systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

18. März 2009
von Tom Levold
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Theorie U: Von der Zukunft her führen

Nachdem vorgestern an dieser Stelle bereits ein Vorabdruck aus C. Otto Scharmers„Theorie U“ zu lesen war, gibt es heute noch einen kleinen Nachschlag. Sein Text über„Presencing als evolutionäre Grammatik und soziale Technik für die Erschliessung des vierten Feldes sozialen Werdens“ ist eine Übersetzung der Einführung der englischen Fassung seines Buches und in der Zeitschrift„Gesprächspsychotherapie und Personenzentrierte Beratung“ 4/2007 erschienen:„Indem ich Sie zu diesem Feldgang einlade, werde ich mich auf drei Methoden beziehen bzw. sie einsetzen: Phänomenologie, Dialog und kollaborative Aktionsforschung. Alle drei beziehen sich auf den gleichen Kern: die wechselseitig verbundene Qualität von Wissen, Wirklichkeit und Selbst. Alle drei folgen dem Diktum von Kurt Lewin, dem Begründer der Aktionsforschung, dessen These lautete: „Du hast ein System nicht verstanden, solange Du es nicht verändern kannst.“ Jede der drei Methoden verfolgt einen unterschiedlichen Schwerpunkt: Phänomenologie setzt an der Perspektive der 1. Person (dem individuellen Bewusstsein); Dialog an der Perspektive der 2. Person (Felder der Konversation); und Aktionsforschung an der Perspektive der 3. Person (Hervorbringung von neuen institutionellen Mustern und Strukturen)“
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17. März 2009
von Tom Levold
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„Wir werden aufpassen müssen…“

In Heft 2/2008 des Kontext erschien zum 70. Geburtstag von Wilhelm Rotthaus ein ausführliches Gespräch, das Wilhelm Rotthaus mit Tom Levold geführt hat. Auf der website der DGSF kann das Gespräch als Datei heruntergeladen werden. Zur aktuellen Situation um die Anerkennung der Systemischen Therapie sagt Wilhelm Rotthaus:„Ich glaube, wir haben angesichts der Tatsache, dass systemische Gedanken und Methoden zunehmend von anderen Verfahren vereinnahmt werden, richtig damit gehandelt, dem Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie die Expertise vorzulegen. Das ist unser Versuch, mit den anderen Verfahren auf eine gleichberechtigte Ebene gehen zu können. Schließlich haben wir etwas zu bieten, nicht nur eine bestechende Methodenvielfalt, sondern vor allem auch sehr eigenständiges Theoriekonzept, aus dem sich für die Therapie ungemein förderliche Haltungen, Einstellungen und Beziehungsgestaltungen ableiten. Und ich glaube, dass unsere Doppelstrategie, einmal den Klageweg zu beschreiten, den die SG ja nicht mitgemacht hat, und andererseits die Expertise dem Wissenschaftlichen Beirat vorzulegen, richtig ist. Ich sehe aber auch Gefahren. Angenommen, wir werden eine Anerkennung durch den Beirat erreichen und uns entschließen, den nächsten Schritt zum G-BA zu gehen, dann besteht natürlich eine Gefahr, dass wir uns zu sehr an das dominierende verhaltenstherapeutische Modell anschließen könnten, das sich ja im Methodenpapier und den neuen Verfahrensregeln des Beirats und des G-BA durchgesetzt hat – wobei mir völlig unverständlich ist, dass die Psychoanalytiker dazu geschwiegen haben; ob das eine kluge Strategie war, das so laufen zu lassen, bezweifle ich. Auf jeden Fall werden wir darauf aufpassen müssen, wie wir unsere Essentials bewahren können und trotzdem mit diesem System irgendwie in Kooperation kommen“
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16. März 2009
von Tom Levold
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Öffnung des Denkens, Öffnung des Fühlens, Öffnung des Willens

