systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

10. Juni 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Zitat des Tages: Roland Schleiffer


„Es muss sich allerdings die Frage stellen, mit welchem Körper die körperorientierte Körperpsychotherapie zu tun hat. Lässt er sich als »Wahrheitsmedium« beobachten ? Wenn er schon der Rede mächtig ist, wieso sollte er denn nicht auch lügen können ? Wer stellt die Wahrheitsfrage, und wer will sie beantworten ? Da Bezugspersonen letztlich unvermeidlich de »wahren Körper« und somit auch das »wahre Selbst« nur verfehlen und dieses daher notwendig nur traumatisieren können, gerät (Körper-)Psychotherapie geradezu zur Psychotraumatherapie. Es verwundert daher auch nicht, dass sich in den Studien zur Körpertherapie immer wieder ein »hoher Ton« oder gar ein »Jargon der Eigentlichkeit« (Adorno) vernehmen lässt, wenn etwa vom »eigentlichen Gespräch«, vom »dialogischen Prinzip« oder vom »Moment der Begegnung« beim »psychosomatischen Dialog« die Rede ist. Überhaupt scheint die so beliebte Metapher der »Körpersprache« doch eine unscharfe Argumentation zu verdecken. Mit Hahn (1988) ist jedenfalls davon auszugehen, dass es niemals der Körper selbst ist, der spricht. Vielmehr wählt immer die Kommunikation bestimmte körperliche Veränderungen aus und misst ihnen Bedeutung und Sinn zu. Bei der »Körpersprache« handelt es sich um ein soziales Bedeutungssystem. Auch wenn und gerade weil der Körper sozial nicht vollständig kontrollierbar ist, wird das sozial nicht Kontrollierbare sozial verbindlich gedeutet. Immer hat man es mit einem beobachteten und somit sinnhaft kontextualisierten Körper zu tun. Dem Körper kommt eine sinntragende Realität nur zu, sofern er bezeichnet wird, und das heißt nur auf der Ebene sozialer oder psychischer Systeme. Insofern ist es eine Illusion, den Körper als ehrlich, authentisch und die Wahrheit verbürgend zu stilisieren, wie überhaupt ein solcher Rekurs auf Ursprünglichkeit, auf Fassbares, Greifbares, Handhabbares, auf etwas, was Sicherheit und Orientierung vermitteln könnte. Die immer wieder holistische und insofern in defragmentarisierender Absicht vorgetragene Argumentation kann nicht überzeugen, impliziert doch jede Beobachtung notwendig den Verzicht auf Ganzheitlichkeit“ (In: Der Körper als Adresse – Zur Funktion der Somatisierung. Kontext 39 (2), 2008, 104-126).

10. Juni 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Die Stimme des Kindes in der Familientherapie

Dass die Position der Kinder in der Familientherapie keine einfache ist, liegt auf der Hand. Carole Gammer, eine der erfahrensten Therapeutinnen auf diesem Gebiet, hat vor einiger Zeit im Carl-Auer-Verlag einen überfälligen Überblick über ihren erfahrungsgesättigten und theoriefundierten Ansatz zur Arbeit mit Kindern und ihren Familien vorgelegt, der nur jedem, der in diesem Setting arbeitet, ans Herz gelegt werden kann. Wilhelm Rotthaus schreibt in seinem Vorwort:„Vielleicht muss sich der eine oder die andere Leser erst in den Stil des Buches einlesen. Aber es lohnt sich. Hier wird nicht in spektakulärer Weise ein Blumenstrauß an Ideen vorgestellt. Vielmehr entfaltet die Autorin ebenso gründlich wie systematisch die unterschiedlichen Facetten der einzelnen, von ihr vorgestellten Methoden, schildert die dem jeweiligen Entwicklungsstand der Kinder angepassten Varianten und diskutiert den Gewinn, den verschiedene Modifikationen der einzelnen Methoden erbringen können. Auf diese Weise lernt die Leserin kognitiv die Differenzialindikation für die jeweiligen Vorgehensweisen. Darüber hinaus erläutert die Autorin jede Variante mit kurzen Berichten aus ihrer Praxis. Diese Fallbeispiele lassen das Dargestellte nicht nur sehr anschaulich und lebendig werden. Sie verhelfen vor allem zu einem intuitiven Lernen, sodass man in einer der nächsten eigenen Therapiesitzungen fast versehentlich eine der von ihr beschriebenen Vorgehensweisen umsetzt und ihre Wirksamkeit staunend erleben kann“ Und Rezensent Peter Luitjens formuliert als Fazit:„ein empfehlenswertes Buch, das endlich die Überlegungen dieser bekannten amerikanischen Familientherapeutin, die seit über zwei Jahrzehnten in Europa praktiziert und ausbildet, allgemein zugänglich macht. Mit ihrer eigenständigen Entwicklung eines kindorientierten familientherapeutischen Vorgehens ist sie in der Gesellschaft von Systemikern wie Rotthaus, Bonney und Wilson zu sehen, die mit ihren Veröffentlichungen bereits in den Vorjahren auf die Notwendigkeit und die Möglichkeiten kindorientierter Vorgehensweisen hingewiesen haben“
Zur vollständigen Rezension…

