systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

22. April 2021
von Tom Levold
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Peter Fürstenau (20.5.1930 – 27.3.2021)

Am 27.3.2021 ist Peter Fürstenau in Düsseldorf gestorben – zwei Monate vor seinem 91. Geburtstag. Damit verliert die Psychotherapie in Deutschland einen ihrer herausragenden Vertreter, obwohl oder gerade weil er nie als ein Vertreter einer Schule, eines Institutes oder eines Verbandes aufgetreten ist. Im Gegenteil hat er immer eine dezidiert unabhängige Position zu allen Versuchen eingenommen, Psychotherapie, Beratung oder Supervision dem Weltbild oder den wissenschaftlichen, persönlichen oder wirtschaftlichen Interessen von individuellen oder organisationalen Akteuren im psychosozialen Feld unterzuordnen. Schulenorientierung hatte für ihn „viel mit Indoktrination und Ideologie zu tun“. Stattdessen plädierte er dafür, „Psychotherapie nicht auf Methoden, Schulen und Tradition zu basieren, sondern sich wirklich um eine umfassende, dem zeitgenössischen Erfahrungsschatz entsprechende Ausübung von Psychotherapie zu bemühen. Das heißt natürlich, es geht dann auch um die Spannweite des Begriffs ,Psychotherapie’. Das, was die bisherigen Schulen und Methoden an Psychotherapie betreiben, schöpft den Begriff der Psychotherapie nicht aus. Nach meiner Vorstellung gehört zur Psychotherapie gerade nicht nur die sog. Fachpsychotherapie, sondern eben der psychologische Umgang mit kranken, gestörten Menschen, eben gerade auch der Umgang mit organisch oder chronisch Kranken, also Patienten, die nicht in erster Linie oder ausschließlich psychogen krank sind wie Neurotiker. Die gesamte Psychotherapie ist ja weitgehend im Sinne der Richtlinien-Psychotherapie eine Neurotikertherapie und wird deshalb dem Gesamtfeld möglicher psychotherapeutischer Tätigkeiten überhaupt nicht gerecht“ (Fürstenau & Senf 2002, S. 93).

Als ausgebildeter Psychoanalytiker hielt er damit nicht nur seiner Zunft einen kritischen Spiegel vor. Der Psychoanalyse freilich, deren Mainstream er eine Tendenz zu einer „Esoterischen Psychoanalyse“ bescheinigte, „eine psychoanalytische Methode Schritt für Schritt auszuarbeiten, zu entwickeln und zu perfektionieren, die möglichst rein und klar auf das Originelle der Psychoanalyse (die »Essentials«) konzentriert ist“ und für die „schon die Kommunikation mit den gesunden Ich-Anteilen des Analysanden, seinem bewussten Willen, seinen Plänen und Absichten ein Agieren (ist), das die Deutung unbewusster pathologischer Anteile vermeidet“ , stellte er ein Konzept einer „Exoterischen Psychoanalyse“ gegenüber, die offen gegenüber einer „lösungsorientierten, psychoanalytisch-systemischen kurz- und mittelfristigen Psychotherapie“ sein müsse (Fürstenau 2007, S. 51ff.). Diese Distanz zum psychoanalytischen Mainstream ermöglichte ihm, seine jahrzehntelange psychotherapeutische und supervisorische Tätigkeit ohne jede Berührungsängste und -vorbehalte zu entwickeln und zu differenzieren.