„Von der Systemtheorie wissen wir, dass, wenn ein System einen Schwellen- oder Bifurkationspunkt erreicht, ein sehr kleiner Unterschied die Richtung des zukünftigen Weges bestimmt. Wenn unsere Gegenwartszeit eine solche Schwellensituation für das globale System darstellt – wie viele Menschen, die von ihrem Herzen her handeln, bräuchten wir, um eine gemeinsame Gegenwärtigkeit, um einen globalen Umbruch zu inspirieren? Oft wird berichtet, dass die gewaltigen Umbrüche der Renaissance von einer Kerngruppe aus nicht mehr als ungefähr 100 Menschen geschaffen worden sind. Die Kerngruppe der Bauhausbewegung war sogar noch viel kleiner, vielleicht etwa ein oder zwei Dutzend Menschen im inneren Kern der Bewegung. Wir wissen nicht, wie viele Menschen wir benötigen, um zu Beginn unseres Jahrhunderts einen globalen Umbruch zu initiieren. Vielleicht 50, vielleicht 100 Menschen, wenn diese Menschen sich wirklich verbinden und durch die richtigen Infrastrukturen miteinander in Beziehung stehen. Wenn die in diesem Buch beschriebene soziale Technologie ein Hebel ist, was wäre der beste Hebelpunkt? Wo können wir ansetzen? In meinen Augen sind es vor allem zwei Mängel, die unser augenblickliches System in alten Mustern gefangen halten: Was fehlt, sind Infrastrukturen für Innovationen und eine Kerngruppe, die sich als Vehikel einer globalen Bewegung für zivilisatorische Erneuerung von innen heraus versteht“ Wer solche Sätze liest, denkt nicht unbedingt sofort an einen Menschen als Autor, der als Berater Kunden wie Daimler oder Google nennen kann. C. Otto Scharmer hat als„Gründungsstudent“ am Aufbau der Universität Witten/Herdecke teilgehabt und ist ein gutes Beispiel dafür, wie Universitäten von einem Konzept profitieren können, das nicht die Produktion von Fachidioten zum Ziel hat. Mittlerweile ist Scharmer am MIT in Cambridge beschäftigt und als Berater weltbekannt. Sein Plädoyer für eine nachhaltige Investition in zukunftsbezogene, partizipationsorientierte Innovationen in ökonomische, politische und kulturelle Infrastrukturen ist nun auf Deutsch im Carl-Auer-Verlag erschienen und (auch wenn in der Management-Reihe erschienen) bei weitem mehr als eine Lektüre für Führungskräfte. Warum? Weil es einen Optimismus ausstrahlt, der nicht (primär) auf den technischen Fortschritt setzt, sondern auf die Kraft, die die Vernetzung von Menschen in unterschiedlichen Kontexten beflügeln kann. Im systemagazin erscheint als Vorabdruck der ermutigende Epilog des Bandes, der dieser Tage auch im Buchhandel zu erhalten ist.
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15. März 2009
von Tom Levold
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Die Mehdorn-Edition


Die wunderbare NDR-Extra3-Redaktion beschäftigt sich immer wieder liebevoll mit dem unbeliebtesten Führer unserer Zeiten. Ein Anlass, auf diesen schönen Beitrag über H&M hinzuweisen 🙂

14. März 2009
von Wolfgang Loth
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„The Future of Mental Health” – Ein Interview mit Scott Miller über die Aussichten im psychosozialen Gesundheitswesen

Wer einen Blick werfen möchte auf die Untiefen fortgeschrittener Merkantilisierung unserer Profession, dürfte sich für ein Interview interessieren, dass Scott Miller vom Chicagoer Institute for the Study of Therapeutic Change (ISTC) im Jahr 2007 Jim Walt gegeben hat, ehemals Vorsitzender der Californian Association of Marital and Family Therapists (CAMFT), emeritierter Psychologie-Professor an der kalifornischen John F. Kennedy University. In diesem Gespräch skizzieren beide eine Situation in den USA, die darauf hinauszulaufen scheint, dass die meisten derjenigen, die zurzeit noch ihr Geld mit professionellen psychosozialen Hilfen verdienen, es bald nicht mehr können. Ungeachtet der konsistenten Forschungsergebnisse zur Psychotherapie, dass diese wirkt, gaben zwei Drittel der Befragten als Antwort auf die Frage, weshalb sie keine Therapie aufgesucht hätten, an, dass sie deren Wirksamkeit bezweifelten. Zweifel an der Wirksamkeit von etwas werden jedoch vermutlich erst dann zu einem schlagkräftigen Argument, wenn – wie ebenfalls erhoben – die Einschätzung als„zu teuer“ hinzukommt. Hier nun setzen offenbar die üblichen Marktmechanismen an. Die fortschreitende Verwertung von Therapie als Ware unterliegt dem Preiskalkül. Preisgestaltung wiederum funktioniert nach dem Aldi-Prinzip und man könnte sich fragen, warum es TherapeutInnen anders gehen sollte als, sagen wir, Milchbauern. Wie gesagt, nur für den Fall, dass Therapie oder allgemein professionelle psychosoziale Hilfen, sich in erster Linie als Warenwert zu bewähren hätten. Schon klar, dass dies ein Dilemma bedeutet, wenn man sich nicht im Elfenbeinturm (oder Wolkenkuckucksheim) einrichten möchte. Umso bemerkenswerter, dass Scott Miller nach wie vor davon überzeugt ist, dass das„Hören auf die KlientInnen“ einen (für ihn: den) Ausweg darstellt. Er berichtet von Evaluationsstudien, nach denen das Ergebnis um 65% allein dadurch verbessert werden konnte, dass konsequent das Feedback der KlientInnen zum Maßstab gemacht wurde – unabhängig von der theoretischen Position der TherapeutInnen. Vier Merkmale zeichneten das Beisteuern von professionellen HelferInnen in erfolgreichen Therapien aus: sie blieben flexibel, sie wehrten Feedback nicht ab, sie veränderten das Vorgehen so lange, bis die KlientInnen darauf positiv ansprachen und schließlich: sie zögerten nicht, andere Hilfen als angemessener zu empfehlen, wenn sie auf die beschriebene Weise nicht zu einer tragfähigen Beziehung kamen.
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13. März 2009
von Tom Levold
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Die Neurobiologie menschlicher Beziehungen

