systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

3. September 2008
von Klein
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Alles Geschmackssache?

Kürzlich war ich mal wieder auf der Suche nach neuen Genüssen in Sachen Wein und wollte wissen, wie die neuen Weine schmecken. Schmecken – etwas, was jeder Mensch kennt, jeder unweigerlich tut, unter halbwegs normalen Umstanden sogar mehrmals täglich. Und nicht nur, was den Geschmack von Wein betrifft. Wir wissen nämlich, dass Tomaten den Geschmack von Tomaten haben, Milch den Geschmack von Milch, Gurken den Geschmack von Gurken. Das alles kennt man – glaubt man. Aber was ist der Geschmack von Wein?
Mir fällt also auf der Suche nach Wein ein Katalog eines Weinhandels in die Hände. Und was lese ich da über die Weine? Manche duften nach Kirschen, Brombeeren und haben den Geschmack von Marzipan, frischen Mandeln, von Weichselkirschen, Vanille, Süßholz usw. So steht es da. Und das muss wohl stimmen. Immerhin haben sich Experten mit dem Geschmack des Weins beschäftigt.
Ich bestelle also verschiedene Weine und probiere. Ich lese die Beschreibung, koste und stelle fest, dass ich genau das schmecke, was ich über den Wein gelesen habe: Pflaumen, Rosinen, dunkle Beerenfrüchte und, mit etwas Mühe: Datteln.
Dann probiere ich einen anderen Wein im Vergleich. Leider habe ich vergessen, vorher die Beschreibung des Weins zu lesen. Ist auch egal, denke ich. Schmecken kann ja jeder. Ich trinke und schmecke Schokolade, entdecke Brombeernoten und eine Anspielung an Leder. Nicht schlecht, denke ich, aber dieser Wein kann noch etwas lagern.
Da fällt mir ein, dass ich ja mal überprüfen könnte, ob ich den Geschmack richtig erkannt und alle Geschmacksnuancen wahrgenommen habe. Ich hole mir die Beschreibung der Experten und lese: „Der Duft hat neben seiner feinen Frucht von Kirschen und Brombeeren auch sehr attraktive Noten von Kirschkompott oder Konfitüre zu bieten, durch das sich eine feine Spur von Pfeffer und roter Paprika zieht. Der Wein ist trinkreif.“
Donnerwetter! Was nun? Schmecke ich unzureichend, vielleicht etwas dumpf und kann ich deshalb den Geschmack des Weins nicht feststellen? Schmecken die Experten falsch? Schmeckt der Wein mal so, mal so? Und wieder die Frage: Was ist der Geschmack des Weins?
Da kommt mir der Gedanke, dass Schmecken und Geschmack zwei durchaus unterschiedliche Phänomene sein könnten. Sie vielleicht ein Verhältnis zueinander haben wie der japanische Autor Haruki Murakami in seinem Buch „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ über die Beziehung von Schmerz und Leiden schreibt: „Schmerz ist unvermeidlich, Leiden ist eine Option.“ (S. 8) Also: „Geschmack ist unvermeidlich. Schmecken ist eine Option?“ Hat man denn noch nicht einmal beim Weintrinken in seiner Freizeit Ruhe vor den Tücken des konstruktivistischen Denkens?
Ich recherchiere also im Internet. Und tatsächlich finde ich eine Seite, auf der sich Autorinnen und Autoren mit dem Phänomen des Weinschmeckens, nicht etwa des Weingeschmacks beschäftigen. „Die Weinprobe findet im Kopf des Konsumenten statt“ lese ich da und erfahre, einiges über die Bedeutung des Riechens beim Schmecken, über die Geschmackszonen meiner Zunge und über neurophysiologische Zusammenhänge beim Schmecken.
Und als ob ich nicht schon genug bei meiner Wahrheitssuche über den Geschmack eines Weins verunsichert worden wäre, muss ich auch noch den Einfluss emotionaler Prozesse und den Bedeutungszuschreibungen, die aus spezifischen Narrationen über Weine resultieren, erkennen. Menschen könnten, so steht es da, Geschmack nicht objektiv wahrnehmen. Das alles kommt mir doch irgendwie bekannt vor.
Als Krönung werden verschiedene Experimente mit professionellen Verkostern geschildert, von denen mir eines besonders gut gefiel: Die Önologen sollten einen Weißwein und einen Rotwein blind verkosten, d.h. es wurden keine näheren Angaben zu den Weinen gemacht. In Wirklichkeit enthielten beide Flaschen denselben Weißwein, wovon eine Probe mit geschmackloser Lebensmittelfarbe rot eingefärbt worden war. Dennoch schrieben die Önologen dem Weißwein typische Weißwein- und dem angeblichen Rotwein Rotweinaromen zu.
Übrigens: Mir haben beide Weine (und die anderen bestellten Exemplare auch) sehr gut geschmeckt – nach was auch immer. Vielleicht sollten wir Weinproben in der Ausbildung berücksichtigen. Zur Verdeutlichung der radikalkonstruktivistischen Perspektive – versteht sich.
Wer sich mit diesen und anderen Experimenten oder mit dem Thema Schmecken und Geschmack näher beschäftigen will – hier gibt es einen Beitrag im Ärzteblatt – und hier noch einen – und einen Beitrag in wikipedia zum Stichwort „Geschmack“.