Ursprünglich hatte Fürstenau, der 1930 in Berlin geboren wurde, von 1948 bis 1956 ein Studium der Philosophie, Soziologie und der Klassischen Philologie (Gräzistik) in Berlin und Frankfurt am Main absolviert, das er mit seiner Promotion 1956 abschloss. Seine Studie über Heidegger und „Das Gefüge seines Denkens“ erschien 1958 bei Klostermann in Frankfurt/M. Beruflich schloss sich 1957 bis 1960 eine Anstellung als Wissenschaftlicher Assistent, später als Dozent für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Berlin an. Peter Fürstenau wechselte dann nach Gießen, wo er von 1962 – 1973 Mitarbeiter am Zentrum für psychosomatische Medizin des Fachbereichs Humanmedizin der Universität Gießen war, das von Horst Eberhard Richter geleitet wurde, damals ein Pionier der psychoanalytisch orientierten Familientherapie in Deutschland. Nach seiner Habilitation 1969 erhielt er in Gießen eine Professur für Psychoanalyse und Soziologie, die er ab 1973 nebenamtlich als Honorarprofessor weiterführte. Eine Veröffentlichung aus dieser Zeit, seine „Soziologie der Kindheit“ (Quelle & Meyer-Verlag Heidelberg 1967), in der er psychoanalytische, psychologische, kulturanthropologische und soziologische Konzepte der Sozialisations- und Erziehungsforschung vorstellte, machte mich in meinem Studium erstmals mit seinem Namen bekannt. In den Folgejahren pflegte er eine psychotherapeutische Privatpraxis für Einzel-, Paar-, Familientherapie in Düsseldorf und wurde über diese Tätigkeit hinaus weit bekannt für seine breite Beratungs-, Fort- und Weiterbildungstätigkeit in therapeutischen und organisationalen Kontexten, die er nicht nur in Düsseldorf, sondern über viele Jahre auch immer wieder in Venedig durchführte, ein Lernort, der nicht nur für ihn, sondern auch für viele Teilnehmer eine besondere Aura hatte.

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19. April 2021
von Tom Levold
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Abschiede

Die aktuelle Ausgabe der Familiendynamik ist mit dem Thema Abschied nehmen beschäftigt, das je nachdem, ob geplant oder plötzlich, ob gewollt oder ungewollt, ob absehbar oder überraschend in allen möglichen Lebenskontexten, in Therapie, Berufsleben, Alter und Tod von Bedeutung ist. Neben den inhaltlichen Arbeiten zum Thema nimmt Marc Rackelmann in einem Nachruf Abschied von David Schnarch, der bereits am 8.10.2020 verstorben ist. In diesem Zusammenhang wird im Editorial auch kurz darauf hingewiesen, dass Heiko Kleve nach nur kurzer Zeit als Mitherausgeber das Herausgebergremium der Familiendynamik wieder verlässt – in gegenseitigem Einvernehmen…

Alle bibliografischen Angaben und abstracts gibt es wie immer hier…

16. April 2021
von Tom Levold
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Mut – Perspektive und Inspiration

Das erste Heft des Jahrgangs von systhema ist dem Thema Mut gewidmet, einem Gegenstand, den wir (nicht nur) in der gegenwärtigen Situation wohl gut gebrauchen können. Kerstin Schmidt schreibt in ihrem Editorial: „Bereits zu Beginn der Corona-Pandemie wuchs in mir die Idee, die erste Ausgabe 2021 mit einem Themenschwerpunkt zu gestalten – damals mit voller Überzeugung, dass wir zurückschauen werden auf eine außergewöhnliche Zeit. Nun sind wir noch immer mittendrin. Das Thema, so dachte ich mir, sollte eines sein, was per se für systemische Praxis von Bedeutung ist und gleichzeitig Raum lässt, das Außergewöhnliche zu reflektieren: Mut. Von Shakespeare stammt der Satz: „Es steigt der Mut mit der Gelegenheit.“ Für das Entstehen-Lassen neuer Gelegenheiten fühlen wir uns in systemischer Praxis ja durchaus zuständig. Und sowohl Klientinnen, Kundinnen als auch Praktiker*innen, so meine Erfahrung, entdecken Mut oft als wertvolle Ressource für anstehende Entwicklungen – welcher Art auch immer. Im Sommer 2020 erschien „Nur Mut!“ von Harry Gatterer und Matthias Horx vom Zukunftsinstitut: Leitbilder und Denkweisen für die Gestaltung einer „besseren Zukunft“. Und im Januar 2021 stahl eine junge Amerikanerin dem neuen US-Präsidenten Biden bei seiner Amtseinführung die Show: Amanda Gorman. Ihre Zeilen: „Es gibt immer Licht. Wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen – wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein“ gingen um die Welt. Mut in vieler Munde – doch: Was hat es auf sich mit Mut? Welchen Mehrwert hat die Perspektive Mut? Und: Zu was kann sie uns inspirieren?“

