systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

8. Juli 2011
von Tom Levold
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Macht Arbeit depressiv?

Mit seinem Buch Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart“ ist der französische Soziologe Alain Ehrenberg 2004 auch einem deutschen Publikum bekannt geworden. Darin erklärt er den Aufstieg der Depression zur Volkskrankheit mit den zunehmenden inneren und äußeren Anforderungen, denen die Menschen im Zeitalter des „Flexiblen Kapitalismus“ in ihren Arbeitsprozessen und Beschäftigungsverhältnissen immer stärker ausgesetzt sind. Rudi Schmiede, Professor für Soziologie an der TU Darmstadt (Foto: ifs-tu.darmstadt.de) hat in einem 2011 von Cornelia Koppetsch im VS-Verlag herausgegebenen Sammelband „ Die Innenwelten des Kapitalismus“ einen Aufsatz mit dem Titel „Macht Arbeit depressiv? Psychische Erkrankungen im flexiblen Kapitalismus“ verfasst, in dem er Ehrenbergs These bekräftigt: „Was folgt aus dieser Diagnose? Für die wissenschaftlichen Bemühungen lässt sich das Postulat formulieren, dass die Arbeits-, Organisations-, Industrie- und Technikforschung ihren Blick stärker auf das Individuum inihrem jeweiligen Untersuchungsfeld richten und weiterentwickeln sollte. Oft vernachlässigte Bereiche der „Innenwelten des Kapitalismus“ wie z.B. die im Kontext von Zielvereinbarungen oder von Projektarbeit veränderten Entlohnungssysteme oder die Vielfalt der (Weiter-)Bildungssysteme und -wege und die damit zusammenhängenden Karrierewege verdienen erhöhte Aufmerksamkeit. Ferner ist die biographische Dimension von Arbeit und Beschäftigung in der Forschung nach wie vor unterbelichtet. Die Forschung müsste deutlich stärker als bisher von der Erkenntnis ausgehen, dass die Wirksamkeit der beschriebenen disziplinierenden, prägenden und potentiell pathogenen Einflussfaktoren direkt mit dem Grad der Unmittelbarkeit der ökonomische markt- und machtvermittelten Durchgriffe des Weltmarkts auf die Individuen, Arbeitsgruppen oder Betriebseinheiten zusammenhängt. Damit sind auch Folgerungen für die Gestaltung der Realität angesprochen: Jede Strategie zur Entkoppelung oder zumindest Dämpfung dieser Unmittelbarkeit ist förderlich, um den Druck auf die Individuen zu vermindern.“ Der Aufsatz ist auch im Internet zu lesen,
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7. Juli 2011
von Tom Levold
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Der Ursprung des Bewusstseins

1988 erschien erstmals die deutsche Fassung von„Der Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche“ des amerikanischen Psychologen Julian Jaynes, in dem dieser die hochspekulative These vertritt, das Entstehen des Bewusstseins gehe mit dem Zusammenbruch der von ihm so genannten„bikameralen Psyche“ einher.„Die Menschen in der vorhomerischen Zeit hatten, und das ist die zweite Hauptthese von Jaynes, einen„Zwei-Kammer-Geist“, einen ausführenden und einen befehlenden, beide nicht-bewusst. In Krisenzeiten, wenn eine Situation eine Entscheidung erforderte,„halluzinierte“ der ausführende Geist die Stimme von Göttern, die ihm sagte, was zu tun sei. Die Entstehung der bikameralen Zivilisation setzt Jaynes in die Zeit der Entstehung der ersten Städte, um das Jahr 9000 v. Chr. Zivilisation, sagt Jaynes, ist die„Kunst in Städten zu leben, in denen nicht jeder jeden kennt“. Für das Funktionieren dieser Gesellschaften, seien die halluzinierten Stimmen von Königen und/oder Göttern notwendig gewesen. Der umfangreichste Teil des Buches versucht historische Belege für diese zweite These zu liefern. Die Krise, die durch das Verschwinden der Götter (möglicherweise mit hervorgerufen durch das Aufkommen von Schrift) hervorgerufen wurde, mündete darin, dass die Menschen ein Bewusstsein entwickelten“ (Wikipedia). Das Buch ist spannend geschrieben und trotz seiner spekulativen Anlage immer noch sehr lesenswert. Jürgen Kriz hat hierzu angemerkt:„Hier reichen eigentlich die ersten 120 Seiten – diese sind aber für mich die zentralste phänomenologische Darstellung zum Thema Bewußtsein-Sprache-“Welt“, und z.B. ein “muߓ zum Verständnis der (auch für den systemischen Ansatz zentralen) “Narrationen“.
“ (in: Levold, T. (2000): Zurück in die Zukunft. 149 Bücher aus dem letzten Jahrhundert, die Systemische Therapeuten und Therapeutinnen auch zukünftig nicht vergessen – beziehungsweise noch lesen – sollten. System Familie 13(1), 84-94). Leider ist die Taschenbuchausgabe vergriffen und bei Amazon nur noch gebraucht zu einem Vielfachen des Preises erhältlich. Allerdings lässt sich der gesamte Text des Buches auch im Internet auf den Seiten der Julian Jaynes Society nachlesen,
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6. Juli 2011
von Tom Levold
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Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind!