„Ich kann nur jedem an der Hirnforschung Interessierten empfehlen, sich auf sein Schul­englisch zu besinnen und dieses Buch zu lesen“, schreibt Rezensent Andreas Manteufel über Louis Cozolinos Werk„The Neuroscience of Human Relationships. Attachment and the Developing Social Brain“, das 2006 bei Norton erschienen ist. Leser, die die Lektüre englischsprachiger Bücher scheuen, brauchen sich aber keine Sorgen mehr zu machen, da der Band mittlerweile beim VAK-Verlag in Kirchzarten in einer solide ausgestatteten deutschen Übersetzung (Anni Pott) zu haben ist. Der Rezension von Manteufel tut das keinen Abbruch:„Unmengen von Literatur zur Hirnforschung verschwenden leider keine Mühe damit, die vielen Detailinformationen in übergreifende Modelle zu integrieren und sich überhaupt Gedanken über die inhaltliche Bedeutung beispielsweise von Tomographiebildern zu ma­chen. Ganz anders dieses wunderbare Buch von Cozolino, das Sie sich, nochmals, bitte­ schön besorgen“.
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12. März 2009
von Tom Levold
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Vom Schicksal nationaler Konstruktionen

In einem lesenswerten Interview mit der TAZ antwortet der Politikwissenschaftler und Kriegsforscher Herfried Münkler (Foto: Wikipedia.de) auf die Frage, ob Mythen oder große nationale Erzählungen in postnationalen Einwanderungsgesellschaften nicht überflüssig geworden seien:„Wenn die Wirtschaft wächst und Reform bedeutet, dass alle mehr bekommen – dann nicht. Aber für tief greifende Umbauten der Gesellschaft und Krisenbewältigungen sind sinngebend motivierende große Erzählungen nötig. Und die fehlen hierzulande. Das erklärt auch, warum die Deutschen so sehnsüchtig auf die USA schauen. Denn dort kann Obama den Leuten bittere Wahrheiten vor Augen führen, die auszusprechen sich kein deutscher Politiker trauen würde. Obama kann das, weil er gleichzeitig auf die Gründungserzählung der USA und den darin enthaltenen Optimismus zurückgreifen kann. Deshalb kann Obama sagen: Wir werden stärker aus der Krise herauskommen. Das zeigt, dass Gründungsmythen, die zeitweilig in den Hintergrund treten können, eine politische Funktion haben – nämlich dann, wenn es schwierig wird. Sie schaffen Zuversicht und Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten zur Problembewältigung“
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11. März 2009
von Tom Levold
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Praktische Organisationswissenschaft

