systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

15. September 2009
von Wolfgang Loth
Keine Kommentare

Zitat des Tages: „Gewiss doch, Wittgenstein?“

Ich habe Wittgenstein nie vertieft studiert, und das, was ich – fragmentiert – aus seinen Schriften kennenlernte, nicht wirklich verstanden. Da aber der von mir sehr geschätzte Steve de Shazer immer wieder auf ihn zu sprechen kam, und Matthias Varga von Kibéd, von dem ich viel halte, über Wittgenstein spricht, als sei das so verständlich wie grundlegend, und weil die Idee des Nichtwissens, aus konstruktivistisch-systemischer Sicht so vertraut erscheint wie verstörend, habe ich einmal Vertrauen gefasst in die Möglichkeit, ein Buch von Wittgenstein zu lesen. Das ist natürlich Unsinn. Ich kann kein Buch von Wittgenstein lesen. Aber ich habe die Sätze dieses Buches gelesen, alle, und darüber nachgedacht, und ich war fasziniert und verstört, und hoffte, er habe nicht in allem recht, oder ich möge gescheiter werden, eines Tages, vielleicht. Das Buch, aus dem ich nicht ein, sondern wegen der jeweiligen Kürze, drei Zitate vorstellen möchte, ist:
Ludwig Wittgenstein (1970) Über Gewißheit (hgg. Von G.E.M. Anscome & G.H. von Wright). Frankfurt/M.: Suhrkamp (BS 250)
„321. Ich sage doch: Jeder Erfahrungssatz kann umgewandelt werden in ein Postulat – und wird dann eine Norm der Darstellung. Aber auch dagegen habe ich ein Misstrauen“ […./ S.84]
„356. Mein „Seelenzustand“, das Wissen, steht mir nicht gut für das, was geschehen wird. Er besteht aber darin, dass ich nicht verstünde, wo ein Zweifel ansetzen könnte, wo eine Überprüfung möglich wäre“ [S.94]
„378. Das Wissen gründet sich am Schluß auf der Anerkennung“ [S.99]
Die Zitate habe ich ausgewählt, weil ich jetzt denke, ja, Wittgenstein könnte wirklich etwas bedeuten für das Studieren Systemischer Perspektiven. Aber wohl nicht ohne weiteres. Hatte ich „studieren“ gesagt? Whatyamean?

14. September 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Freundschaft. Der dritte Weg zwischen Liebe und Partnerschaft?

Seit langem beschäftigt sich Arnold Retzer mit der Frage, ob die Liebe eine ausreichender Kommunikationscode zur Absicherung dauerhafter Beziehungen darstellt oder ob Beziehungen mit intensiven Liebesanforderungen nicht auf Dauer überfordert sind. 2006 veröffentlichte er in der„Familiendynamik“ einen Aufsatz über Freundschaft, die daraufhin untersucht wird,„ob sie geeignet ist, eine weitere Beziehungsform darzustellen, die in Paarbeziehungen praktizierbar ist. Dazu werden unterscheidende Merkmale von Freundschaft gesammelt und zu einem Kommunikationscode verdichtet. Abschließend werden die nun zur Verfügung stehenden drei Kommunikationscodes Liebe, Partnerschaft und Freundschaft zueinander in Bezug gesetzt“
Der Aufsatz kann hier heruntergeladen werden…

12. September 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Zitat des Tages: Benni Bärman

„Die Natur der digitalen Kopie stellt die zeitgenössischen Gesellschaften vor eine digitale Wahl. Eine Information, die einmal in der Welt ist, ist grundsätzlich nicht mehr rückholbar. Auf diese Situation können die Gesellschaften mit zwei grundsätzlich unterschiedlichen Optionen reagieren: Entweder verstärken sie die Repression bis hin zu einer Marginalisierung von Bürgerrechten um die Natur der digitalen Kopie massiv einzuschränken oder sie leben mit den Folgen dieser neuen Situation, das bedeutet insbesondere: Unmöglichkeit von Zensur und Jugendschutz wie wir ihn heute kennen und Unmöglichkeit der Durchsetzung von Urheber-, Verwertungs- und Persönlichkeitsrechten. Einen Mittelweg gibt es nicht, weil die Repression tendenziell immer stärker werden muss, wenn sie wirksam bleiben soll – eben wegen der Unrückholbarkeit von Kopien. Jeder Repressionsmechanismus kann umgangen werden und es reicht ihn einmal zu umgehen, damit alle etwas davon haben. Das bedeutet, dass jeder Repressionsmechanismus in sich weitere verschärfte Repression trägt. Das gilt auch für die Kulturflatrate, die nur ein Versuch ist das gescheiterte Versöhnungsmodell der industriellen Epoche zu verlängern. Es gibt keine Möglichkeit einer Kulturflatrate ohne Datenschutzkatastrophe und flächendeckende Überwachung“ (5. These aus„14 Thesen zum Urheberrecht“ – in www.keimform.de).