Provokative Therapie? Muss man irgendwie mögen. E. Noni Höfner, Schülerin von Frank Farrelly sowie Gründerin und Leiterin des Deutschen Instituts für Provokative Therapie, hat im Frühjahr bei Carl-Auer ein Buch mit vielen Fallbeispielen über die Grundlagen des Provokativen Stils veröffentlicht. Dennis Gildehaus hat es gelesen und ist angetan:„Ich kann das vorliegende Buch nur jedem empfehlen, der annähernd mit Menschen arbeitet und gerne etwas ausprobieren möchte, das er so noch nicht angewendet hat. Das Buch zu lesen irritierte mich anfangs, weil es durchgängig im Provokativen Stil geschrieben wurde und mich stets persönlich ansprach. Hervorragend beschrieben sind die 11 Fallbeispiele, da sie komplett transkribiert wurden. Die Autorin hat in Klammern gesetzt, wann gelacht, komisch geguckt oder auch geweint wird, so dass ein Sog entsteht, als wäre man live dabei. Eine Pflichtlektüre für jeden Berater, Therapeuten oder Coach“
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4. Juli 2011
von Tom Levold
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Organisationsinternes Coaching

Immer beliebter in Unternehmen wird das hausinterne Coaching als Personalentwicklungsmaßnahme. Das hat Vorteile hinsichtlich der Kenntnis der Organisationskultur, der strategischen Einbindung von Coaching-Prozessen in die Unternehmensphilosophie und in Bezug auf langfristige Personalentwicklung und Karriereplanungen, birgt jedoch notwendigerweise auch Konfliktpotentiale. Es ist oft schwierig, eine echte Vertrauensbeziehung aufzubauen, nicht immer ist wirkliche„Augenhöhe“ zu erreichen, interne Coaches haben mit Loyalitätskonflikten zu kämpfen. Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich das aktuelle Heft von OSC.
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3. Juli 2011
von Tom Levold
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Ein Paar in Bahntrance

Die Freude einer langen Paarbeziehung besteht auch darin, dass die Partner ähnliche Vorlieben haben. Wir zum Beispiel teilen uns die Lust am Bahnfahren. Wir hängen gerne in einem Abteil der ersten Klasse, du mit einem Bier, ich mit einem Fläschchen Weisswein. Leise tauschen wir Eindrücke aus – im privaten Code eines langen gemeinsamen Lebens. Dazwischen zärtliches Schweigen. Wunderbare Trance, in die uns die Monotonie des Fahrens einlullt, entspannendes Wissen, dass andere verantwortlich sind für uns. Eine solche Fahrt im Ruhewagen erlebten wir kürzlich auf dem Weg zur Expo. Glühend heisser Samstag, die Bahn klimatisiert, freundliche Stimmung unter den Mitreisenden. Ab und zu einvernehmliche Blickkontakte. Keiner muss ins Handy schreien und uns sein Privates mitteilen. Dann vor drei Tagen das Gegenprogramm. Tyrannei der öffentlichen Intimität im Zug nach München, am Ende eines Arbeitstages.
Schon in Zürich beginnt der Ärger; es gibt weder Ruhe- noch Speisewagen. Im Nebenabteil erledigt ein etwa Vierzigjähriger alle aufgestauten geschäftlichen und privaten Telefonate. Mit stolzem Gesichtsausdruck posaunt er Befehle ins Telefon. Für die Mitfahrenden unüberhörbar, was für Produkte Herr Lautsprecher verkauft. An seinem Tonfall erkennen wir, welche Position der von ihm Angerufene in der Unternehmenshierarchie hat. Aber wollen wir das wirklich hören? Du und ich schauen uns kopfschüttelnd an, suchen vergeblich nach Ohropax und halten uns schliesslich die Ohren zu. Eine das Gegenteil bewirkende Anstrengung!
Unsere Lage ist hoffnungslos. Freie Plätze gibt es keine. In St. Gallen steigt der Dauerredner aus. Dafür steigt eine Dame mit ihrem Teenager-Sohn ins Abteil. Und so geht die Tyrannei des Handy- Geschwätzes gleich weiter. Diesmal als Duett von Sopran und Stimmbruch. Als ein Mitreisender sich beschwert, muss der Stimmbruch-Jugendliche mit seinem Gerät in den Gang; der mütterliche Sopran aber singt ungestört weiter. Bis München haben wir sicher ein Dutzend Mal gehört, dass unser Zug dort um 22 Uhr eintreffen wird. Auf der Rückreise lächelt uns das Glück. Ein Geistlicher setzt sich neben uns. Wir lächeln uns zu und fallen bald in die übliche Bahntrance. Bis unser Nachbar ein Handy aus der Tasche zieht. Jetzt redet er mit dem lieben Gott, flüsterst du. Aber der Geistliche redet nicht, er hält ein Ohr an den Hörer, richtet den Blick nach oben, sicher eine Viertelstunde lang. Papst oder lieber Gott? Egal. Wir schauen uns an, und unsere Welt ist bis Zürich in Ordnung.

Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf“ veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.

2. Juli 2011
von Tom Levold
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III. internationale systemische Konferenz 9.-11.6.2011 in Prag


Vom 9.-11. Juni fand in Prag die III. Internationale Systemische Konferenz zum Thema„Glaubenssysteme und Systemisches Handeln – Systemische Denkmodelle und ihre Praxis“ statt, eine kleine, aber spannende Tagung mit Referenten aus den USA, Mexiko und Europa – bei schönstem Wetter und in entspannter Atmosphäre, veranstaltet vom ISZ-Institut in Prag. Keinen eigentlichen Tagungsbericht, aber eine sehr persönliche Geschichte ihres Tagungsbesuches hat systemagazin-Leserin Sabine Schlotter aus Dresden aufgeschrieben, den Sie heute im systemagazin lesen können:„In Prag habe ich nun von anerkannten Fachleuten etwas über die Kunst der Improvisation in der Psychotherapie gelernt und erfahren, dass es vieler Kompetenzen bedarf, um sich durch den Alltag zu wursteln – „to solve one damn thing after another“ habe das Steve de Shazer einmal genannt. (…) Ich nehme aus Prag die große Ermutigung mit, dass ich nicht die Einzige bin, die sich jeden Tag aufs neue irgendwie mit den ihr gegebenen Talenten durch die verdammten Einzelheiten kämpft. Und die Enttäuschung, dass sich das nicht irgendwann geben wird. Das beinhaltet aber ja auch die Aussicht auf eine stetige Lebendigkeit des Alltags – langweilig wird es so wohl auch nicht!“
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29. Juni 2011
von Tom Levold
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Kontext 2012: call for papers der Herausgeber

Liebe Leserinnen und Leser,
im Zusammenhang mit der DGSF-Jahrestagung 2012 in Freiburg (3. bis 6. Ok- tober), Titel: »Dialog der Kulturen – Kultur des Dialogs«, planen wir für das nächste Jahr eine Ausgabe des „Kontext“ zum Thema interkulturelle Kommunikation, Beratung und Therapie. Wir möchten deshalb auf diesem Wege alle Leser(innen) um Geschichten bitten, in denen über ganz konkrete eigene Begegnungen und Erfahrungen im interkulturellen Raum berichtet wird, bei denen Selbstverständlichkeiten unserer Kultur durch den Kontakt mit Menschen anderer Kulturen und Milieus in Frage gestellt oder bestätigt wurden bzw. sich als wenig bedeutsam erwiesen haben. Diese würden wir gern in dem geplanten Themenheft veröffentlichen – im Sinne eines praktischen interkulturellen Dialogs.
Wir möchten in diesem Zusammenhang auf der Freiburger Tagung eine Workshop anbieten, in dem diese Geschichten von ihren Autor(inn)en erzählt und dialogisch ausgetauscht werden. Vielleicht ergeben sich hier kommunikative Prozesse, deren Ergebnisse das Themenheft ebenfalls bereichern können.
Noch einige Worte zu dem von uns vertretenen Kulturbegriff, den wir sehr breit anlegen: Kulturen sind nicht unbedingt durch nationale Zugehörigkeiten definiert, auch unterschiedliche Milieus einer Gesellschaft können unterschiedliche Kulturen bzw. Subkulturen entwickeln. Interessant sind außerdem Erlebnisse, die Ähnlichkeiten oder Gleichheiten über unterschiedliche Kulturen hinweg zum Thema haben, denn warum sollen unterschiedliche Kulturen immer nur durch Differenzen bestimmbar sein ? Gibt es vielleicht auch Gemeinsamkeiten, die sich überall auf der Welt finden lassen, wie etwa die von C. G. Jung beschriebenen Archetypen, oder ein universelles Verständnis für Gerechtigkeit und Respekt?
Alles ist willkommen: Erfahrungsberichte, Geschichten, Anekdoten aus Freundschafts- und Liebesbeziehungen, Vereinen, Schulen, Beratungen/Therapien, religiösen Gemeinschaften oder kulturellen Veranstaltungen, die einen erfahrungsorientierten und reflexiven Blick auf unterschiedliche und gemeinsam geteilte Wirklichkeiten ermöglichen.
Wir freuen uns auf eure/Ihre Beiträge!
Wolf Ritscher, Petra Bauer, Dörte Foertsch, Tom Levold

