, er würde Batesons Worte garnicht verstehen, sie würden für ihn keinen Sinn ergeben. 

Ich fand Wolfgang Loths fiktiven Dialog von Bateson und Heraklit sehr in-spirierend (https://systemagazin.com/systemagazin-adventskalender-2023-wolfgang-loth/). Denn er gibt dem Batesonschen Denkgebäude eben das, was ihm mE fehlt: Rhythmus, Fluss und Atem. Er stellt damit für meine Begriffe Batesons Denken vom Kopf auf die Füße. 

Im Atmen entsteht Leben. Im Atmen entsteht Rhythmus, das Pulsieren jeder Körperzelle findet im Kosmos seine Entsprechung. Im Atmen entsteht Erkenntnis. Eine von der Sorte, die uns mit der Welt verbindet und uns und die Welt als Einheit erleben lässt. Das ist eine andere Art Erkenntnis als die diskursive. Womöglich die bessere.

So müsste der cartesianische Satz „cogito ergo sum“ eigentlich lauten:
Spiro ergo sum
Ich atme also bin ich


[1] Frei-Zeit? Was ist die andere Seite, die Gefangenen-Zeit?

[2] Die Wintersonnwende wurde zu Weihnachten, Imbolc zu Mariä Lichtmess, Samhain zu Allerheiligen etc.

21. Dezember 2023
von Tom Levold
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systemagazin 2023 – 21. Wolfram Lutterer

„Unterschiede, die Unterschiede machen…“: Was meinte Bateson eigentlich mit seiner berühmten Chiffre, die – auch wenn oftmals zitiert – sich heute wohl noch ähnlich sperrig liest wie vor fünfzig Jahren?

Nun, auch wenn wir uns heute als in einer „Informationsgesellschaft“ lebend verstehen, uns über zig Medien vielfach „informieren“ und routiniert im Internet nach „Informationen“ suchen, für Bateson wäre all dies haarscharf vorbei an seinem Verständnis von Information und der damit verbundenen Botschaft.

Denn Information liegt nicht einfach nur irgendwo herum oder ist in Büchern und anderen Medien verborgen: Wir sind es, die die Unterscheidungen vornehmen, die etwas als relevant wahrnehmen, auswählen sowie kontextualisieren und demnach Bedeutung zusprechen. Wir sind es, die die Unterschiede ausmachen.

Meine adventliche Botschaft wäre demnach, hinein zu spüren, ob wir nicht selbst ein paar Unterschiede machen und vielleicht auch teilen wollen, um uns vielleicht mit etwas mehr an Mut, Freude, Gelassenheit und Freundlichkeit den Wirrungen des sozialen und ökologischen Alltags zu stellen, anstelle uns von Angst, Verzagen, Verzweiflung oder gar Hass in mentale oder auch politische Ecken drängen zu lassen. Bateson selbst gab übrigens in einem Brief an einen Freund eines Suizidierten einen für mich nach wie vor sehr berührenden Rat:

Was ein Mensch für einen anderen tun kann, ist nicht viel, aber wahrscheinlich hilft es manchmal dem Geholfenen, wenn sich der Helfer im klaren ist, wie wenig Hilfe gegeben werden kann. Etwas zeit­wei­li­ger Schutz vor den kalten Winden einer kran­ken Zivilisation, einige geteilte Tränen und Lachen, das ist alles. (Bateson, Coun­sel for a Suicide’s Friend)