2. September 2008
von Tom Levold
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Dissoziation als Leistung und Störung

Hans Christ, den ich als alten Freund und neuen systemagazin-Autor an dieser Stelle herzlich begrüße, ist als Psychoanalytiker und systemischer Therapeut der ersten Stunde ein ausgesprochen erfahrener Kliniker, der sich immer wieder auch mit übergreifenden theoretische Perspektiven und ihrer Integration in klinisches Denken befasst hat. 2005 erschien in„systeme“ ein umfangreicher Aufsatz über„Dissoziationen als Leistung und Störung“, in dem diese Fähigkeiten zum Ausdruck kommen, und der jetzt auch in der Systemischen Bibliothek zu lesen ist. Im abstract schreibt Hans Christ:„Dissoziative Prozesse der Spannungsregulation können Alltagsphänomene ebenso gut erklären wie Krankheitsphänomene. Ich beginne mit dem vernachlässigten Alltagsbereich salutogenetisch bedeutsamer Dissoziation für Erholungsprozesse, affektive Diskriminierung und die Förderung von kreativen Prozessen und wende mich darauf der Begriffsgeschichte zu um dann den heutigen Stand der Dissoziationsforschung zu skizzieren. Unter Berücksichtigung neurowissenschaftlicher und mentalistischer Konzepte der Psychoanalyse und Bindungsforschung stelle ich ein Aufmerksamkeitsmodell der Dissoziation vor. Komplexitätsreduktion als Prozess der Erregungsabkopplung durch Konstriktion und Selbsterregung verdeutliche ich an Fallmaterial aus der eigenen Praxis als Psychotherapeut und Supervisor. Therapeutische Überlegungen beschließen die vorliegende Arbeit“
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31. August 2008
von Tom Levold
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Beendigung einer Psychoanalyse

Das aktuelle Heft von Psychotherapie & Sozialwissenschaft ist den empirischen Zugängen zum Thema„Die letzte Stunde – Beendigung einer Psychoanalyse“ gewidmet. Im Editorial von Gastherausgeber Bernhard Grimmer heißt es:„Die in diesem Heft versammelten Beiträge beschäftigen sich alle mit der Beendigung der gleichen hochfrequenten Psychoanalyse. Es handelt sich um den »Musterfall« der deutschen Psychoanalyse (Thomä & Kächele, 2006, S. 167), die Patientin Amalie. Die Analyse (517 Sitzungen mit einer Frequenz von drei Wochenstunden) wurde auf Tonband aufgenommen, transkribiert und interessierten Wissenschaftlern zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt. Die bisher durchgeführten Studien zum Verlauf der Behandlung sind im dritten Band des Ulmer Lehrbuchs zur psychoanalytischen Therapie (Thomä & Kächele, 2006) zusammengefasst. Auch in diesem Fall spielt in der bisherigen Forschung das Thema der Beendigung eine vergleichsweise geringe Rolle. Deshalb sind wir dankbar, dass Horst Kächele uns mit der Bereitstellung der Transkripte und der Erlaubnis ihrer Veröffentlichung ermöglicht hat, diese Forschungslücke mit Beiträgen zu füllen, die auf der Basis unterschiedlicher qualitativer Methoden den Abschluss dieser Analyse unter die Lupe nehmen. Der Fokus der verschiedenen Aufsätze liegt dabei auf der letzten Sitzung, in der die Analysandin und der Analytiker ihre Beendigung vollziehen und Abschied nehmen müssen. Der Leser erhält so die Gelegenheit, aus der Nähe zu betrachten, was in dieser letzten Sitzung passiert und auch, was sich beispielsweise auf der Ebene der Traumerzählungen im Vergleich zum Anfang verändert hat“
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30. August 2008
von Tom Levold
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Kontrollierte Offenheit: Luhmanns Einführung in die Theorie der Gesellschaft