Neben vielen verschiedenen Texten zum Thema nehmen Arist von Schlippe, Michael Grabbe, Haja Molter, Ursula Tröscher-Hüfner, Hans Lieb, Stephan Theiling, Claudia Terrahe-Hecking, Angelika Pannen-Burchartz und Cornelia Hennecke Abschied von Barbara Brink, die am 28.1.2021 gestorben ist. Die vollständigen bibliografischen Angaben und abstracts gibt es hier…

14. April 2021
von Tom Levold
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Kybernetik, Kommunikation und Konflikt

Lina Nagel ist seit 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin am WIFU-Stiftungslehrstuhl für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien. In ihrer Dissertation befasst sie sich mit Konflikten und der Konfliktbearbeitung in Unternehmerfamilien.​​ Zuvor hat sie ihren Bachelor in Medien- und Erziehungswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum gemacht, gefolgt von einem Auslandsstudium in Taiwan. Ihr Masterstudium in Ethik und Organisation an der Universität Witten/Herdecke schloss sie mit einer Arbeit über ein kybernetisch-systemisches Konfliktverständnis ab, das auf der Erkenntnistheorie Gregory Batesons aufbaut. Diese Arbeit ist in der Reihe „Systemische Forschung“ des Carl-Auer Verlages in diesem Frühjahr erschienen. Wolfram Lutterer hat das Buch für systemagazin gelesen:

Wolfram Lutterer, Freiburg:

Kybernetik, Kommunikation und Konflikt ist ursprünglich als eine Masterarbeit an der Universität Witten/Herdecke entstanden. Von dort aus hat sie, versehen mit zwei Vorworten von Arist von Schlip­pe sowie von Anita von Hertel den Weg in den Carl-Auer Verlag gefunden. Lina Nagel hat es sich darin zur Aufgabe gemacht, ein kybernetisch orientiertes Konfliktverständnis zu entwickeln, das sich einerseits an der Praxis bewährt, in den konflikttheoretischen Diskurs eingebettet ist sowie sich an der kybernetischen Erkenntnistheorie Gregory Batesons als besonderem Mehrwert orientiert. Dieses Unterfangen ist ihr gelungen.

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12. April 2021
von Tom Levold
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Arist von Schlippe wird 70!

Heute feiert Arist von Schlippe seinen 70. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen. Lieber Arist, wir kennen uns seit über 35 Jahren und waren doch zunächst eher auf Abstand, weil der Beginn unserer Bekanntschaft eine kritische Auseinandersetzung in der Zeitschrift für Systemische Therapie war. Du warst in der Weinheimer Szene aktiv, mit der ich überhaupt nichts zu tun hatte – die systemische Szene war damals noch recht zersplittert, in der DAF tummelten sich alle möglichen Menschen, die sich für die Arbeit mit Familien interessierten, mit einer Vielfalt von inhaltlichen Orientierungen und organisationalen Verbindungen. Als einem Soziologen mit einem psychoanalytischen Hintergrund und einer damals schon intensiven Beschäftigung mit der Luhmann’schen Systemtheorie war mir die Emphase des Erbes der humanistischen Verfahrensweisen in der Psychotherapie, die mir charakteristisch für die „Weinheimer“ schien, eher fremd. Mit Virginia Satir, deiner Lehrerin, die so gerne alle Leute anfasste, wurde ich nicht warm – erst später musste ich mir eingestehen, dass ich sie und ihr Werk ziemlich ignorant sehr unterschätzt habe. Jedenfalls lernten wir uns erst gründlicher kennen, als wir die Systemische Gesellschaft 1993 gründeten – und im Zweifel waren, ob das Weinheimer Institut darin einen Platz haben könnte. Deshalb luden wir erst einmal dich ein und nicht das Institut als solches, was natürlich als Affront erlebt werden musste. Diese Zweifel wurden dann doch schnell zerstreut, was in hohem Maße mit deiner Fähigkeit zusammenhing, Verbindungen herzustellen und auch konflikthafte Episoden nicht zu verübeln, sondern nach Möglichkeiten zu schauen, gemeinsame Schritte in die beste Richtung zu gehen.