20. Dezember 2023
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2023 – 20. Arist von Schlippe

Mikroskopische Unterschiede

Es ist März 2023, eine der letzten Prüfungen zu meiner Lehrveranstaltung „Konflikt und Konfliktmanagement“. Ein Student besteht sie mit einer einigermaßen akzeptablen Note, die ihm im Nachgespräch mitgeteilt wird. „Jetzt zum Schluss,“ sagt er, „möchte ich Ihnen aber doch noch ein Feedback zu Ihrem Buch[1] geben!“ – „Ja, gern!“, ich bin gespannt. „Sie haben dort zweimal das Wort ‚Farbiger‘ erwähnt! Das ist nicht in Ordnung!“ – „Oh,“ sage ich etwas verwirrt, ich kann mich auch gar nicht daran erinnern, dass das Thema kultureller Differenzen im Buch einen größeren Raum eingenommen hat, „was ist denn da das Problem?“ – „Nun,“ antwortet er, „ich habe zum Beispiel schwarze Freunde, die sagen: ‚Warum nennt Ihr uns farbig, wir sind doch nicht farbig, wir sind schwarz!‘“ – „Ach so,“ antworte ich, „dann sollte man also richtigerweise ‚Schwarze ’schreiben? Aber das würde dann doch wieder eine ganze Reihe anderer Gruppen ausgrenzen, die mit dem Wort ‚farbig‘ bezeichnet sind.“ – „Genau, ‚Schwarze‘ geht auch nicht!“

Ich bin verwirrt, es ist mir wichtig und ich bemühe mich auch, so zu schreiben, dass keine Gruppe von Menschen mit entwertenden Begriffen belegt wird, ich gebe aber zu, manchmal auch überfordert und genervt zu sein von den Feinheiten, die da zu beachten sind. Immer wieder bin ich auch erstaunt und frage mich, wie es eigentlich kommt, dass heute so laut, zum Teil auch so aggressiv Mikrounterscheidungen eingefordert werden, wo wir doch in einer Kultur leben, in der es so viele Möglichkeiten gibt wie wohl nie zuvor, sich individuell für Lebensentwürfe zu entscheiden. Im Vergleich zu früheren Stadien unserer Gesellschaft versperren Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung o.ä. in viel geringerem Maß die Entscheidung für Lebenswege. Dass es genug Baustellen gibt, an denen noch zu arbeiten ist, ist mir natürlich bewusst, aber die sind ja auch intensiv Thema in der gesellschaftlichen Debatte, und ich bin mir ziemlich sicher: sie werden nicht durch eine immer feinere Wortwahl korrigiert. Wie viele Möglichkeiten gibt es heute, „Fehler“ der politischen Korrektheit zu machen! Offenbar habe ich jetzt gerade solch ein Fettnäpfchen erwischt.

„Was würden Sie denn vorschlagen?“ – „Sie sollten schreiben: ‚PoC‘!“ – „Hmmm, aber das heißt doch ‚People of colour‘, oder?“ – „Ja, genau!“ – „Ist das dann nicht dasselbe wie ‚Farbiger‘?“ – „Nein, PoC ist der Terminus, der korrekte Begriff!“

Plötzlich fühle ich mich alt. Zu Hause schaue ich nach: an zwei Stellen taucht das Wort auf, jeweils mit einem Verweis auf andere Literatur verbunden. Einfacher macht es das nicht. Die Geschichte lässt mich nicht los, bis heute.


[1] Es war Grundlage der Veranstaltung: Schlippe, A.v. (2022). Das Karussell der Empörung. Konflikteskalation verstehen und begrenzen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

19. Dezember 2023
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2023 – 19. Kurt Ludewig

Apropos Unterschied Patriotismus/Nationalismus

neben den alltäglichen Unterschieden, die es uns bekanntlich ermöglichen, am Leben zu bleiben, habe ich in meinem mittlerweile recht langen Leben einige mich prägende oder zumindest verunsichernde Situationen erlebt, weil sie einen Unterschied zum Üblichen und Bisherigen machten. Heute wähle ich zum Thema des diesjährigen Adventskalenders davon die Folgende:

Sie geschah, als ich Anfang der 1960er Jahre für zwei Jahre in Los Angeles, Kalifornien, lebte. Als junger eingewanderter Chilene schloss ich mich einer Gruppe von ebenfalls eingewanderten jungen Menschen an, die aus England, Argentinien und aus dem Westen des damals geteilten Deutschlands stammten.

Neben den vielen Aktivitäten, denen junge Menschen üblicherweise miteinander nachgehen, nahmen einige unter uns, die Liebhaber der klassischen Musik waren, das Angebot des malerisch gelegenen Amphitheaters Hollywood Bowl an und besuchten dort gemeinsam die sommerlichen open air Konzertabende. Es spielte die Los Angeles Philharmonic Orchestra unter dem damals noch jungen indischen Dirigenten Zubin Mehta.