11. September 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Zitat des Tages: Einladung zum Mitmachen

Liebe Leserinnen und Leser,
die Zitate des Tages sollen über die üblichen Kalenderblätter-Sinnsprüche hinausgehen und Anregungen zum Nachdenken und Nachlesen bieten. Ob dies gelingt oder nur zur Ausbreitung der Häppchen-Kultur beiträgt, ist natürlich die Frage. Das war zumindest die Frage von Wolfgang Loth, der sich sogleich die Einladung einhandelte, selbst ein Zitat beizusteuern, verbunden mit ein paar Anmerkungen zur Bedeutung, die dieses Zitat für ihn hat (s.u.). Diese Einladung soll gleichermaßen für Sie gelten. Schicken Sie doch auch ein Zitat ein, das Sie auf besondere Weise beschäftigt hat – mit Anmerkungen oder ohne (aber jedenfalls mit einem Quellenhinweis). Ich freue mich auf kommende Vielfalt!
Herzliche Grüße
Tom Levold

11. September 2009
von Wolfgang Loth
Keine Kommentare

Zitat des Tages: Spurenreflexion (J. Cremerius)

Vor einigen Jahren ging ich einem Interesse nach und folgte der Spur „1951“. Ein anderes Interesse wanderte latent mit und so fiel mir ein Buch von Johannes Cremerius auf mit dem Titel „Psychotherapie als Kurzbehandlung“. Meine einstmals einäugige Zustimmung zu „Lösungsorientierung“ in Verbindung mit Kurztherapie als therapeutischem Credo hatte zu dieser Zeit mit einer gewissen Ambivalenz bereits eine binokuläre Verstärkung erhalten. Die Ambivalenz bezog sich nicht auf die Würdigung der Lösungsorientierung an sich, sondern auf einen Trend, der sich parasitär damit zu verknüpfen begonnen hatte. Das lösungsorientierte Herz drohte zu einem instrumentellen Popanz zu werden, zu einem lösungsschnittigen Verkaufsschlagersänger, schien mir. Da kam mir Cremerius gerade recht. Langer Rede kurzer Sinn, als ich das Buch las, seine Entstehungszeit bedachte, das Menschenbild auf mich wirken ließ, ich war hingerissen. Natürlich: diese Sprache, das geht heute nicht mehr, wo kämen wir hin….! Das ist nicht kühl genug, nicht überlegen genug, nicht ironisch genug. Keine Reflexion der funktionalen Ausdifferenzierung. Da könnte man gleich noch bekennen, keine Ahnung von PowerPoint zu haben. Das geht nicht. Und doch, als „Geschichte von früher“ möchte ich ein Zitat daraus vorstellen. Es wird aber vermutlich nur die Illusion befördern, es gebe ein friedliches Zusammenwirken von, sagen wir, beispielsweise der Idee der Freiheit, der Idee der Verantwortung für Intentionen und der Idee eines, sagen wir, Latenzen-scannenden Fuchs-Systems. OK, Leben geht weiter …
Das Zitat:
„Die hinter diesem Buch stehende philosophische Gesinnung, die an jenen Stellen sichtbar wird, wo die Frage nach dem Ursächlichen ihr Ende findet und der Patient den Boden betritt, der Entscheidung verlangt, verdankt Verfasser den philosophischen Schriften Oswald Weidenbachs. Vor allem verpflichtet fühlt er sich dem letzten Buch des verehrten Lehrers „Ethos contra Logos“, das den Gedanken der Freiheit konsequent zuende denkt bis zu dem Punkte des Verzichtens auf jede logische Vollendung und Vollendbarkeit der Welt. Ich wüßte keine bessere Form des Dankes, als dieses Buch mit einem Satz Weidenbachs einzuleiten, dessen Wahrheit sich im Verlauf ärztlichen Handelns grundsätzlich bestätigt hat: ‚Der Sinn der Welt liegt darin, daß an jedem ihrer Punkte Tat aus Freiheit möglich ist.’“
(Johannes Cremerius (1951) Psychotherapie als Kurzbehandlung in der Sprechstunde. München: J.F. Lehmanns Verlag; Zitat S.17)

Übrigens, diese Kommentierung des eigenen Auswählens von Zitaten habe ich mir eingehandelt, als ich zu Tom Levold sagte, „Zitat des Tages“, schön und gut, aber wohin führt dieses fragmentarische Goutieren von – zugegeben – nahrhaften Häppchen? Wie wär’s mit einem kleinen Spruch: wozu dieses? Was macht mir dieses Zitat wichtig? Ja gut, sagt Tom, just do it. So nun. Und nu?