In der neuen Ausgabe des Online-„Forums für Qualitivative Sozialforschung“ (FQS) findet sich ein umfangreicher Rezensionsaufsatz zu Luhmanns posthum erschienener„Einführung in die Theorie der Gesellschaft“, die als Niederschrift seiner letzten Vorlesung 2005 im Carl-Auer-Verlag erschienen ist (systemagazin brachte damals ausführliche Rezensionen von Tom Levold und Wolfgang Loth). Andreas Wenniger, Soziologe an der Universität Bielefeld, hat sich gründlich mit dem Text auseinandergesetzt und kommt zu folgenden Fazit:„Das Konzept einer Gesellschaftstheorie ist bis heute im Wesentlichen ein theoretisches Unterfangen, das selten Kontakt zur empirischen Sozialforschung sucht. Daraus ergibt sich ein großes Problem für den system- bzw. gesellschaftstheoretischen Ansatz, will er nicht nur als ‚reine‘ Theoriearbeit wahrgenommen werden. Diesem theoretischen Paradigma ist solch eine Selbstbeschränkung aber meines Erachtens nicht zwangsweise eingeschrieben. Aufgrund des explorativen Charakters des Konzepts einer systemtheoretischen Gesellschaftstheorie scheint dieses grundsätzlich vereinbar zu sein mit einigen Richtungen der qualitativen Sozialforschung. Dort geht es in vielen Fällen gerade um die Verhinderung zweier Probleme: Erstens soll verhindert werden, dass empirische Realitäten mit vorgefertigten Kategorien betrachtet werden. Zweitens sollen wissenschaftliche Theorien nicht bloß zur Hypothesengenerierung dienen, die dann an der Wirklichkeit überprüft werden. Wissenschaftliche Untersuchungen sollen offen bleiben können gegenüber einer erst noch zu erkundenden ‚Wirklichkeit‘. Ich habe zumindest ansatzweise zu zeigen versucht,
dass LUHMANNs Begrifflichkeiten gerade keine ‚Kategorien‘ darstellen, unter die Empirisches bloß subsumiert wird. Meines Erachtens kann die LUHMANNsche Gesellschaftstheorie so gelesen werden, dass sie versucht, sich auf kontrollierte Weise offenzuhalten für eine erst noch zu erkundende soziale Wirklichkeit“
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29. August 2008
von Tom Levold
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Loss, Trauma, and Resilience

Heute erscheint das Buch von Pauline Boss über„Verlust, Trauma und Resilienz: Die therapeutische Arbeit mit dem »uneindeutigen Verlust«“ in deutscher Übersetzung. Bereits gestern war im systemagazin ein Vorabdruck zu lesen. Das Original ist bereits 2006 bei Norton in New York erschienen. Jörg Leonhard hat es rezensiert und empfiehlt die Lektüre:„Pauline Boss gibt einen sehr guten Überblick über das Thema und führt in ihre Gedanken behutsam doch stringent ein. Leser werden sich sicherlich an Situation und an Klienten/-innen erinnern und neue Wege und Denkweisen entdecken können. Sicherlich bietet das Buch keine neue Methode oder ein neues Konzept. Die aufgezeigten Gedanken werden sich Praktiker in ihrer Arbeit immer wieder machen und sich den systemischen Herausforderungen einer Arbeit mit Menschen, die unklare oder ungeklärte Verluste bewältigen müssen, stellen. Trotzdem ist das Buch sehr empfehlenswert, da es eine gute Sammlung und Konzentration des Themas bietet und eine thematische Vernetzung schafft, die bisher so deutlich nicht hergestellt wurde“
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28. August 2008
von Tom Levold
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OVG NRW: Systemische Therapie ist ein wissenschaftlich anerkanntes Verfahren