An einem dieser Abende spielte das Orchester zu Anfang – wie in USA üblich bei allen möglichen Veranstaltungen – die US-amerikanische Nationalhymne. Wer die USA bereist hat, wird sicherlich wahrgenommen haben, wie dort die Zuneigung zum eigenen Land offenbar etwa durch Aufstellen der Nationalflagge vor dem Haus ausgedrückt wird, und zwar nicht nur an besonderen nationalen Feiertagen, sondern durchgängig. Kaum ein Football-Spiel oder ein Rodeo beginnt ohne das Vorspielen der Nationalhymne. Vermutlich verstärkt diese als patriotisch bedachte Sitte das Gefühl von Zugehörigkeit, vor allem in den Ländern der sog. Neuen Welt, die zu einem wichtigen Teil von Einwanderern aus unterschiedlichen Kulturen bevölkert wurden. Dies gilt auch für mein Heimatland Chile. Auch dort ist ein patriotisches Gefühl ein wichtiges verbindendes Element der gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit. Daran aus eigenen Erfahrungen gewöhnt, erhob mich geradezu automatisch, als die Nationalhymne der USA angestimmt wurde. Gleiches tat ein Großteil der vielen Besucher des Hollywood Bowls.

Bei einem zufälligen Blick zur Seite erkannte ich aber, dass eine aus unserer Gruppe entgegen allen Gepflogenheiten als einzige sitzen geblieben war. Es war Helga, eine junge Bremerin, die nach den USA ausgewandert war und in Los Angeles als Angestellte arbeitete. Ich konnte ebenfalls feststellen, dass einige der Anwesenden sich zu ihr hindrehten und sie anschauten. In einer ersten Einschätzung fand ich diesen Unterschied im Vergleich zu allem anderen um sie herum als schlicht ungehörig und als Zeichen von Respektlosigkeit.

Dieses Verhalten, das für mich einen verstörenden Unterschied ausmachte, war so außerhalb des Erwartbaren, dass ich mich nicht einmal getraut habe, sie nach dem Grund zu fragen. Statt dessen fragte ich ihre Freundin, mit der sie eine Wohnung teilte. Die Erklärung, die ich bekam, war irgendwie einleuchtend und dennoch verunsichernd: Sie stamme aus Deutschland, wo sie in ihrer Kindheit nach dem Weltkrieg gelernt habe, alles Nationalistische abzulehnen oder zu umgehen.

Statt meine Neugier zu befriedigen, löste diese Erklärung in mir eine Reihe von Fragen aus, die mich aus dem wohligen Nest des ungefragt Selbstverständlichen herausstieß. Hatte sie Recht und deshalb auch die Courage, derart öffentlich gegen den Strom zu schwimmen? War jede Form patriotischer Ergebenheit ein Ausdruck von verinnerlichtem Nationalismus, der sich bei passendem Ansporn als solcher entlarven und Schlimmes ausrichten könnte? War ich eben im Recht, als ich unbedacht die Elemente des Nationalen respektierte? Oder war sie im Recht, wenn sie dieses Ganze ignorierte? Ganz sicher bin ich mir heute nicht, wie ich auf diese Fragen mit einem überzeugten Gefühl antworten sollte. Auf der Suche nach innerer Klarheit habe ich sogar beim nächsten Konzert versucht, während der Nationalhymne sitzen zu bleiben, hielt aber die fragenden bis bösen Blicke meiner Umgebung nicht stand und erhob mich.

Wie einfach es ist, im sanften Strom des Selbstverständlichen zu schwimmen, wie schwierig es wiederum ist, sich dagegen aufzulehnen und in der eigens gewählten Richtung zu schwimmen, besonders dann, wenn man sich dabei sozial isoliert.

Helgas Sitzenbleiben hat einen Unterschied erzeugt, der meinen bis dahin unbelasteten, fast niedlichen Patriotismus dauerhaft erschütterte und mir die kniffliche Frage auferlegte zu prüfen, wie sehr in mir ein Nationalismus schlummerte, der nicht nur die patriotische Liebe zum Eigenen, sondern auch die Ablehnung und Abwertung des Anderen beinhaltet.