Im Laufe der Jahre wurde dann aus unserer Beziehung eine wichtige Freundschaft, die sich bis heute erhalten und vertieft hat. Unsere vielen beruflichen und privaten Treffen sind für mich immer kostbare Begegnungen gewesen, wir haben gegessen, getrunken und viel sauniert, haben uns über neue Theorien ausgetauscht, über unsere Arbeitsfelder, über neue Technologien im Computer-, Handy-, Software- und Fotobereich, und haben intensiven Anteil an unseren Familienbeziehungen und deren Entwicklungen genommen. Darüber freue ich mich sehr und möchte dir für diese langjährige Freundschaft danken.

Über die Vielseitigkeit deines Wirkens muss ich wohl kaum Worte verlieren. Es gibt wahrscheinlich wenige Themen, zu denen du nicht schon Kluges und Verbindliches gesagt und geschrieben hast. Deine publizistische Tätigkeit ist als Autor und Herausgeber outstanding, deine Tätigkeit als Mitbegründer der Weinheimer systhema, langjähriger Mitherausgeber der Familiendynamik, Herausgeber der Reihe Leben.Lieben.Arbeiten und als Autor der Lehrbücher, die du mit Jochen Schweitzer verfasst hat, spricht für sich. In den letzten Jahren hast du die systemische Beschäftigung mit Familienunternehmen, die Fritz Simon in Witten im Zuge der damaligen Stiftungsprofessur der Deutschen Bank begonnen hatte, vertieft und konsolidiert – ein weiteres Arbeitsgebiet, in dem sich unsere Interessen begegnen und in dem wir uns immer gegenseitig befruchten. Das alles ist wirklich großartig.

Neben deinen vielen Beiträgen und wichtigen Leistungen (deine sechsjährige Tätigkeit als SG-Vorstandsvorsitzender nicht zu vergessen) möchte ich aber vor allem deine unglaublich integrative Art hervorheben, deine Fähigkeit, Frieden zu stiften, Prozesse anzuregen und in Gang zu setzen, dich für andere Menschen einzusetzen – und das alles mit einem wunderbaren Sinn für Witz und Humor, der es in den letzten Jahren ja auch zu einigen publizistischen Höhepunkten in den gemeinsamen Büchern mit deinem Bruder Björn gebracht hat. Es ist einfach schön, dein Freund zu sein! Dafür und für alles andere danke ich dir. Zum Geburtstag wünsche ich dir alles Gute, von einem Ruhestand kann meines Wissens nicht die Rede sein, von daher bin ich zuversichtlich, auch zukünftig von deinen Ideen, deinen Projekten und deiner Zuneigung profitieren zu können. Die dafür nötige Energie und Lust wünsche ich dir!

