systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

12. Juni 2011
von Tom Levold
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Brücken über Gräben

Etwas vom Schönsten, was ich in Therapien erlebe, ist die reale Begegnung von erwachsenen Kindern mit ihren Eltern. Auf den ersten Blick ist es zwar einfacher, wenn beide Generationen über die Bilder klagen, die sie sich voneinander machen. «Schrecklich, diese Mutter. Sie hat mir nie gegeben, was ich gebraucht hätte.» Oder: «Unser Sohn hat die falsche Frau erwischt. Wenn die wüsste, wie wir Schwiegereltern unter ihr leiden.» Generationenprobleme können auch zu lösen versucht werden mit sogenannten Familienaufstellungen, bei denen fremde Rollenspieler vor möglichst viel Publikum die persönliche Sicht eines Mannes oder einer Frau von ihrer Herkunftsfamilie inszenieren. Lösungen für den «Aufsteller» werden dann von dem Gruppenleiter vorgegeben, indem er die richtige Ordnung zwischen den Generationen, zwischen Frauen und Männern und der Rangfolge der Geschwister herstellt und den Spielern mitteilt, wer wem Anerkennung oder Sühne zu leisten hat. Die entsprechenden Sprachregeln erinnern an katholisch- kirchliche Rituale. Es geht um Verneigungen vor denen, die einem das Leben schwer gemacht haben, oder um Würdigung jener, die keinen «guten Platz» hatten in der Familie. Diese Inszenierung einer individuellen Sichtweise schliesst die real Betroffenen (Vater, Mutter oder Geschwister) aus.
Vielleicht wirkt sie gerade deshalb so tröstlich? Vor allem für das Publikum, welches den Prozess auf der Bühne mit seinen Tränen begleitet. Wer hat keine unerledigten Geschichten in seiner Familie und kann sie nicht stellvertretend beweinen?
Bei mir gibt es in Therapien weder stellvertretende Familienmitglieder noch ein mitschluchzendes Publikum, dafür Menschen, die miteinander aus gemeinsam gelebter Vergangenheit Zukunft gestalten. Tränen können dazu gehören, manchmal kommen sie auch mir vor Rührung, dass endlich Brücken über Gräben gebaut werden.
Kürzlich sass ich mit einem 80-jährigen Vater und seiner 45-jährigen einzigen Tochter zusammen. Es ging um die emotionale Verstrickung der Frau mit ihrer verstorbenen Mutter und ihre Schuldzuweisung an den Vater: «Du hast dich nur um deine Arbeit gekümmert und uns Frauen nie ernst genommen, darum musste ich immer für meine Mutter da sein.» Wohl zum ersten Mal bekam aber dann im Gespräch auch die Geschichte des Vaters Raum: Er erzählte von seiner Mühe, das marode Familiengeschäft zu sanieren und von seiner Erfahrung, dafür aus Ehe und Familie ausgeschlossen zu werden. Das gemeinsame Erzählen ergab zwar keine Wunderlösung, dafür eine Annäherung von Vater und Tochter, die sich schrittweise im Alltag fortsetzt.

Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf“ veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.