Insofern war dies also ein Unterschied, der einen bedeutsamen Unterschied ausmachte!

18. Dezember 2023
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2023 – 18. Thomas Lindner

Begegnungen mit meinem türkischen Feinkosthändler

­Seit fast vierzig Jahren sehen wir uns beinahe jede Woche. Unsere Namen kennen wir nicht. Für mich ist er mein meist gut gelaunter türkischer Feinkosthändler. Für ihn bin ich wahrscheinlich der treue Kunde, mit dem man gut über Fußball plaudern kann. Die Begegnungen mit meinem türkischen Feinkosthändler sind für mich oft überraschend. Ich lerne etwas über Mentalitätsunterschiede und das, was man landläufig „Integration“ nennt. Sein Vater betrieb eine kleine Imbissstube, in der die Kolleginnen meiner ersten Arbeitsstelle und ich gerne mittags ein Pide-Brötchen oder einen Salatteller holten. Nach der Arbeit konnte man noch ein Schälchen Oliven und den Brotaufstrich mit dem herrlichen Namen „Als die Schwiegermutter in Ohnmacht fiel“ mitnehmen. Der Sohn erweiterte den Betrieb und führt heute drei internationale Feinkost-Theken in verschiedenen lokalen Supermärkten. Wenn ich am Wochenende einkaufe, hat der „Chef“, so wird er von vielen genannt, kaum Zeit. Dann bedient er mit, füllt die Schalen großzügig bis zum Rand und fördert nebenbei augenzwinkernd die türkische Wirtschaft. Selbstverständlich sind die Marmara-Oliven die besten und den griechischen Kalamatas vorzuziehen. Aber natürlich verkauft er auch die. Denn „der Kunde hat immer recht“. So hat es ihn sein Vater gelehrt. Komme ich werktags am Vormittag, hat er mehr Zeit. Dann plaudern wir kurz. Meist über Fußball. Natürlich ist er Anhänger von Galatasaray Istanbul. Und hält die türkische Nationalmannschaft für den Geheim-Favoriten bei der Fußball-EM im nächsten Jahr. Ich verstehe nicht viel von Fußball. Aber es ist ein wunderbares Thema für den jahrelangen Minimal-Austausch.

Was überrascht mich nun an den kleinen Begegnungen? Und was lerne ich über Mentalitätsunterschiede und „Integration“. Beispiel eins: Er erzählt mir, das die Hälfte der türkischen Nationalmannschaft in Deutschland aufgewachsen und sich auf deutsch unterhält. Das wusste ich nicht. Deutschstämmige Türken, türkeistämmige Deutsche, anatolische Rheinländer – who is who und welche Begriffe machen welchen Unterschied?

Beispiel zwei: Vorsicht bei Erdoğan, dachte ich mir, als der türkische Präsident vor ein paar Wochen kurz nach Deutschland kam. Können wir darüber auch so munter plaudern? Immerhin haben 67 % der Deutschtürken bei der letzten Stichwahl für ihn gestimmt. Aber wir können. Der „Chef“ ist Kemalist und vertritt für sein Heimatland ein säkulares Staatsmodell. Aha, nicht alle Muslime wollen einen politischen Islam. Natürlich hat der „Chef“ auch die deutsche Staatsbürgerschaft und darf auch hier wählen. Freimütig erzählt er mir, dass er als Selbständiger immer die FDP gewählt hat. Von wegen der Steuer und der deutschen Bürokratie. Jedem Kunden müsse er auch beim Kleinsteinkauf einen Kassenbon anbieten. Dass sei doch nun wirklich der Gipfel der Papierverschwendung. Ich brauche auch keinen Kassenbeleg. Trotzdem muss ich als Grün-Bewegter etwas schlucken. Und bin für einen Moment froh, dass wir unsere Namen nicht kennen. Sonst könnte er mich noch auf eine mögliche Verwandtschaft mit dem amtierenden Finanzminister befragen. Nein, bin ich nicht, bereite ich mich schon innerlich vor. Aber ich lerne: es gibt nachvollziehbare Gründe, diese Partei zu wählen. Und nicht alle FDP-Wähler sind unsympathisch. 