Rudolf Wimmer, im Bereich der systemischen Organisationsberatung immer auf der Höhe der Zeit, hat gemeinsam mit Jens O. Meißner und Patricia Wolf ein Lehrbuch der systemischen Organisationswissenschaft mit Beiträgen von Jens Aderhold, Dirk Baecker, Christof Baitsch, Gian-Claudio Gentile, Katrin Glatzel, Heiko Hilse, Stefan Jung, Jens O. Meissner, Erik Nagel, Reinhart Nagel, Thomas Schumacher, Fritz B. Simon, Harald Tuckermann, Ralf Wetzel, Rudolf Wimmer und Patricia Wolf herausgegeben, das dieser Tage erscheint. systemagazin veröffentlicht das erste Kapitel als Vorabdruck, in dem eine Einführung in das Thema und ein Überblick über die Verwendungsmöglichkeiten des Buches gegeben werden.
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9. März 2009
von Tom Levold
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Yvonne Dolan im Interview

Ein – reales oder digitales – Treffen mit Wolfgang Loth ist immer wunderbar, weil man mit einer Vielzahl neuer Ideen, Hinweisen und Fragestellungen versorgt und beglückt wird – aber natürlich auch reich an Herausforderungen, weil man zu einer Vielzahl von Ideen, Hinweisen und Fragestellungen Stellung nehmen muss. Also ist Anregung garantiert. So auch gestern und heute, als wir beide nach Stuttgart zum Treffen des Editorial Boards der Familiendynamik reisten. Im Gespräch über dies und jenes und alles und nichts und Gott und die Welt wies mich Wolfgang Loth auch auf ein Gespräch hin, dass Tapio Malinen aus Finnland sowie Scot Cooper und Ian Bennet mit Yvonne Dolan (Foto: brieftherapynetwork.com) 2002 führten und das im Internet zu lesen ist. Yvonne Dolan, die hierzulande zuletzt als Co-Autorin des letzten, posthum erschienenen Buches von Steve de Shazer„Mehr als ein Wunder“ in Erscheinung getreten ist, äußert sich in diesem interessanten Gespräch auf eine sehr persönliche Art und Weise, die ihre Kunst, das lösungsorientierte Vorgehen nicht zur Abarbeitung eines Fragekatalogs reduzieren zu lassen, sondern sorgfältig auf die affektive Situation der Klienten und das Timing der therapeutischen Konstellation zu achten, deutlich werden lässt.
„Yvonne Dolan: It is the stance that gets in the way; at least it has for me at times. In this field I think traditionally we are trained to place more importance on the bad things that happen to people than the good things. So we have in the field of abuse people still defined as victims and survivors.
Scot Cooper: Defined by the event?
YD: Yes, as opposed to becoming people to whom a variety of things have happened and one of them is abuse. Another one might be falling in love, another one might be planting a garden, another might be becoming a mother or a father, wanting to do pole vaulting or who know what. I think that one of the things that interferes is training to place more emphasis on the negative than the positive one.
SC: How strange that sounds when we talk about it.
YD: We actually imprison the person in the problem in a sense. Even calling someone a survivor implies that for the rest of their lives they will live in reaction to that event.
IB: They will never get over it?
TM: You also show the third possibility that you called the Authentic Self.
YD: I think that people in our field have been alluding to that for a while. It is not a unique idea to me. I do think that I am perhaps more attached to the importance of the third stage because I see the legacy of defining clients as living in reaction to their problems as opposed to living in reaction to their hopes. I always want to ask&ldots; even if someone is giving me a history of awful things that have happened, I always want to ask„what else matters to you“?
IB: And if they can’t think of anything?
YD: I have never had that happen. You would think it would but I never have. I used to work in rural mental health and you would see people in one way in your office and then go somewhere else and see them entirely differently. There was this family that from the first day I was warned about. I was working in this really small town and I was told that this is a family with a lot of abuse, the parents are shiftless, they don’t work, the family has been on welfare for several generations, there is a lot of drug abuse, alcohol abuse, physical abuse, very negligent. They said just be really careful with this family because you really have to pay a lot of attention so they don’t do anything else to their children. The implication was that their children had been badly neglected. Right about at that time I was really getting used to living in a small town and I had only met one person that I was getting to know outside the professional field. He was an artist and he had these wonderful paintings he had done. He had a little art gallery and some of the more remarkable paintings were the ones he had done. He did portraits of a family. One of a woman carrying a loaf of bread and this family sitting around on a big old front porch and I remarked on them and he said„you need to meet these people, they are some of the most wonderful families I have ever met“. He talked about how there was a musical festival that weekend and if I attended it I would for sure see them there because they always went to it and they all played differed musical instruments. Well of course I did go and it was the family I had been warned against. All these people there were saying„oh yea this family would give you the shirt off their backs“,„their door is always open to anyone who is hungry or needs anything“. It was a completely different picture and I realized that I had only got part of the picture from my colleagues. It didn’t mean that my colleagues picture was wrong. What they were saying was probably absolutely true but this other past was true too. That’s a long time ago and I am still trying to remember to make space for both those pieces when I meet people. The piece that brings them to therapy and the piece that is their life outside of therapy“
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8. März 2009
von Tom Levold
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„Gute“ organisatorische Gründe für „schlechte“ Krankenakten