Also noch einmal die herzlichsten Glückwünsche zum Geburtstag – in die an dieser Stelle auch wieder ein Chor von Gratulanten einstimmt

Tom Levold
Herausgeber systemagazin

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11. April 2021
von Tom Levold
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Der Trend zur hierarchiearmen Organisation

Heute wird Rudolf Wimmer 75 Jahre alt und systemagazin gratuliert ganz herzlich. Rudolf Wimmer ist einer der brillantesten Organisationsforscher, -theoretiker und -berater unserer Zeit und hat seit vielen Jahrzehnten maßgebliche Beiträge zur Weiterentwicklung eines systemtheoretischen Verständnisses von Organisationen und angemessener Beratungskonzepte geleistet. Seine Arbeiten zeichnen sich durch einen prägnanten und klaren Stil aus, der seine analytische Tiefe bestens zum Ausdruck bringt. Rudolf Wimmer studierte Rechts- und Staatswissenschaften, Politikwissenschaft sowie Philosophie an der Universität Wien. Seine Habilitation erlangte er im Bereich der Gruppendynamik und Organisationsberatung an der Universität Klagenfurt.

Bereits seit 1988 ist er Geschäftsführender Gesellschafter der osb international Consulting AG in Wien, die er auch mit begründet hat. Er war Gründungsprofessor des Wittener Instituts für Familienunternehmen WIFU an der Universität Witten/Herdecke und von 1999 bis 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Führung und Dynamik von Familienunternehmen. Seit Seit 2004 nimmt er eine außerplanmäßiger Professur am WIFU wahr. Von 2012 bis 2016 war er Vizepräsident der Universität Witten/Herdecke.

In einer Veröffentlichung aus dem Jahre 2019, die er gemeinsam mit Thomas Schumacher für die Zeitschrift OrganisationsEntwicklung verfasst hat, beschäftigten sich die Autoren mit dem Trend zu hierarchiearmen Organisationen, der sich in Modellen wie Soziokratie oder Holakratie zeigt, und prüfen das Verhältnis von hierarchischen und heterarchischen Modellen unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung notwendiger Führungsaufgaben. Der Text kann hier online gelesen werden…

Lieber Rudi, zum 75. Geburtstag alles Gute, Gesundheit und viel Neugier und Schaffenskraft für all deine zukünftigen Projekte!

Herzliche Grüße, Tom

4. April 2021
von Tom Levold
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Frohe Ostern!

(Foto: Tom Levold)

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern des systemagazins frohe und entspannte, vor allem gesunde Ostertage!

Tom Levold
Herausgeber systemagazin

3. April 2021
von Tom Levold
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Zahl der Psychotherapeutinnen und -therapeuten von 2015 bis 2019 um 19 % gestiegen

  • 72 % der Psychotherapeutinnen und -therapeuten arbeiteten in einer Praxis
  • 18 000 Kinder und Jugendliche mit einer Depression wurden 2019 im Krankenhaus behandelt, 24 % mehr als 2015
  • Zahl der Psychologie-Studierenden stieg vom Wintersemester 2015/16 bis Wintersemester 2019/20 um 28 %

WIESBADEN – Existenzängste, soziale Isolation, Stress: Die Corona-Pandemie belastet die Psyche. Schon vor der Corona-Krise nahm die Zahl der Psychotherapeutinnen und -therapeuten in Deutschland zu. Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, arbeiteten 2019 hierzulande rund 48 000 Psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten; das waren 19 % mehr als fünf Jahre zuvor. Ihre Zahl stieg seit dem Jahr 2015 stetig jedes Jahr durchschnittlich um 2 000 an.

Viele Menschen wenden sich bei psychischen Problemen nicht direkt an eine Klinik, sondern suchen erst einmal Hilfe bei ambulanten psychotherapeutischen Praxen. 2019 arbeiteten knapp 35 000 Psychotherapeutinnen und -therapeuten – fast drei Viertel – in solchen Praxen. Die restliche Anzahl der Therapeutinnen und -therapeuten verteilte sich auf sonstige (ambulante) Einrichtungen, Krankenhäuser, Vorsorge- und Reha-Einrichtungen oder Verwaltungen.