Beispiel drei: Manchmal wird die gute Laune meines türkischen Feinkosthändlers arg strapaziert. Drei Filialen mit mehr fast 20 Mitarbeitenden zu steuern, ist wohl kein Ponyhof. Seinen Stress bringt er dann für mich etwas ungewöhnlich zum Ausdruck. „Wie geht es denn so?“ „Eigentlich gut – aber ich könnte jemanden gebrauchen, dem ich mal so richtig in die Fresse hauen kann. So wegen des seelischen Gleichgewichts“. Das gefällt mir. So einen suche ich auch manchmal. Den „Chef“ würde ich dann gerne mal umarmen. Aber wir kennen ja noch nicht einmal unsere Namen.

17. Dezember 2023
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2023 – 17. Matthias Ohler

Wozu man in der Lage ist

Im Jahr 1988 betrat ich im Rahmen einer Konzerttour nach Warschau, Krakau und Tschenstochau das Konzentrationslager Auschwitz das erste Mal. Dieser Besuch hatte „nur“ dem „Stammlager“ I gegolten. Allein der Schritt durch das Tor mit der Überschrift „Arbeit macht frei“ in den von Organisationsverantwortlichen als „Anus Mundi“ bezeichneten Komplexes verlangte alle Konzentration, – um nicht umzufallen angesichts des bedrängenden Wissens, wie viele hier nicht mehr rauskamen und man selber nun einfach hineinspaziert und sicher auch wieder raus.

1992 folgte eine zweite Konzerttour nach Polen. Wieder kam ich nach Auschwitz. Diesmal allerdings ins Lager Birkenau, das als das „Vernichtungslager“ bezeichnet wird.

Ich machte einen Versuch: Ich stellte mich an die Rampe. Hier hielten die Züge, aus denen die her gefahrenen Häftlinge herausgetrieben wurden, sich in Reihen aufzustellen hatten und dem Kommando vorgeführt wurden, das entschied, ob jemand als arbeitsfähig einzustufen sei oder gleich zum Gasmord geschickt wurde.

Ich versuchte, mir vorzustellen, was es gewesen sein musste, mit einem dieser Züge anzukommen. Welch eine Hybris, mag man denken. Welch eine Erfahrung, denke ich noch immer. Dann drängte es mich – zunächst gegen meinen erlebten Willen – mich umzudrehen und mir vorzustellen, was es gewesen sein musste, einer derer zu sein, die entscheiden. Die Erfahrung war eindeutig: Es war – wieder zunächst gegen meinen erlebten Willen – unwidersprechlich klar, dass ich auch auf dieser Seite hätte zu stehen kommen können, aus welchen Gründen, Umständen oder Ursachen auch immer.

Was macht hier einen Unterschied? Die Schlussfolgerung, die mir, vielleicht mehr als damals, nach wie vor einleuchtet, ist: Es geht zuerst nicht darum, schlicht die Geste des Verurteilens mitzutun. Es geht auch nicht darum, anzuklagen aus einer – eingebildeten – Position dessen, der kaum aushält, was er da zu sehen bekommt. Es geht auch nicht darum, zu rechtfertigen, was getan wurde, weil man selber es vielleicht hätte tun können. – Es geht darum, in Erfahrung zu bringen, klar zu benennen und sich nicht darüber zu täuschen, wozu man fähig ist, um dann alle Konzentration darauf zu richten, wie man dafür sorgt, es selbst nicht zu tun, obwohl man dazu in der Lage wäre, und dafür, dass es von niemandem anderen getan wird. Die Unterschiede sind fein, aber elementar, scheint mir.

Das hätte niemals geschehen dürfen, sagte Hannah Arendt. In ihrer nachdrücklich zur Lektüre empfohlenen Vorlesung Über das Böse, die sie an der New School für Social Research in New York 1965 hielt[1], kommt sie im Zusammenhang mit Immanuel Kants Hinweis auf den „’faulen Fleck‘ in der menschlichen Natur“, nämlich das Vermögen zu lügen[2], auf Fjodor M. Dostojewskis Die Brüder Karamasow zu sprechen und auf eine noch grundlegendere Unterscheidung bzw. Differenzierung. Der Starez Sossima beantwortet Dimitri Karamasows Frage danach, was man tun könne, um erlöst zu werden, mit dem Hinweis: Vor allem belüge dich nicht selbst[3].