9. Juni 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Zitat des Tages: Paul Feyerabend

Die„Verfahren der Wissenschaften (fügen) sich keinem gemeinsamen Schema (…) – sie sind nicht ‚rational‘ im Sinne solcher Schemata. Kluge Menschen halten sich nicht an Maßstäbe, Regeln, Methoden, auch nicht an ‚rationale‘ Methoden, sie sind Opportunisten, das heißt, sie verwenden jene geistigen und materiellen Hilfsmittel, die in einer bestimmten Situation am ehesten zum Ziele zu führen scheinen“. (In: Erkenntnis für freie Menschen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980, S. 9).

9. Juni 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Computo Ergo Sum!

Mein schönes MacBookPro! Am Freitag abend hat es in einer Pension in Berlin seinen Geist aufgegeben. Im zarten Alter von 2,5 Jahren. Für einen Apple-Fan wie mich ist das keine schöne Nachricht. Zumal in unserem Haushalt immer noch ein alter Mac (15 Jahre!) klaglos seinen Dienst verrichtet (allerdings nicht mehr wirklich kompatibel mit der der aktuellen Software-Welt). Die gute Nachricht: Das Wochenendseminar funktionierte auch ohne die schöne Computerpräsentation ganz gut (ich kann es auch noch auswendig), die schlechte: die höheren Kosten für einen vernünftigen Rechner schlagen sich offensichtlich nicht mehr automatisch in einer längeren Haltbarkeit der Hardware nieder. Was heißt das für das systemagazin? Ein paar Tage Plackerei mit Ersatzrechnern, erzwungenen Pausen oder einfach: … Meditation, Innehalten, Überraschung, Überbrückung auf anderen Rechnern. Mal sehen…

8. Juni 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Zitat des Tages: Niklas Luhmann

„Also die Systemtheorie ist sicher keine kausalistische Theorie. Schon deshalb nicht, weil man sonst Politik in die Wissenschaft mit einbeziehen würde. Wenn man sagen würde, wie es richtig gemacht werden sollte, würde man ja Politik machen, eine Art technokratische Vorstellung haben. Das ist sicher nicht der Fall und wird auch durch die Gesellschaftstheorie selber schon desavouiert, indem sie Politik oder auch Intimbeziehungen oder Religion oder Wirtschaft als eigene Systeme beschreibt, die von der Wissenschaft aus nicht gesteuert werden können. Aber es gibt natürlich Veränderungen in den typischen Problemstellungen. Und das kann man relativ deutlich spezifizieren. Wenn Sie z.B. die Probleme der Arbeitslosigkeit, der massenhaften Entlassungen in Europa sehen, dann kann man die Frage stellen: Ist das ein Effekt von Konjunktureinbrüchen? Müssen wir das zwei, drei Jahre durchhalten oder hat das strukturelle Gründe? Und da würde man vielleicht sagen, daß in der modernen Gesellschaft das Interesse an der Unternehmenserhaltung und das Interesse an Vermögenserhaltung auseinander laufen. Wenn ich mein Vermögen halten will, kann ich nicht mein Unternehmen halten. Und das ist auch völlig antimarxistisch gedacht. Ich habe mein Vermögen nicht im Unternehmen. Mein Vermögen fließt je nachdem, wo es angelegt werden soll. Und das Unternehmen ist eine andere Sache. Wenn man diese Tendenz beobachtet – und das läßt sich systemtheoretisch aufhängen – hat man natürlich ganz andere Vorstellungen in Bezug auf Politik und in Bezug auf öffentliche Meinung auch und in Bezug auf Weltkonstellationen, auf das Verlagern von Produktion in Billiglohnländer und dergleichen, als man sie hätte, wenn man sie nur konjunkturspezifisch sieht. Daraus folgt noch keine Handlungsanweisung. Aber ich denke, die Art wie man sich vor Probleme stellt, ist der Schritt, von dem aus man es der Wirtschaft oder der Politik überlassen kann, Konsequenzen zu ziehen“ In:„Interview mit Niklas Luhmann. http://fifoost.org/user/luhmann.html„)