11. September 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Psychotherapie & Sozialwissenschaft 1/2009

Vor 10 Jahren, 1999, erschien im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht die erste Ausgabe der Zeitschrift„Psychotherapie & Sozialwissenschaft“, die seit 2005 im Psychosozial-Verlag erscheint. Das aktuelle Heft wird mit„einer kurzen Geschichte der Zeitschrift“ von Jörg Frommer und Brigitte Boothe eröffnet, die jedoch – wie Eingeweihte bemerken werden – eine ganze Reihe interessanter, aber womöglich auch konflikthafter Aspekte der„Geschichte der Zeitschrift“ recht beharrlich ausblendet. Ein erstaunliches Beispiel von Geschichtsschreibung. Darüberhinaus finden sich im Heft verschiedene Arbeiten, die sich mit der Ablauforganisation des therapeutischen Gespräches (Streeck), dem Arbeitsbündnis aus gesprächsanalytischer Sicht (Saladin & Grimmer) sowie einer Untersuchung von Narrativen zum Thema Alter, Gesundheit und Religion ((Baumann-Neuhaus & Matthys) beschäftigen. Zwei umfangreiche Rezensionen runden das Heft ab.

10. September 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Worte verändern die Welt

Thomas Erlach ist Sozialwissenschaftler, arbeitet als Behindertenbetreuer und ist Mitinitiator der Linzer Initative, einem Netzwerk kritischer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Sozialbereich. In seinem Buch über die„Die Macht der Sprache in der ökonomisierten sozialen Arbeit“, dem die Wut im Bauch durchaus anzumerken ist, kritisiert er den semantischen Umbau der Sozialen Arbeit hin zu einem System mit betriebswirtschaftlicher Logik, in dem„Klienten“ zu„Kunden“ werden, ohne überhaupt – wie übrigens auch die Professionellen selbst – an diesem Prozess beteiligt zu sein. Unterfüttert werden seine Thesen, die im Oktober im Paranus-Verlag erscheinen, mit Interviews von Praktikern der Sozialen Arbeit. systemagazin bringt einen Vorabdruck des Kapitels„Konstruktivismus und die Wirklichkeit sozialer Arbeit“.
Zum Vorabdruck…

8. September 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Kraftakt radikaler Umbau

Auf der website des Management-Zentrums Witten ist ein aktueller Beitrag von Rudolf Wimmer aus dem neuen Heft der„Organisationsentwicklung“ finden, der sich mit Change Management als Krisenbewältigung beschäftigt und auch die Rolle der Führung bei Veränderungsprozessen kritisch unter die Lupe nimmt:„Es ist eine beliebte Form der Komplexitätsreduktion, dass sich die Verantwortlichen für einen Changeprozess selbst von demselben unmittelbar nicht betroffen fühlen. Ändern müssen sich ja die anderen: die Führungskräfte der nächsten Ebenen, die Beschäftigten der umorganisierten Bereiche, die Mitarbeiter der bei einer Fusion zu integrierenden Einheiten, die Belegschaften des zu schließenden Standortes, etc. Dies bedeutet, dass die verantwortlichen Akteure das Veränderungsvorhaben auch als Nicht-Betroffene denken, sie sind ja in der Gestalterrolle und haben deshalb die Zukunft mental bereits vorweggenommen. Die Veränderungsanforderungen fallen bei den «Geführten» an; dort gilt es Bewegung zu erzeugen. Man selbst ist diesbezüglich außen vor. Diese auf einer beliebten Spaltung zwischen «Tätern und Opfern» aufsetzende Konstruk tion ist ein weiterer sehr häufig zu beobachtender blinder Fleck in organisationalen Transformationsprozessen. Ein Blick hinter die Kulissen aktueller Krisenbewältigungsstrategien liefert für diese Spaltungstendenz eine Vielzahl anschaulicher Beispiele“
Zum vollständigen Text…

7. September 2009
von Tom Levold
Keine Kommentare

Philosophische Praxis und Psychotherapie

Der vorliegende Tagungsband enthält Beiträge eines Kolloqiums der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis, die ihr Selbstverständnis nicht in einer alternativen Psychotherapie sucht, sondern vielmehr eine Alternative zur Psychotherapie sein will. Rezensent Wolfgang Loth ist beeindruckt:„Das klingt nach einem starken Stück, und ich muss gestehen: für mich ist es das auch! Die in diesem Buch versammelten Beiträge strahlen eine ungemein frische und ansteckende Kraft aus, dass ich mich dem Sog kaum entziehen konnte. Ich bekam beim Lesen zunehmend den Eindruck, dass hier, mit diesem Thema und in dieser Form eine Anregung Gestalt annimmt, wie der drohenden Erstarrung Systemischer Therapie, ihrer Versenkung im real existierenden Anpassungsdruck entgegengewirkt werden kann. Und dies nicht wegen der Attraktion eines Neulands, sondern wegen einer Vielzahl von aufscheinenden Querverbindungen und Überschneidungen zwischen den Grundlagen Systemischer und Philosophischer Praxis. „Philosophisch Praktizieren heißt, der latenten Versuchung widerstehen, Menschen zu kategorisieren“, heißt es z.B. im Editorial von T. Gutknecht (S.7) und der norwegische Philosoph Anders Lindseth unterstreicht: „Wollen wir aber dieses Wirken Philosophischer Praxis verstehen, brauchen wir einen anderen Begriff von Wirkung als im üblichen Kausalverstehen, wo Wirkung immer als Folge von Einwirkung verstanden wird“ (S.19)“
Zur vollständigen Rezension