Hannah Arendts bekanntes Diktum „Niemand hat das Recht zu gehorchen“ kann dann so gesehen werden: Zwei Sprachspiele, die wir für inkompatibel halten, werden in einen Zusammenhang gebracht, nämlich das Sprachspiel des Gehorchens, das scheinbar keiner Wahl Raum lässt, und das Sprachspiel der Inanspruchnahme eines Rechts, das Wahl bzw. Entscheidung erfasst. Danach erscheint zu gehorchen als die Inanspruchnahme eines Rechts und von daher als Entscheidung. Arendt spricht dann dem Sprachspiel des Gehorchens seine Rechtmäßigkeit ab. Gehorchen erscheint so als Wahl, als entschiedenes Handeln, und wird problematisierbar. Ein interessanter Spielzug. Was ist daran systemisch? Der Spielzug selbst, seine Transparenz, und seine Kontingenz. Wer widersprechen will, soll zumindest sagen müssen: Doch, ich habe das Recht zu gehorchen.

Was tun? Kommunizieren und verstören. Unterschiede machen.


[1] Arendt, Hannah, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München: Piper, 2007

[2] Ebenda, S. 28

[3] Ebenda, S. 29

16. Dezember 2023
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2023 – 16. Regina Riedel

Zeit für Stille

Schon einige Jahre beschäftigt mich im Zusammenhang mit therapeutischer Tätigkeit und der Weitervermittlung therapeutischer Haltung in der Lehre das Thema Zu-hören. So selbstverständlich Zuhören für therapeutische Tätigkeit erscheint – so „nachrangig“ wird es doch meist betrachtet. 

Lernen können wir hier aus der Musik. Was wäre ein Musikstück ohne Pause? Die Unterbrechung gibt einem  Stück erst seinen Charakter. In der Stille entfaltet sich auch beim Zuhörenden eine Verbindung zwischen dem Eigenen und dem Anderen – was löst die Musik bei mir aus und was erwarte ich, wie es weitergeht? 

Die Pause in einem therapeutischen Gesprächs gestaltet sowohl die Dimension des  Gehörten als auch die Entscheidung, was als Nächstes gesagt wird. Sie gibt uns die Möglichkeit, aus dem Fluss des Erwartbaren auszutreten. In der Methode des Dialogs nach David Bohm nennt man dies „Sublimieren“ – in der Schwebe halten – sich selbst beobachten, was beim Zuhören geschieht – bevor wir reagieren. Dann erst entsteht ein generatives Zuhören, in dem Neues entstehen kann.

Martin Buber hätte dies wohl als den Moment beschrieben, in dem das Ich zum Du wird und eine wirkliche Verbindung entsteht.

Insofern entsteht in der Stille eines Gesprächs der Unterschied, der einen Unterschied macht und das Aushalten und Wahrnehmen dieser „Pause“ ist zentrales Moment der Veränderung.

Nicht nur im therapeutischen Gespräch

15. Dezember 2023
von Tom Levold
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systemagazin 2023 – 15. Steffi Lange

Ilja, ein kleiner Junge aus Odessa, der im März 2022 an unsere Schule kam, hat bis in den Oktober 2023 kaum gesprochen, nicht einmal die einfachsten Worte lernen können, hat keinen Kontakt gefunden und er kam viele Tage nicht in die Schule. 

Im Oktober 2023 kam er in eine neue 1. Klasse. Hier wurde er offen aufgenommen und bekommt die Sicherheit und Konstanz, die in den letzten Monaten nicht möglich war. Nun kommt er morgens ganz früh und ruft uns laut über den Schulhof ein fröhliches „Guten Morgen“ zu. Welch ein Unterschied!