8. Juni 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

erste Internationale Psychotherapeutische Tagung auf Kuba

Vom 28.-30. April 2009 fand in Havanna die erste Internationale Psychotherapeutische Tagung auf Kuba statt. Die Tagung wurde von der ehemaligen Leiterin der psychiatrischen Abteilung des «Joaquin-Albarran-Krankenhauses» Havanna, Prof. Dr. Reina Rodriguez Mesa, und ihrem Team organisiert. Bisher gibt es in Kuba keine psychotherapeutische Ausbildung – dementsprechend war dieser Kongress auch ein Novum. Durch die ReferentInnen und TeilnehmerInnen aus verschiedenen Ländern (Argentinien, Bolivien, Deutschland, Frankreich, Kanada, Mexiko, Norwegen, Schweden, Spanien, USA) erhielt die Tagung ihren internationalen Charakter und wurde zur Geburtsstätte einer zukünftigen psychotherapeutischen Ausbildung in Kuba. Klaus Deissler und Thomas Keller haben für systemagazin
einen kurzen Tagungsbericht verfasst…

7. Juni 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Zitat des Tages: Heiko Kleve

„Die Methode der Inszenierung von Ambivalenz kann jederzeit für das wissenschaftliche Schreiben, für die Genese von Theorien genutzt werden. Sie ist mithin besonders hilfreich, wenn man theoretisch arbeiten möchte. Theoretische Arbeiten gehen zumeist aus von anderen theoretischen Arbeiten, sie beziehen sich auf diese, setzen diese fort oder bieten alternative theoretische Blicke an. Die Methode der Ambivalenzinszenierung hat vor allem das Potenzial, alternative theoretische Deutungen zu produzieren. Sie ist, genau genommen, eine Beobachtung höherer Ordnung, die beobachtet, wie andere Theorien beobachten, und dann versucht, das, was diese durch ihre Begriffe nicht beobachten können, zu beobachten, einzublenden. Dabei werden vor allem zentrale Begriffiichkeiten beobachtet, Begriffiichkeiten, die wie selbstverständlich voraus- oder eingesetzt werden. Die entsprechenden Begriffe werden mit ihren möglichen Gegenbegriffen konfrontiert, und es wird gefragt, ob nicht zugleich auch die Gegenbegriffe Brauchbares über das Thema aussagen, beschreiben und erklären können. Mit der Methode der Ambivalenzinszenierung oder der Ambivalenzreflexion kann in drei Schritten vorgegangen werden: Erstens: Während der Lektüre von Texten, die Phänomene (z. B. der Praxis) beschreiben und erklären, die also Theorie betreiben, wird versucht, die scheinbar eindeutigen Selbstverständlichkeiten aufzuspüren und über sie zu staunen, sich über sie zu wundern. Zweitens: Nachdem die Selbstverständlichkeiten aufgespürt wurden, über sie gestaunt werden konnte, beginnt die Suche nach möglichen Gegenbegriffen zu den vermeintlich selbstverständlichen Begriffen. Dabei geht es darum, alternative Begriffe, Gegenbegriffe aufzuspüren, die einblenden, was ausgeblendet wird. Schließlich sollen die Begriffe, deren Selbstverständlichkeiten offenbart wurde, aus dieser Selbstverständlichkeit entrissen werden, indem mit den Gegenbegriffen aufgezeigt wird. was ebenfalls plausibel eingeblendet werden könnte. Drittens: In einem letzten Schritt erfolgt dann etwas, das mit der Methode der funktionalen Analyse der luhmannschen Systemtheorie (…) verwandt ist: Die Gegenbegriffe werden zunächst in Szene gesetzt, und zwar als auch mögliche Beschreibungen derselben Phänomene, mithin als Alternative zu den Begriffen, die die Selbstverständlichkeiten bezeichnen. Sodann wird eine alternative Erklärung des Phänomens unternommen mithilfe der Gegenbegriffe. Diese Erklärung wird neben die primäre Erklärung gestellt. Beide werden schließlich miteinander verglichen, aber als Pole in ihrer Unterschiedlichkeit belassen, und zwar so, dass die zuvor verborgene Symmetrie dieser Begriffe wieder zum Vorschein kommt und die Gleichzeitigkeit des Unterschiedlichen bezüglich eines Phänomens sichtbar wird“ (In: Heiko Kleve: Ambivalenz, System und Erfolg. Provokationen postmoderner Sozialarbeit. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2007, S. 24f.)