7. Juni 2011
von Tom Levold
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The Epidemic of Mental Illness: Why?

In der aktuellen Ausgabe der New York Review of Books ist der sehr lesenswerte erste Teil einer Besprechung dreier Psychopharmaka-kritischer Bücher von Marcia Angell erschienen. Darin heißt es:„Nowadays treatment by medical doctors nearly always means psychoactive drugs, that is, drugs that affect the mental state. In fact, most psychiatrists treat only with drugs, and refer patients to psychologists or social workers if they believe psychotherapy is also warranted. The shift from “talk therapy” to drugs as the dominant mode of treatment coincides with the emergence over the past four decades of the theory that mental illness is caused primarily by chemical imbalances in the brain that can be corrected by specific drugs. That theory became broadly accepted, by the media and the public as well as by the medical profession, after Prozac came to market in 1987 and was intensively promoted as a corrective for a deficiency of serotonin in the brain. The number of people treated for depression tripled in the following ten years, and about 10 percent of Americans over age six now take antidepressants. The increased use of drugs to treat psychosis is even more dramatic. The new generation of antipsychotics, such as Risperdal, Zyprexa, and Seroquel, has replaced cholesterol-lowering agents as the top-selling class of drugs in the US. What is going on here? Is the prevalence of mental illness really that high and still climbing? Particularly if these disorders are biologically determined and not a result of environmental influences, is it plausible to suppose that such an increase is real? Or are we learning to recognize and diagnose mental disorders that were always there? On the other hand, are we simply expanding the criteria for mental illness so that nearly everyone has one? And what about the drugs that are now the mainstay of treatment? Do they work? If they do, shouldn’t we expect the prevalence of mental illness to be declining, not rising?“
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6. Juni 2011
von Tom Levold
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forgotten how to disagree with each other…

In seinem schönen Editorial zur aktuellen Ausgabe des Journal of Family Therapy schreibt Herausgeber Mark Rivett kritisch zum gegenwärtigen systemischen Diskurs:„Sometimes, as I listen to speakers at conferences, when I read articles or when I hear colleagues reflect on clinical material, I wonder if we have forgotten how to disagree with each other. In other words, I wonder if the systemic concept of multiple perspectives has drained the value out of the differences in those perspectives. Of course, there is nothing worse than debates between those who believe certainty is on their side. Many in those nations currently in turmoil may make the claim that certainty is but a bus stop on the road to oppression. However, family therapy and systemic practice has also privileged the idea that we do not know what we think until we have debated it with others. This debate can be driven by doubt, uncertainty and humility as much as it can be driven by ego, certainty and pride. It is therefore with some pleasure that I introduce this issue jampacked full of controversies“. Im Heft geht es u.a. um die Standards systemischer Kompetenzen, um die Rolle systemischer Expertise bei der professionellen Einschätzung von Risiken, um die Rhetorik von Elternprogrammen und um Fragen der Vertraulichkeit und Verschwiegenheit in der Familientherapie.
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5. Juni 2011
von Tom Levold
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Sex mit voller Sicht

Seit 9 Jahren leben Katja und Robert zusammen. Sie haben eine Tochter von 8 und einen Sohn von 7 Jahren. Katja, Lehrerin, ist halbtags berufstätig, und Robert arbeitet als Bautechniker. Beide lieben ihre Kinder und ihre Arbeit. Aber ihre Beziehung sei seit der Geburt der Kinder lustlos und monoton, es gebe kaum noch leidenschaftliche Begegnungen. Robert fragt, ob sie vielleicht dafür eine Sexualtherapie bräuchten?
Weil das Thema Sex zu jeder guten Paarberatung gehört, ermutige ich das Paar zur Fortsetzung der Gespräche bei mir. Katja erzählt zerknirscht, dass sie sich in einen jungen Kollegen (der davon nichts weiss) verliebt und es inzwischen Robert gestanden habe, worauf dieser mit der Bemerkung, dass er das bei so viel Kälte zwischen ihnen normal finde, zur Tagesordnung übergegangen sei. Roberts Vernunft und Gelassenheit in allen Lebenslagen löst bei Katja immer wieder Verzweiflung aus und gibt ihr das Gefühl, Teil des häuslichen Inventars zu sein. Zwar schlafen sie noch ab und zu miteinander, aber ohne Feuer. Robert: «Ich möchte schon, dass es sexuell wieder so lebendig wird zwischen uns, wie es vor der Geburt der Kinder war, und dass Katja so experimentierfreudig ist wie damals – aber wie soll das gelingen, wenn sie andere Männer in ihre Phantasien lässt?» Katja: «Ich frage mich mit schlechtem Gewissen, warum das so ist. Eigentlich liebe ich Robert. Kürzlich habe ich meine sexuellen Wünsche aufgeschrieben. Aber es kam mir nur Banales in den Sinn. Meine grösste Sehnsucht ist, dass Robert mir wieder einmal in die Augen schaut, wenn er mich begehrt, damit ich weiss, er meint mich und nicht einfach seine eigene Entspannung.»
Es sind selten Tragödien, mit denen Paare zu mir kommen, sondern ganz gewöhnliche, alltägliche Enttäuschungen wie eben, dass Lust und Leidenschaft nach der Geburt von Kindern in der Familie «verschwimmen». Es scheint eine normale Unvereinbarkeit zwischen Bindung und Sexualität und zwischen Elternschaft und sinnlicher Paarbeziehung zu geben. Der Graben kann aber überbrückt werden, wenn beide bereit sind, einander ihre Wünsche zuzumuten. Denn die Glut ihrer sexuellen Sehnsüchte lebt im Geheimen fast immer weiter, und der Sauerstoff, welcher sie anfacht, entsteht auf vielfältige Weise: zum Beispiel in der ausserehelichen Verliebtheit, dem Romeo- und-Julia-Syndrom des Unmöglichen. Wenn ein solches Erlebnis als Vorbote von Wandel statt als Tragödie verstanden wird und das Paar eigene Liebesinseln findet, können sexuelle Begegnungen «mit offenen Augen» zur Wiederbelebung der Leidenschaft führen.

Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf“ veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.

3. Juni 2011
von Tom Levold
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Everything is connected: Tim Parks über Gregory Bateson

Es ist schon eine Weile her, dass dieser Artikel des englischen Schriftstellers Tim Parks über Gregory Bateson im Guardian erschienen ist, gefunden habe ich ihn erst jetzt. Er trifft die Grundhaltung Batesons vielleich gerade deshalb sehr schön, weil er als Schriftsteller nicht nur ein besonderes Gespür für die ästhetischen Dimensionen der Erkenntnis, sondern auch für die persönliche Geschichte Batesons hat, ohne die seine wissenschaftliche Leistungen und sein Interesse nicht zu verstehen sind. Aktuell ist der Artikel, weil Anfang Juli der Film von Batesons Tochter Nora in Deutschland zu sehen ist, u.a. in Köln, Heidelberg und Freiburg. Parks schließt seinen Text folgendermaßen:„Perhaps, true to his own reasoning, he wasn’t trying to„be practical“, but to offer an attractive idea we might enjoy reflecting on. One of the characteristic aspects of his work is his attempt to draw science into the realm of aesthetics. Having likened the prospect of benign government intervention in social behaviour to the task of reversing an articulated lorry through a labyrinth, he concludes:„We social scientists would do well to hold back our eagerness to control that world which we so imperfectly understand. The fact of our imperfect understanding should not be allowed to feed our anxiety and so increase the need to control. Rather our studies could be inspired by a more ancient, but today less honoured, motive: a curiosity about the world of which we are part. The rewards of such work are not power but beauty“ Rebelling to the end against his father’s tendency to place artistic genius on a pedestal and beyond the reach of ordinary minds, Bateson invites us all, whatever we may be up to, to put beauty before„practicality“. His achievement was to offer convincing scientific arguments for our doing so.
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2. Juni 2011
von Tom Levold
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Ein systemisch-ethnologischer Expeditionsbericht aus einer Karawanserei

Die Systemische Gesellschaft hat in diesem Jahr eine ganz besondere Jahrestagung unter dem Motto„SGeht raus“ in Berlin veranstaltet. Die Teilnehmer waren eingeladen, in der Stadt auf Streifzüge zu gehen und ihre Tagungsorganisation weitgehend selbst in die Hand zu nehmen. Edelgard Struß aus Köln war dabei und hat einen schönen Tagungsbericht geschrieben, der bei allen, die nicht dabei sein konnten, ein bisschen Wehmut aufkommen lassen dürfte.
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1. Juni 2011
von Tom Levold
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DGSF-Forschungspreis

