„Zum Kern von Wissenschaft gehört Kritik, die keine Tabus kennt. Sie ist der Lebensquell einer jeden Wissenschaft. Es gilt, Schlussfolgerungen transparent zu machen sowie plausible Argumente auf ihre Geltungsbasis hin zu überprüfen. Kritik erfordert und ermöglicht, Distanz zu praktischen Urteilen und Vorlieben zu nehmen, zu lieb gewonnenen Thesen. Kritik ist kein Privileg der Soziologie oder der Geisteswissenschaften, sondern macht jede Wissenschaft im Innersten aus. Wissenschaft tritt immer mit Verallgemeinerungsanspruch auf, interessiert sich in erster Linie für das Allgemeine, das sie auch im Besonderen sucht. Aber jedes Besondere, das die Geltung des Allgemeinen in Frage stellt, reicht aus, um eine Theorie zum Einsturz zu bringen. Wir können im strengen Sinne sagen: Wo keine Kritik erfolgt, da ist auch keine Wissenschaft, dort erfolgt keine Überprüfung von Schlussfolgerungen und Theorien. Kritik steht also im Zentrum der Soziologie als Wissenschaft; dazu gehört sowohl die methodische Kritik von Alltagswissen, als auch die von wissenschaftlichen Annahmen, Überzeugungen und Erklärungsmodellen. Wie ist es um diese unerlässliche Kritik bestellt? Sie sollte nicht nur in wissenschaftlichen Publikationen, sondern auch auf Tagungen möglich sein. Das Zeitregime solcher Veranstaltungen ist jedoch sehr rigide. Lassen schon Vorträge von zwanzig Minuten kaum Spielraum, ein Problem angemessen darzulegen, so verhindern Diskussionszeiten von zehn, gar nur fünf Minuten eine Auseinandersetzung mit einer Forschungsfrage vollends. Dabei könnte kollegiale Kritik sich zum Wohle des Fortschritts der Wissenschaft entfalten. Sie macht es zudem auch dem interessierten Laien möglich, sich am wissenschaftlichen Streit zu beteiligen, wodurch er wie selbstverständlich auf die Logik des Arguments verpflichtet wird. Wenn die Kollegialität lebendig ist, bedarf es zur Einhaltung wissenschaftlicher Regeln auch keiner aufwendigen Kontrollen und Evaluationen. Wird auf Tagungen diese Kultur der Kritik nicht mehr gepflegt, geraten sie in Gefahr, sich in Instrumente einer„Karrierepolitik“ zu verwandeln: zur Plattform für Auftritte, um bekannt zu werden. Dies hat eine gewisse Beliebigkeit befördert: Der Verpflichtung zur Kritik wird etwa mit dem Hinweis ausgewichen, man gehöre einer anderen Schule an“ (In:„Soziologie – Gegenwart und Zukunft einer Wissenschaft“, In: Aus Politik und Zeitgeschichte 34-35/2005, S. 24)
10. Dezember 2009
von Tom Levold
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