6. Juni 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Zitat des Tages: Andreas Weber


„In Luhmanns Systemtheorie geht die kategoriale Eliminierung des Subjekts mit der Irrealisierung der Körperproblematik einher. Die Genese der Differenz zwischen organischem System und psychischem System wird nicht prozesslogisch rekonstruiert, sondern absolutistisch gesetzt. Die Frage nach den anthropologischen und soziologischen Bedingungen, unter denen die ontogenetischen Subjektbildungsprozesse stehen, wird bedeutungslos. Bedeutungslos werden damit aber auch die körpernahen Interaktionen und Kommunikationen zwischen Kleinkind und sorgender Bezugsperson, normalerweise der Mutter, im ontogenetischen Bildungsprozess einer sinnstrukturierten Subjektorganisation. Da Luhmann die Bedeutung der körpernahen Interaktionen zwischen Kleinkind und (mütterlicher) Bezugsperson systematisch ignoriert, kann er auch die Sinnkategorie von allen Verstrickungen mit symbiotischen und postsymbiotischen Erlebnissen reinigen und als das »absolute Medium ihrer selbst« (…) bestimmen. Die absolutistisch gesetzte Sinnkategorie wird nun an Kognition und Kommunikation gekoppelt und zu einem Funktionsmerkmal psychischer und sozialer Systeme. Im systemtheoretischen Denken Luhmanns muss es deshalb vollständig unverständlich bleiben, warum die Sinnproblematik des modernen Subjekts auch in somatischer Dimension bedeutsam ist. Luhmann kann weder die psychosomatischen brisanten Implikationen der modernen Sinnproblematik noch die »Wiederkehr des Körpers« (…) als lebenspraktisch relevantem Medium reflexiver Sinngenerierung in einer angemessenen Weise begreifen“ (In: Andreas Weber: Subjektlos. Zur Kritik der Systemtheorie. UVK, Konstanz 2005, S. 84).

6. Juni 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Interkulturelle Beratung

Vor kurzem erschien im Carl-Auer-Verlag eine„Einführung in die interkulturelle Beratung und Therapie“ von Thomas Hegemann und Cornelia Oestereich, von der im systemagazin ein Vorabdruck veröffentlicht wurde. Im aktuellen Heft der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung, das Thomas Hegemann als Gastherausgeber besorgt hat, widmen sich die AutorInnen ebenfalls diesem Thema. Cornelia Oestereich sieht im systemischen Ansatz ein Modell zur Förderung integrierender statt ethnospezifischer Behandlungskonzepte, Tom Hegemann entwickelt„Ideen zur Entwicklung kultursensibler Service-Dienste“. Neben Anregungen von Mohammed El Hachimi für eine multikulturelle systemische Praxis beschäftigt sich ein Beitrag von Angela Eberding mit der Beratung von Migrationsfamilien mit einem chronisch kranken Kind. Und schließlich zieht Eia Asen in einem Gespräch mit Thomas Hegemann Vergleiche zwischen England und Deutschland, was die Interkulturelle Entwicklung des Systemischen Feldes in beiden Ländern betrifft.
Zu den vollständigen abstracts…

5. Juni 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Das Ideal

Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn –
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.
Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:

Neun Zimmer – nein, doch lieber zehn!
Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn,
Radio, Zentralheizung, Vakuum,
eine Dienerschaft, gut gezogen und stumm,
eine süße Frau voller Rasse und Verve –
(und eine fürs Wochenend, zur Reserve) –
eine Bibliothek und drumherum
Einsamkeit und Hummelgesumm.

Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste,
acht Autos, Motorrad – alles lenkste
natürlich selber – das wär ja gelacht!
Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd.

Ja, und das hab ich ganz vergessen:
Prima Küche – erstes Essen –
alte Weine aus schönem Pokal –
und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal.
Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion.
Und noch ne Million und noch ne Million.
Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit.
Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.

Ja, das möchste!

Aber, wie das so ist hienieden:
manchmal scheints so, als sei es beschieden
nur pöapö, das irdische Glück.
Immer fehlt dir irgendein Stück.
Hast du Geld, dann hast du nicht Käten;
hast du die Frau, dann fehln dir Moneten –
hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer:
bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.