264 000 Menschen wegen Depression im Krankenhaus

Bereits 2019 wurden allein 264 000 Patientinnen und Patienten mit einer diagnostizierten Depression im Krankenhaus behandelt. Bei gut 106 000 wurde eine depressive Episode diagnostiziert, die übrigen litten unter sogenannten rezidivierenden depressiven Störungen. Damit sind wiederkehrende Depressionen wie die Winterdepression gemeint. Frauen sind mit einem Anteil von 61 % insgesamt stärker von im Krankenhaus behandelten Depressionen betroffen. 

Klinikaufenthalte wegen Depression bei Kindern und Jugendlichen haben zugenommen

Kinder und Jugendliche werden bei Berichten über Depressionen in der Corona-Pandemie häufig genannt. Sie leiden besonders unter Isolation durch Kontaktsperren und Homeschooling. Bereits vor der Pandemie hat die Zahl der mit Depressionen im Krankenhaus behandelten Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren überdurchschnittlich stark zugenommen: Während die Zahl aller Patientinnen und Patienten, die mit Depressionen aus dem Krankenhaus entlassen wurden, von 2015 bis 2019 um ein halbes Prozent zunahm (2015: 263 000 Patientinnen und Patienten), erhöhte sie sich bei Kindern und Jugendlichen im selben Zeitraum um 24 % auf 18 000 Patienten und Patienten 2015: 14 500). 

Ein Drittel der Therapierenden arbeitete zuletzt in Teilzeit

Insgesamt übten im Jahr 2019 über ein Drittel (18 000) der Therapeutinnen und Therapeuten ihre Tätigkeit in Teilzeit aus, darunter waren knapp 12 000 Frauen (85 %). Fast genauso hoch war der Anteil von Frauen (80 %), die geringfügig als Psychotherapeutinnen beschäftigt waren. Insgesamt betrachtet waren 2019 drei von vier Therapierenden Frauen. 

28 % mehr Studierende der Psychologie vom WS 2015/16 bis WS 2019/20 

Wie die Zahl der Therapeutinnen und -therapeuten ist auch das Interesse am Studienfach Psychologie stark gestiegen. Das zeigt sich in der Zahl der Studierenden: Im Wintersemester 2019/2020 waren rund 91 000 Studierende im Fach Psychologie eingeschrieben. Das waren 28 % mehr als fünf Jahre zuvor (WS 2015/2016: 71 000). Zum Vergleich: Insgesamt erhöhte sich die Zahl der Studierenden an Hochschulen in Deutschland im selben Zeitraum um 4,8 % auf 2,9 Millionen.

Für den Boom des Psychologiestudiums waren ebenfalls vor allem Frauen verantwortlich. Im WS 2019/20 waren drei von vier Studierenden dieses Studienfachs Frauen. Im Durchschnitt aller Studierenden war nur jede zweite eine Frau (49 %).

Der Großteil der Studierenden studierte auf eine praktische berufliche Tätigkeit hin: Nur 360 Studierende (0,4 % aller Psychologiestudierenden) wählten im WS 2019/20 die Prüfungsgruppe Lehramt. Im Prüfungsjahr 2019 absolvierten 15 900 Studierende der Psychologie erfolgreich eine Abschlussprüfung, davon etwa ein Drittel (5 900) mit dem Masterabschluss. 

Methodischer Hinweis:
Die Daten zu den Psychotherapeutinnen und -therapeuten beziehen sich auf die Gruppe der Psychologischen Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten. Ärztliche Psychotherapeuten, deren Qualifikation über ein Medizinstudium und anschließende Weiterbildungen erfolgt, werden nicht thematisiert.