Anni Michelmann teilt für die DGSF mit:
Am 4. August 2008 hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) für das Land Nordrhein-Westfalen die Berufung des Landesprüfungsamtes der Bezirksregierung Düsseldorf gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts (VG) Düsseldorf vom 7. April 2006 zurückgewiesen ( Az.: 13 A 2146/06).
Der 13. Senat des OVG entschied über die Berufung durch Beschluss „weil er sie einstimmig für unbegründet und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht für erforderlich hält“.
In dem angefochtenen Urteil hatte das Verwaltungsgericht die Landesbehörde verpflichtet, den Antrag eines Institutes der DGSF vom 3. März 2003 auf Erteilung der Anerkennung als Ausbildungsstätte nach § 6 Abs.2 PsychThG für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten mit dem Vertiefungsgebiet Systemische Therapie/Familientherapie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes neu zu bescheiden. Das Landesprüfungsamt hatte zuvor den Antrag des Institutes mit der Begründung abgelehnt, dass der WBP 1999 die Wirksamkeit der ST/ FT verneint habe. Darauf komme es jedoch nicht an, vertrat das Gericht. Vielmehr sei entscheidend, ob die ST/ FT in der Wissenschaft und der Profession eine breite Resonanz gefunden habe. Dies sei unbestreitbar der Fall.
Das OVG „macht sich die Feststellungen des Verwaltungsgerichtes in vollem Umfang zu eigen“ und setzt sich bei der Auslegung des zentralen Begriffs der „wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren“ gemäß § 1 Abs.3 Psychotherapeutengesetz ausführlich mit der Intention des Gesetzgebers auseinander und zitiert aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 13/8035): „Der Gesetzesentwurf enthält keine Aufzählung der zulässigen psychotherapeutischen Verfahren. Weiterentwicklungen in diesem Bereich sollen nicht ausgeschlossen werden. Gerade im Bereich der beruflichen Definition psychotherapeutischer Tätigkeiten ist es nicht angezeigt, Verfahren auszugrenzen. Ihre wissenschaftliche Anerkennung bleibt indes Voraussetzung für die anerkannte Ausübung von Psychotherapie, um zu verhindern, dass die Befugnis zur Ausübung von Psychotherapie missbraucht wird.“ Vor diesem Gesetzeshintergrund „erscheint es dem Senat deshalb nicht geboten, die Anerkennung eines psychotherapeutischen Verfahrens (ausschließlich) von einem durch Studien belegten und nachgewiesenen Wirksamkeitsnachweis abhängig zu machen.“ Sowohl die Landesbehörden als auch der WBP seien an die dargelegte Auslegungsprämisse des Begriffs wissenschaftlich anerkannter Verfahren – nämlich Ausschluss von Scharlatanerie und Missbrauchsabwehr – gebunden.
Abschließend begründet das OVG den Zeitpunkt seiner jetzigen Entscheidung verbunden mit der Zulassung der Revision und dem inzwischen beim Bundesverwaltungsgericht anhängigen Verfahren zur Gesprächspsychotherapie damit, auf diesem Wege eine bundesgerichtliche Klärung zu ermöglichen.

28. August 2008
von Tom Levold
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Vorabdruck von Pauline Boss: Verlust, Trauma und Resilienz

Pauline Boss ist auch hierzulande vielen Kolleginnen und Kollegen durch ihre Arbeiten zum Thema des uneindeutigen Verlustes bekannt geworden. Damit wird einerseits der unklare Verlust einer Person bezeichnet, die körperlich nicht mehr präsent ist, etwa bei vermissten Personen, die aber aufgrund des unklaren Status ihrer Existenz auch nicht aufgegeben und betrauert werden kann. Andererseits kann aber auch ein uneindeutiger Verlust darin bestehen, dass ein Mensch noch körperlich anwesend ist, aber seine soziale Rolle nicht mehr erfüllen und in der Beziehung nicht mehr als Partner präsent sein kann, etwa bei Demenzkranken. Mit diesem Buch, das von Astrid Hildenbrand in gewohnter Qualität übersetzt worden ist und Ende dieser Woche bei Klett-Cotta erscheint, hat Pauline Boss ihr forscherisches und therapeutisches Lebenswerk zusammengefasst. systemagazin bringt einen Vorabdruck aus dem 7 Kapitel„Ambivalenz als etwas Normales begreiflich machen“, eine Rezension folgt.
Zum Vorabdruck geht es hier…