14. Dezember 2023
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2023 – 14. Katrin Bärhold

Schmetterlingseffekt

Wenn ich mit Menschen arbeite, vergesse ich manchmal, dass es die kleinen und ganz kleinen Dinge sind, die den Unterschied ausmachen, anstoßen oder vervollständigen. Ein anders atmen, ein Hmm, ein Blick oder eine andere innere Haltung, die gespürt wird. Konkret in ein winzige paar Zeilen.

ein Schmetterling kam herangeschmettert
knallte bunt an ein Vogelei
flappte davon und hinterließ

zweierlei

einen Schreck im Innern
einen Pick nach vorn

und es ward

ein neues Huhn geborn

13. Dezember 2023
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2023 – 13. Bernd Schmid

Ja, wir unterscheiden uns so gerne. Man will ja wissen, wer man ist. Und wie soll das gehen, ohne zu sagen: Ich bin anders als Du! Und gestehen wir es uns ruhig ein, wir wollen eben auch möglichst besser sein als andere. Es wurde uns eingeimpft, dass wir uns herausheben müssen, um wer zu sein, nicht wie beim kleinen Prinzen, wo viele Rosen gleich sein dürfen und Unterschiede mehr in der Vertrautheit liegen. 

Das treibt dann leider auch in unserem Feld unwürdige Stilblüten. Wir erheben irgendetwas, was es längst gibt, zum wichtigen Alleinstellungsmerkmal oder versuchen zumindest durch neue Namen diesen Eindruck zu erwecken. Mein Gegenbild: In meinem Blumenstrauß ist wohl kaum eine Blüte, die es nicht auch anderswo gibt. Besonders ist nur meine Zusammenstellung.

Oder wir machen aus Unterschieden Polaritäten und polemisieren damit gegen andere. Dass wir uns selbst dabei auf polare Stilisierungen reduzieren und Extremismus schüren, fällt vielleicht nicht auf.  Missbräuchliche Abgrenzung von anderen öffnet Ausgrenzung und Ausbeutung Tür und Tor. Alles auch als kulturelle Erfahrung uralt, aber wieder sehr im Schwange. 

An nichts gewöhnt sich der Mensch so schnell wie an Privilegien“ Die daraus erwachsenden Ungerechtigkeiten wollen wir nicht wahrhaben. Wir verklären Unterschiede, etwa in Einkommen, Vermögen, Bildung und Status als unsere persönlichen Verdienste. Kann ja auch was dran sein, aber vielleicht nur zu einem kleinen Prozentsatz. Insoweit sollten wir uns die Früchte gönnen. Der Rest: Herkunft und Milieu, Chancen bezüglich Absicherung, Bildung, Finanzausstattung, Rechtsstaat und Infrastruktur, also geschenkte Privilegien aller Art. Da müsste man vielleicht ernsthaft über aktiven Verzicht auf Bevorzugung und übers Teilen nachdenken. Aber wollen wir von uns denken, dass unser eigenes Verdienst vielleicht bescheiden ist, wir aber halt zufällig zur rechten Zeit am rechten Platz waren?

Wir leben in einer zentrifugalen Welt, die uns um die Ohren zu fliegen droht. Ohne aktives Engagement für Integration, also für ein verträgliches Nebeneinander und besser noch ein stärkendes Miteinander ist dem nicht entgegenzuwirken. Durch Schönreden und Freikaufen allein ist das nicht zu erreichen. Hier sind aktives Engagement, unternehmerische und politische Verantwortung gefragt. Und eben nicht nur, wenn die Unterschiede komfortabel sind. Die Toleranz fängt dort an, wo Unterschiede schwer zu ertragen sind, wir aber zusammenwirken müssen. Wir müssen streiten, gerne heftig, aber respektvoll und fair. Und dort, wo alles am Entgleisen ist, dürfen wir kein Öl ins Feuer gießen. Und manchmal sollten wir den Ball flach halten und freundlich sein. „Freundlichkeit ist die kleine Schwester der Liebe.“[1]


[1] (B. Schmid Originalton)

12. Dezember 2023
von Tom Levold
5 Kommentare

systemagazin Adventskalender 2023 – 12. Rudolf Klein & Barbara Schmidt-Keller

In unserer Welt gibt es eine Vielzahl von Unterschieden – sei es in unseren Meinungen, unseren Erfahrungen oder unseren Persönlichkeiten. Diese Unterschiede sind es, die uns einzigartig machen und unsere Welt so vielfältig gestalten. Doch nicht alle Unterschiede sind gleich. Manche Unterschiede sind oberflächlich und haben nur geringen Einfluss auf unser Leben, während andere einen bedeutenden Unterschied machen können.