(Quelle: Statistisches Bundesamt www.destatis.de

2. April 2021
von Tom Levold
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Embodiment und Wirkfaktoren in Therapie, Beratung und Coaching

Im aktuellen Heft von Organisationsberatung Supervision Coaching ist ein Artikel von Wolfgang Tschacher und Bettina Bannwart über Embodiment und Wirkfaktoren in Therapie, Beratung und Coaching zu lesen, der über Open Access frei zugänglich ist. Im abstract heißt es: „Die Kognitionswissenschaften betonen die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen geistigen und körperlichen Prozessen und deren Einbettung in die soziale und physikalische Umwelt („Embodiment“). Dieser Ansatz erbringt Implikationen für das Verständnis von sozialer Interaktion, die durch körperliche Synchronie und allgemeine Wirkfaktoren gekennzeichnet ist. Auf Basis der Forschung zeigt sich, dass Psychotherapie, Beratung, Coaching und Lehr-Lern-Prozesse als Tätigkeiten im Bereich des sozialen Lernens in analoger Weise mit der Verkörperung des Geistes und den therapeutischen Wirkfaktoren in Beziehung stehen. Die Therapeutenfaktoren von resilienter Abstinenz und Achtsamkeit kennzeichnen auch das lösungsorientierte Coaching.“

Der vollständige Text kann hier gelesen und heruntergeladen werden…

30. März 2021
von Tom Levold
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Der Körper in der Beratung

Es ist über ein Jahr her, dass ich zum letzten Mal einem Menschen die Hand gegeben habe. Auch wenn ich in meiner Praxis meine Klienten und Kunden noch überwiegend persönlich sehe, hat sich der Bezug auf den Körper als nicht nur eine Randbedingung für Beratungs- und Therapieprozesse mehr oder weniger subtil verändert. Seminare finden nur noch online statt, es entsteht eine fiktive Körperlichkeit im der Gruppenwahrnehmung, die dennoch so fundamental anders ist als von Präsenzveranstaltungen gewohnt. Das aktuelle Heft der OSC (Organisationsberatung, Supervision, Coaching) befasst sich mit der Bedeutung des Körpers in der Beratung. Im Editorial heißt es: „Die Beratungstätigkeit unter Beachtung der Hygienebedingungen während der aktuellen Coronavirus-Pandemie geben uns unübersehbare Hinweise zur Rolle des Körpers in der Beratung. Was sonst so selbstverständlich und unbewusst die Beratungsarbeit begleitet, rückt mehr in die bewusste Aufmerksamkeit. Das nonverbale, meist un- und randbewusste leibliche Geschehen, die latente Beteiligung, Rolle und Mitwirkung des Körpers im Beratungsprozess werden durch den Verlust von Nähe, Beweglichkeit, sichtbarer Mimik und Gestik so eindrücklich deutlich. Die Perspektive des „Embodiment“, der Verkörperung und Leiblichkeit kognitiver und psychischer Prozesse findet in der arbeitsweltlichen Beratung zwar noch etwas zögerlich, aber zunehmend mehr Beachtung. In den Referenzwissenschaften von Supervision und Coaching – Soziologie, Psychotherapie, Pädagogik, Kognitions-, Emotions- und Kommunikationswissenschaften – ist Embodiment als wissenschaftlicher Begriff für eine konzeptionelle Neuorientierung eingeführt und steht für seriöse wissenschaftliche Diskurse, die die Rolle des Körpers in dem gesamten Geschehen von Denken, Fühlen und Handeln hervorheben und berücksichtigen. Dieses Schwerpunktheft verfolgt das Anliegen, einen Einblick in Forschung und Praxis verkörperter bzw. embodimentorientierter Beratung zu geben, Anregungen aus den Verkörperungsdiskursen in den Referenzwissenschaften aufzugreifen und auf ihre Relevanz und Übertragbarkeit für die arbeitsweltliche Beratung zu prüfen.“

Alle bibliografischen Angaben und abstracts finden Sie hier…

19. März 2021
von Tom Levold
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Möglichkeiten … und mehr. Ein Blick hinter die psychotherapeutischen Kulissen