27. August 2008
von Tom Levold
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Anything goes

Die Streitschrift einer„anarchistischen Erkenntnistheorie“, die Paul Feyerabend unter dem Titel„Wider den Methodenzwang“ 1975 veröffentlicht hat, ist auch heute noch jedem zu empfehlen, der sich für die Grundlegung von Wissenschaft und Theoriearbeit interessiert.„Für eine Rezension von Feyerabends Thesen gilt im besonderen, was für jede Nacherzählung lebendiger Ideen gilt: Es geht nicht nur um die Inhalte – schon langsam Staub ansetzender – Schriften, sondern um den Geist, der aus ihnen spricht. ‚Anything goes.‘ Zu konstatieren ist, dass Feyerabend mit diesem – eigentlich lapidaren – Schlachtruf über Nacht weltberühmt und zu einem Klassiker des modernen erkenntnistheoretischen Denkens geworden ist“, schreibt Andreas Metzner in einem kurzen Beitrag über diesen Klassiker, der im Sammelband„Schlüsselwerke der Soziologie“ (hrsg. von Sven Papcke und Georg W. Osterdieckhoff) erschienen ist.
Im Internet zu lesen ist Metzners Beitrag hier…

26. August 2008
von Wolfgang Loth
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Human Dignity and Humiliation Studies

Die Ärztin, Psychologin und Sozialwissenschaftlerin Evelin E. Lindner (Foto) gründete 2001 auf Einladung des New Yorker Columbia University Conflict Resolution Network ein globales Netzwerk zur Erforschung von Rahmenbedingungen, die menschliche Würde fördern, bzw. in Form von Erniedrigung gefährden. Die Website des Netzwerks – der Human Dignity and Humiliation Studies (HDHS) – gibt Aufschluss über Selbstverständnis und Ziele. Es gehe um einen systemischen Wandel, global und lokal, der gegenseitigen Respekt und Wertschätzung fördere. Die Mitglieder von HDHS bezeichnen sich als weltanschaulich und politisch unabhängig. Ihr Vorgehen ist disziplinübergreifend. Einen Einblick in die das Projekt tragende Haltung gibt ein Aufsatz von Evelin Lindner zum Thema„Health and Illness in Relation to Dignity and Humiliation in Times of Global Interdependence“. Lindner gibt darin einen Überblick über die Entwicklung der Bedeutungsrahmen von Medizin und Gesundheitsberufen. Darüber hinausgehend verdeutlicht sie die Konsequenzen einer Sicht, in der die eigene Gesundheit nicht nur als privates Ereignis gerahmt wird, sondern auch wesentlich als ein soziales und gesellschaftliches Phänomen. Die Kriterien der WHO verweisen zwar auf Gesundheit als eine komplexe Wechselwirkung physischer, mentaler und sozialer Prozesse. Doch, so fragt Lindner, ist es nicht vielleicht so, dass Wohlbefinden und Gesundheit angesichts von Macht- und Reichtumsunterschieden nach den Vorstellungen und vielleicht unbewussten Motiven von Eliten definiert werden? Die Autorin verdeutlicht die globale Dimension dieses Themas. Für mehr siehe hier…
Evelin Lindner erhielt im Oktober 2006 den Preis für Angewandte Psychologie des Schweizerischen Berufsverband für Angewandte Psychologie SBAP. Den Vortrag von Evelin Lindner an der ETH Zürich zu diesem Anlass („Auswirkungen von Demütigung auf Menschen und Völker“) gibt es hier…
Die Website von HDHS stellt eine umfangreiche Sammlung von Texten online zur Verfügung. Unter anderem gibt es einen link zu einem Aufsatz von Beth Fisher-Yoshida (2005): Reframing Conflict: Intercultural Conflict as Potential Transformation [J of Intercultural Communication No.8, 2005]. Die Autorin reflektiert Konflikte als Möglichkeiten, bisherige Prämissen und Bevorzugungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern. Konfliktlösung, interkulturelle Kommunikation und Vielfalt, sowie transformatives Lernen sind dabei tragende Konzepte. Zum Text von Beth Fisher-Yoshida geht’s hier….
Mit Carlos Sluzki trifft man in der Liste der AutorInnen einen„alten Bekannten“. In Global Studies Review (2006) berichtete er über einen Besuch in einem UNHCR Flüchtlingscamp in Ruanda. Sluzki fragte sich, und gibt darüber in seinem Bericht Aufschluss, wie Camps aufgebaut sein sollten, damit sie sowohl kurzfristig unter den Nägeln brennende Bedürfnisse berücksichtigen als auch die Realität eines längerfristigen Aufenthalts. Zu Sluzkis Text („Short Term Heaven, Long Term Limbo“) geht es hier…
Wer mehr zum HDHS-Netzwerk erfahren will, kann das hier… Und die vollständige Übersicht über die online zugänglichen Publikationen gibt es hier…