Die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) schreibt – im jährlichen Wechsel mit der Systemischen Gesellschaft (SG) – einen Forschungspreis aus. Der DGSF-Forschungspreis ist mit 3000 Euro dotiert. Mit dem Preis soll eine Forschungsarbeit ausgezeichnet werden, die einen innovativen Beitrag zur Weiterentwicklung systemischer Forschung leistet. Dies ist möglich durch ein neuartiges methodisches Design, durch eine spannende Verknüpfung von systemischer Theorie und Methode, durch anregende Theoriebildung und -entwicklung oder durch überzeugende Impulse für die systemische Praxis. Die Forschungsarbeiten können sich auf alle Felder systemischen Arbeitens beziehen und Fragen zur Therapie, Beratung, Supervision, Coaching oder Organisationsberatung, aber auch weitere systemisch relevante Themenstellungen bearbeiten. Es können systematisch aufbereitete Einzelfallstudien, Versorgungs-Studien, Prozess- oder Outcome-Studien ebenso wie manualisierte Therapiestudien vorgelegt werden. Möglich sind auch theoretische Arbeiten, die über die Aufarbeitung vorhandener Theorien zu neuen Theoriekonzeptionen führen. Prämiert werden in erster Linie Arbeiten aus dem deutschen Sprachraum, bevorzugt von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern. Neben rein universitären Arbeiten sind auch Forschungsarbeiten von Praktikerinnen und Praktikern zur Einsendung erwünscht. Die Arbeit soll noch nicht oder nicht vor dem 1. Juli 2011 veröffentlicht worden sein. Die Entscheidung über die Preisvergabe trifft unter Ausschluss des Rechtsweges ein Gremium, in dem Gutachterinnen und Gutachter mehrerer Disziplinen vertreten sind.
Einsendeschluss für den DGSF-Forschungspreis 2012 ist der 28. Februar 2012. Bitte senden Sie die Arbeit in vierfacher Ausfertigung an die Geschäftsstelle der DGSF. Die Preisverleihung erfolgt auf der DGSF-Jahrestagung vom 3. bis 6. Oktober 2012 in Freiburg.
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31. Mai 2011
von Tom Levold
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Systemische Therapie für Verhaltenstherapeuten

Wie gut lassen sich Systemische Therapie und Verhaltenstherapie zusammenbringen? Geht das überhaupt? Hans Lieb, Verhaltenstherapeut und Systemischer Therapeut, hat mit dem vorliegenden Buch, das sich an Verhaltenstherapeuten richtet, von dem aber auch Systemische Therapeuten profitieren können, einen Versuch gemacht, die grundlegenden Unterschiede in den Sichtweisen und Grundhaltungen herauszustellen und gleichzeitig zahlreiche Anknüpfungspunkte in Theorie und Praxis aufzuzeigen. Den RezensentInnen Anne Lang und Johannes Herwig-Lempp hat das Buch gefallen:„ich mag das Buch, da es klar und deutlich geschrieben ist ohne zu vereinfachen. Es plädiert unaufdringlich für eine akademische Auseinandersetzung mit dem, was wir in der Praxis als Psychotherapeuten – vorgegeben vom Kontext- systemisch verantworten. Darin ist es nicht auf Verhaltenstherapie beschränkt; aber gerade mit diesem Verfahren ist der Unterschiedsabgleich sehr gewinnbringend!“ (A. Lang).
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30. Mai 2011
von Tom Levold
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Psychokardiologie

Mit einer eindrucksvollen verlegerischen Leistung hat es der Thieme-Verlag wieder einmal geschafft, in der neuen Ausgabe von„Psychotherapie im Dialog“ vier Seiten einzusparen und die dafür vorgesehenen Literaturhinweise einiger Beiträge ins Internet auszulagern. Um es für die Leser etwas spannender zu machen, dürfen sie nach dem Herunterladen der Literaturverzeichnisse auch selbst herausfinden, zu welchen Beiträgen denn nun die Literaturangaben am besten passen (oder eben zum Nachgucken nochmal auf die website des Verlages gehen). Im Heft selbst gibt es jetzt allerdings statt der Literaturhinweise auch ein bisschen Platz für persönliche Notizen. Das aktuelle Heft dreht sich um Psychokardiologie.
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