Etwas ist immer.
Tröste dich.

Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Daß einer alles hat:
das ist selten.

(Kurt Tucholsky 1927)

5. Juni 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Zitat des Tages: Merlin Donald

„Sprachliche Bedeutungen haben körperliche Wurzeln. Wenn wir miteinander sprechen, bewegen wir uns keineswegs in einer immateriellen, entsinnlichten Sphäre. Das leibliche »Ich« spricht zum leiblichen »Du«. Der Austausch von Botschaften ist stets körperlich verankert, in dem hochabstrakten Ort, den wir Ich-Mitte oder Selbst nennen. Auch die Aufmerksamkeit gründet im Körperselbst. Im Gespräch entscheidet das Körperselbst darüber, was wir sagen, und die Auswahl der Elemente, die in der Erinnerung abgespeichert werden, geht letztlich allein von ihm aus. Auf indirektem Weg, über Gestik, Mimik, Zwinkern, Verbergen von Intentionen, Lippenbewegungen und so weiter, zeigt das Körperselbst zudem Bedeutungsnuancen an. Alle diese Elemente lassen sich ohne weiteres dem Strom des Bewusstseins einverleiben, weil sie sich alle auf eine gemeinsame semantische Basis beziehen, die durch die körperliche Selbstreferenzialität stets als »zu mir gehörig« markiert ist. Das gilt sogar für Menschen, die eine Amnesie erleiden oder im Zustand einer so genannten Fugue vorübergehend ihre soziale Identität verlieren. Das Körperselbst bleibt dabei unversehrt. Semantische Verarbeitungsprozesse wurzeln also stets in unserer Körperlichkeit. Das häufig zitierte Gedankenexperiment vom »Gehirn im Tank« ist nur ein Spiel mit Begriffen, denn es postuliert, dass ein vom Körper abgekoppeltes Gehirn ein Identitätsempfinden entwickeln und aufrechterhalten könnte. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass das eine reale Möglichkeit ist. Wenn bei neurologischen Patienten das Bewusstsein auch nur ansatzweise von körperbezogenen Feedback-Systemen abgeschnitten ist, führt das zu ausgeprägten Bewusstseinsstörungen. Theoretisch gesehen ist unser Bewusstsein vielleicht sogar körperbezogener, als uns lieb ist. Seine körperliche Verankerung ist eine Grundtatsache des mentalen Lebens. Das Bewusstsein kommt ohne ein solides körperliches Fundament des Identitätsempfindens nicht aus, ganz gleich, wie raffiniert seine symbolischen Operationen und Kunstgriffe auch sein mögen. Ohne diese Basis kommt es ins Schwimmen und verliert gleichsam den Boden unter den Füßen. Es gerät außer Kontrolle und verliert den Realitätskontakt“ (In:„Triumph des Bewusstseins“. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, S. 144f.).

4. Juni 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Zitat des Tages: Winfried W. Weber

„Eine Alltags- und Arbeitsphilosophie mit den Aufforderungen zur Entrümpelung, zum Zeitmanagement und zu postmateriellen Werten (…) greift zu kurz. Sie unterschätzt die Möglichkeiten aus der Unordnung menschlichen Verhaltens. Die Notwendigkeit, sich laufend an geänderte Rahmenbedingungen anzupassen, ruft nach dem Gegenteil, nach der Verkomplizierung. Fixe Verhaltensmuster (Entrümple!) mögen gegenwärtig von Nutzen sein, sie verhindern als Muster aber zukünftige Chancen. Jeder erfahrene Praktiker schätzt die Potenziale des Unaufgeräumten. Jeder gute Handwerker, dessen Nische die Improvisationskunst ist, kann nicht ohne ein gewisses Potenzial an Unaufgeräumtem tätig sein. Und sollten wir es mit einem ausgesprochen organisierten Handwerker zu tun haben, so ist dies möglicherweise nur ein Hinweis auf seinen modernen Nachfolgeberuf, den Monteur und dessen Montagequalitäten und auch ein Indiz für seine mangelnde Improvisationskompetenz, das kann man nicht mehr reparieren, da müssen wir das Ganze austauschen“). Mechanische Verhaltensmuster verringern Leidenschaft und Kreativität. Der blinde Fleck der Simplify-Philosophie ist das Potenzial, das sich aus dem Unaufgeräumten und Zufälligen ergibt“ (Winfried W. Weber, complicate your life. Verlag Sordon, Göttingen, S. 16f.).