Harold Garfinkel (Foto phenomenologyonline.com), mittlerweile 91 Jahre alt, ist der Begründer der Ethnomethodologie, einer in den 70er-Jahren populären sozialwissenschaftlichen Schule (die zu Unrecht in den vergangenen Jahren in den Hintergrund gerückt ist), die sich mit der Frage auseinandersetzt, wie sich Menschen in den sozialen Strukturen der alltäglichen Lebenswelt wechselseitig orientieren und nach dem ihnen selbstverständlich scheinenden Alltagswissen handeln. Im Unterschied zu gleichgesinnten Theoretikern hat Garfinkel die Frage der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit immer auch als empirische Fragestellung verstanden. In seinem 1967 erschienenen Buch„Studies in Ethnomethodology“ wurde der Beitrag„„Good“ organizational reasons for „bad“ clinic records“ erstmals veröffentlicht. Im Jahre 2000 erschien eine von Astrid Hildebrand besorgte Übersetzung in„System Familie“ und kann in der Systemischen Bibliothek des systemagazin nachgelesen werden. In diesem schönen Text geht es um die Frage, welchen Sinn die in Bezug auf die Erzählung einer Krankenbehandlung oftmals dürftigen psychiatrischen Krankengeschichten dennoch in Hinblick auf die verborgenen„kontraktuellen“ Aspekte des Behandlungsprozesses im Kontext psychiatrischer Organisationen haben. Es handelt sich also um einen spannenden Beitrag zum Diskurs, wie über die Konstruktion der Krankengeschichte eines konkreten Patienten als eines optimal unbestimmten Falles den Notwendigkeiten einer klinischen Organisation (und Dokumentation) Rechnung getragen werden kann:„Das für Krankengeschichten gültige Interpretationsschema kann grundsätzlich von überall her bezogen werden. Es kann sich mit dem Lesen jedes einzelnen Items verändern; es kann sich mit den Zielsetzungen des Forschers verändern, wenn er aus den Dokumenten, auf die er stößt, einen Fall machen möchte; es kann sich „im Lichte der Verhältnisse“ verändern und sich mit den notwendigen Anforderungen verändern. Herauszufinden, zu entscheiden oder darüber zu streiten, in welcher Beziehung der Sinn eines Dokuments zum „Ordnungsschema“ steht, bleibt voll und ganz dem Urteil des Lesers überlassen, wie er dies in einem spezifischen Fall, gemäß dem Fall, im Licht seiner Zielsetzungen, im Licht seiner sich verändernden Absichten, im Lichte dessen, was er allmählich herausfindet, usw. für geeignet hält. Die Bedeutungen der Dokumente verändern sich als Funktion des Versuchs, diese zu einer Aufzeichnung eines Falles zusammenzufassen. Anstatt im Vorhinein darzulegen, worüber es in einem Dokument überhaupt gehen könnte, wartet man ab, bis man erkennt, worauf man in den Krankengeschichten stößt, und daraus „fertigt“ man, findet man buchstäblich das, worum es in dem Dokument überhaupt ging. Dann kann der Leser erkennen, ob Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz zwischen dem Sinn des einen Dokuments und dem eines anderen Dokuments bestehen – oder nicht. In keinem Fall werden dem Leser Einschränkungen auferlegt, um im Vorhinein zu rechtfertigen oder kundzutun, was in der Krankengeschichte wofür Bedeutung hat oder welchen Dingen er in Bezug auf was Bedeutung beimessen wird oder nicht“
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7. März 2009
von Tom Levold
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systemisch…