Gregory Bateson erinnert uns daran, dass es wichtig ist, Unterschiede zu schätzen, die wirklich einen Unterschied machen. Es geht darum, diejenigen Unterschiede zu erkennen und anzuerkennen, die tiefgreifende Auswirkungen haben können – sei es in unseren Beziehungen, unserer Kreativität oder unserer Art, die Welt zu sehen.

Indem wir uns bewusst für Unterschiede öffnen, die einen Unterschied machen, öffnen wir uns auch für neue Perspektiven und Möglichkeiten. Wir können von anderen lernen, uns weiterentwickeln und unsere eigene Sichtweise erweitern. Es ist eine Einladung, die Vielfalt zu umarmen und die Kraft der Unterschiede zu nutzen, um positive Veränderungen in unserem Leben und in der Welt um uns herum zu bewirken.

Also lasst uns Unterschiede machen, die einen Unterschied machen! Lasst uns die Vielfalt feiern und die Chancen nutzen, die uns durch unterschiedliche Perspektiven und Ideen geboten werden. Denn nur so können wir gemeinsam eine bessere und vielfältigere Welt schaffen.

Hätten Sie gedacht, liebe Leserinnen und Leser, dass ich meinen  diesjährigen Adventskalenderbeitrag durch „chat gpt“ habe schreiben lassen? Ich hoffe: ja. Zumindest hatte meine Frau den Eindruck, ich hätte einen langweiligen Text im Stile eines simplen Referats fabriziert. Immerhin schien sie zu denken, dass ich es auch anders (besser?) kann. Andererseits schien sie mir diese Art von Text glatt zuzutrauen. Mmh?!

Zugegeben, der Text ist vielleicht etwas langweilig, emotionslos und schlicht. Ganz daneben ist er aber nicht. Und vielleicht wäre er sogar besser, wenn ich den Auftrag geschickter formuliert hätte. 

Und während ich so darüber nachdenke und vor mich hinschreiben, frage ich mich, ob Sie den Eindruck haben, der jetzt gerade zu lesende Text sei von mir, einem (noch) lebenden Menschen, oder von chat gpt, einem (noch) bewusstseinsfreien Medium geschrieben. 

Und? War das jetzt ein künstlicher Text oder ein Text von mir? Oder eine Mischung aus Beidem?

Unterschiede, die Unterschiede machen. Gar nicht so leicht. Und so richtig lustig ist es auch nicht. 

Rudolf Klein

Foto: Barbara Schmidt-Keller

Als Ergänzung möchte ich ein Foto beisteuern. Aufgenommen im August 23 vor der Tribüne auf dem Vorplatz der Notre Dame. 

Ein Performancekünstler tanzt. Ein kleines Mädchen aus dem Zuschauerkreis, das neben seiner Mutter sitzt, steht auf und tanzt spontan neben ihm mit. Eine Sequenz von Unverfügbarkeit (Hartmut Rosa). Resonanz entsteht zwischen den beiden, die Bewegungen stimmen sich aufeinander ab, die gemeinsame Freude ist unübersehbar. Der Tänzer ist genauso bezaubert wie das Publikum. Ein Unterschied, der einen Unterschied macht.

Barbara Schmidt-Keller

11. Dezember 2023
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2023 – 11. Susanne Quistorp

Durch unser Wissen unterscheiden wir uns nur wenig, in unserer grenzenlosen Unwissenheit aber sind wir alle gleich (Karl Raimund Popper)

Diese These Karl Raimund Poppers lädt uns ein, Unterschiede aus neuen ‚Flughöhen‘ zu betrachten  und sie damit in unserer Bedeutungszuschreibung zu relativieren: für mich ein starkes Plädoyer für einen demütigeren Umgang mit Unterscheidungen.