25. August 2008
von Tom Levold
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Bundesagentur für Arbeit: Demenzkranke sollen Langzeitarbeitslose betreuen

Endlich wirksame Unterstützung für belastete ALG-II-Empfänger: Die Bundesagentur für Arbeit will mehrere tausend Demenzkranke für einen Job in der Betreuung von Langzeit-Arbeitslosen anwerben. Die neuen Arbeitskräfte sollen als Agentur-Assistenten die Betroffenen aufmuntern und über den Verlust der Perspektive hinwegtrösten. Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums bestätigte am Samstag einen entsprechenden Bericht der„Süddeutschen Zeitung“ (SZ):„Hier kann etwas Gutes geleistet werden“. Nach einer kurzen Weiterbildung könnten die dementen Menschen sich wieder gebraucht fühlen. Die Qualifizierungszeit könne auf einem minimalen Niveau gehalten werden, da Demenzkranke ohnehin schnell vergessen würden. Zwar liege in dieser Tatsache ein gewisser Nachteil, der allerdings dadurch mehr als ausgeglichen würde, dass auch frustrierende Erfahrungen im Einsatz erfahrungsgemäß ebenso schnell vergessen werden. Insofern sei die burn-out-Gefahr hier vergleichsweise niedrig. Außerdem könnten die Löhne für die Einsätze optimal mit den hohen Pflegekosten verrechnet werden, die bei den Demenzkranken anfallen, was Angehörige und Sozialämter entlasten könne. Insgesamt sollen bundesweit für das Programm, das am 1. September starten soll, etwa 10.000 Stellen geschaffen werden. Unklar ist bislang noch, wie die Demenzkranken ohne Begleitung zu ihrem Einsatzort gelangen.

24. August 2008
von Tom Levold
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Methodenintegrative Supervision

Albrecht Boeckh, Gestalttherapeut und Supervisor, hat bei Klett-Cotta ein Lehrbuch der methodenintegrativen Supervision veröffentlicht, in dem sich laut Verlagsangaben„Supervisionsansätze aus allen maßgeblichen psychotherapeutischen Schulen wiederfinden können“. Auch wenn es positive Rezensionen zum Buch gibt, systemagazin-Rezensentin Heidi Neumann-Wirsig, systemische Lehrende Supervisorin aus Mannheim, kann da nicht so richtig zustimmen:„Wem würde ich das Buch also empfehlen? Als Leitfaden für die Ausbildung ist es ungeeignet. Neues enthält es nicht, neue Zusammenhänge konnte ich nicht entdecken, das Konzept des Autors ist mir nicht klar geworden. Positiv ist zu erwähnen, dass sich das Buch leicht liest. Bleibt die Frage, wem würde ich das Buch empfehlen?“ Auch wenn ihre Frage unbeantwortet bleibt, führt dieser Link
Zur vollständigen Rezension…

23. August 2008
von Tom Levold
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Psychosomatik

Siebenmal mein Körper

Mein Körper ist ein schutzlos Ding,
wie gut, daß er mich hat.
Ich hülle ihn in Tuch und Garn
und mach ihn täglich satt.

Mein Körper hat es gut bei mir,
ich geb‘ ihm Brot und Wein.
Er kriegt von beidem nie genug,
und nachher muß er spein.

Mein Körper hält sich nicht an mich,
er tut, was ich nicht darf.
Ich wärme mich an Bild, Wort, Klang,
ihn machen Körper scharf.

Mein Körper macht nur, was er will,
macht Schmutz, Schweiß, Haar und Horn.
Ich wasche und beschneide ihn
von hinten und von vorn.

Mein Körper ist voll Unvernunft,
ist gierig, faul und geil.
Tagtäglich geht er mehr kaputt,
ich mach ihn wieder heil.

Mein Körper kennt nicht Maß noch Dank,
er tut mir manchmal weh.
Ich bring ihn trotzdem übern Berg
und fahr ihn an die See.

Mein Körper ist so unsozial.
Ich rede, er bleibt stumm.
Ich leb ein Leben lang für ihn.
Er bringt mich langsam um.

(Robert Gernhard, Reim und Zeit. Gedicht, Reclam 2005)