Wahrscheinlich wird jeder von uns schon mal die Erfahrung gemacht haben, in der Adresse eines Briefes, in einem Faltblatt einer Veranstaltung oder sonstigen Druckerzeugnissen als VertreterIn der „systematischen“ Therapie oder Beratung angesprochen worden zu sein. Dies zeugt von der weit verbreiteten Unkenntnis schon des Begriffs „systemisch“, von den Inhalten, für die er steht, ganz zu schweigen.
Durch diese gesellschaftliche Ignoranz häufig narzisstisch gekränkt, horchte ich erfreut auf, als ich jüngst in politischen Kommentaren zur Finanzkrise immer häufiger das Wort „systemisch“ vernahm. So war von der Hypo Real Estate als einer „systemischen Bank“ und von Opel als „systemischem Unternehmen“ die Rede. Schnell verflog meine anfängliche Freude, als mir klar wurde, dass es hier um marode Organisationen ging, die durch Spekulantentum oder Unbeweglichkeit der Manager an den Rand des Ruins getrieben worden sind. Für die Öffentlichkeit erschiene dann „systemisch“ als gleichbedeutend mit unfähig, geldgierig, unsozial und an kurzfristigem Eigennutz orientiert. Könnten diese Konnotationen nicht unsere gerade erst kürzlich errungene wissenschaftliche Anerkennung durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie wieder gefährden?
Als sich schon düstere Zukunftsvisionen meiner zu bemächtigen drohten, brachte ein Perspektivenwechsel einen plötzlichen Stimmungsumschwung: Wenn „systemische“ Manager zunächst mit Bonus-Zahlungen reichlich belohnt und dann ihr Scheitern durch die Öffentlichkeit ausgebadet wird, dann können doch systemische TherapeutInnen einer sorglosen Zukunft entgegen sehen! Welch wunderbare Lösung des Therapeutendilemmas (im Sinne von Kurt Ludewig): „Handle effektiv, ohne jemals genau zu wissen, was Dein Handeln bewirken wird.“ Macht nix, der Staat wird´s schon für uns richten und die Gesellschaft in jedem Fall ihre schützende Hand über uns halten, da sie uns für unverzichtbar hält. Schluss mit dem internen Streit um störungsspezifisches Wissen, ICD-Diagnosen, Preis und Kosten der sozialrechtlichen Anerkennung: „Ich will so bleiben, wie ich bin.“ ruft flehend die Systemische Therapie – „Du darfst!“ antwortet beruhigend der Staat und breitet sein Schutzschild aus.
In diesem Augenblick fiel ich in einen tiefen, wohligen Schlaf.

Stephan Baerwolff, Jork

6. März 2009
von Tom Levold
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Vorabdruck: Einführung in die interkulturelle Beratung und Therapie

Dieser Tage kommt auch ein weiteres Buch in der Reihe compact des Carl-Auer-Verlages (die sich allmählich den Dimensionen eines kleinen Gesamtkunstwerkes annähert) zur Welt, nämlich eine Einführung in die interkulturelle Beratung und Therapie, die von Thomas Hegemann und Cornelia Oestereich verfasst worden ist. Beide haben sich schon seit langen Jahren theoretische und praktisch intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt, das leider immer noch viel zu wenig Aufmerksamkeit und Ressourcen bekommt. Es wäre zu wünschen, dass diese Einführung einen Anstoß zur Veränderung gibt. In systemagazin erscheint als„Vorabdruck“ ein Abschnitt aus dem ersten Kapitel, der sich mit der Frage auseinandersetzt, was (fremde) Kultur eigentlich heißt.
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4. März 2009
von Tom Levold
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Was wissen wir über das Wissen

In einem Vortrag auf dem Symposium „Szenarien der Wissensgesellschaft“ in München im Oktober 2000 machte sich der Soziologe und Systemtheoretiker Armin Nassehi Gedanken über unser Verhältnis zum Wissen und Nicht-Wissen. Dabei kam es ihm darauf an„zu zeigen, dass die Frage »Was wissen wir über das Wissen?« heute alles andere als eine akademische Frage ist, sondern in weiten gesellschaftlichen Feldern bestimmend geworden ist. Die Rede von der Wissensgesellschaft jedenfalls – sie ist eine Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft, die darauf hinweist, dass uns das Wissen zum Problem geworden ist und dass nicht das Wissen ein knappes Gut ist, sondern jene Sicherheit, die wir dem Wissen einst entnommen haben. Vielleicht wäre es nicht das schlechteste Szenario der »Wissensgesellschaft«, Unsicherheit und Nicht-Wissen stärker ins Kalkül zu ziehen“ Der Vortrag ist auch im Internet zu lesen.
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