Hinter diesem Titel verbirgt sich die neueste literarische Arbeit von Jürgen Hargens, die in diesem Jahr im trafo-Verlag Berlin erscheint. Im Februar gab es eine Lesung am Institut für lösungsfokussierte Kommunikation, die als Video auch online betrachtet werden kann. Frederic Linßen, der das Institut leitet, hat folgenden Text zum Buch verfasst:

Frederic Linßen: Keine Rezension, keine Würdigung, sondern einfach eine persönliche Erfahrung

Der neue Erzählband von Jürgen Hargens – MÖGLICHKEITEN … und mehr. Ein Blick hinter die therapeutischen Kulissen hat mich zu diesen persönlichen Betrachtungen und Überlegungen angeregt. Möglichkeiten scheint eine in meinen Augen treffende Beschreibung für vieles von dem zu sein, was Jürgen seit den 1970er Jahren in Bewegung gesetzt hat.

Den meisten Leserinnen und Lesern des systemagazins dürfte er bekannt sein – 1983 Gründer und zehn Jahre Herausgeber der Zeitschrift für systemische Therapie, jetzt mit dem Zusatz und Beratung –, begann er 1986 mit der Herausgabe der Buchreihe systemische studien, in der 21 Bände erschienen sind. 1979 eröffnete er seine Praxis – systemische Therapie war das Kennzeichen -, gab an verschiedenen Instituten regelmäßig Kurse und publizierte selber Fachbeiträge. Seine Reisen in die USA und Kanada ermöglichten es ihm, vor Ort fast alle damals wichtigen Fachpersonen nicht nur kennenzulernen, sondern auch in ihrer Arbeit und ihrem Alltag zu erleben. 

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16. März 2021
von Tom Levold
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Resonanz statt Ressourcen?

In den von der Lehranstalt für systemische Familientherapie in Wien herausgegebenen Systemischen Notizen 2/2019 beschäftigt sich Claudia Gröger-Klein mit möglichen Auswirkungen resonanztheoretischer Überlegungen auf die Praxis systemischer Therapie und geht der Frage nach, inwiefern die Resonanztheorie des Soziologen Hartmut Rosa für die therapeutische Praxis nutzbar gemacht werden kann. In der Einleitung heißt es: „Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa entwirft in seinem 2016 erstmals erschienen Werk Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung eine Theorie, wie (gutes) Leben gelingen kann. Eine Frage, die in vielen psychotherapeutischen Prozessen mehr oder weniger implizit eine wesentliche Rolle spielt. Sei es auf Seiten (systemischer) Psychotherapeutinnen bei der Bildung von Hypothesen und Leitdifferenzen oder auch in den Vorstellungen der Klientinnen, die ihr Leiden und ihre Probleme als Abweichung von jenen Zuständen erleben, die sie mit einem guten, gelingenden Leben verbinden. Resonanz nach Rosa verstanden als ein bestimmter ,Beziehungsmodus zur Welt’ taucht auch in psychotherapeutischen Prozessen in Form der Erzählungen von Klientinnen über An- oder Abwesenheit von, bzw. die Sehnsucht nach Resonanzerfahrungen auf, und bleiben oftmals als bedeutsam in Erinnerung. Welche möglichen Auswirkungen hat es nun bzw. welchen Unterschied macht es, wenn ich als systemische Psychotherapeutin jene Erzählungen vor dem Hintergrund der Resonanztheorie wahrnehme, sie nicht unter Ressourcen bzw. dem Fehlen von Ressourcen subsumiere, sondern resonanztheoretische Überlegungen zur Hypothesen- und Leitdifferenzbildung heranziehe und auch im Rahmen von Interventionen berücksichtige? Dieser Frage widmet sich der vorliegende Beitrag in der Hoffnung, dass er zum Weiterdenken und zu interessanten Diskussionen anregt.

Der Text kann nicht unter dem direkten Link heruntergeladen werden, sondern ist nur auf dieser Liste erreichbar.