Kontakt: Prof.Dr.WolfRitscher@t-online.de

28. Juni 2011
von Tom Levold
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Systemische Therapie 2020?

Im aktuellen Heft des„Kontext“ beantworten 13 Autorinnen und Autoren„quick and dirty“ die Frage, wie sie sich die Systemische Therapie 2020 vorstellen. Im Editorial schreiben die Herausgeber:„Wir erinnerten uns an die Zeit – lange ist’s her –, in der die neuesten Ausgaben der systemischen Zeitschriften mit Spannung erwartet wurden, weil immer wieder mit theoretischen oder methodischen Neuheiten gerechnet werden konnte, die man nicht verpassen wollte, um mitreden zu können. Das hat sich unserem Eindruck nach schon lange gelegt. Der systemische Ansatz, so könnte es den Anschein haben, ist in seine kanonische Phase eingetreten. Auch wenn immer wieder Details neu ausgeleuchtet werden, sind seine Grundzüge doch im Wesentlichen ausbuchstabiert, mit Innovation oder gar Kontroversen ist nicht mehr zu rechnen. Die Zeitschriftenbände füllen das Bücherregal – mehr nicht. Oder? Auf die Frage, ob es denn wirklich nichts mehr zu debattieren gäbe, konnten wir uns relativ schnell auf ein »Nein« einigen. Es mag sicherlich eine Reihe von Gründen für die Diskussionsmüdigkeit im systemischen Feld geben, der Energieverbrauch im Zusammenhang mit den Bemühungen um die Anerkennung durch den Wissenschaftlichen Beirat mag einer davon gewesen sein, dass es nunmehr an theoretischen, praxeologischen oder politischen Herausforderungen mangelt, wollen wir nicht glauben. Unserer Ansicht nach soll der »Kontext« nicht nur das spiegeln, was in der systemischen Szene vorfindbar ist, sondern selbst auch Impulse setzen, die eine Debattenkultur bestärken und einen Beitrag zur Verlebendigung des systemischen Diskurses leisten können. Aus diesem Grund wollen wir in Zukunft verstärkt das Potenzial an Unterschieden und Kontroversen ausloten, das sich unter dem scheinbaren Einklang der Systemiker versteckt hält. Das wird Zeit brauchen, auf die wir schon gespannt sind. Den Anfang machen wir mit dem aktuellen Heft, in dem wir eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen sowohl aus der DGSF als auch der SG unter dem Stichwort »Systemische Therapie 2020?« danach befragt haben, welche Aufgaben und Herausforderungen sie auf das Feld der Systemischen Therapie zukommen sehen – nachdem nun das Etappenziel einer Anerkennung durch den Wissenschaftlichen Beirat erreicht worden ist. Auf die Einladung zur Diskussion von Tom Levold haben Jürgen Kriz, Jürgen Hargens, Rüdiger Retzlaff, Wolfgang Loth, Kurt Ludewig, Wilhelm Rotthaus, Cornelia Oestereich, Reinert Hanswille, Michaela Herchenhan, Thomas Keller sowie Eugene Epstein und Manfred Wiesner geantwortet. Ihnen sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt, weil die Idee und Umsetzung des Heftes äußerst kurzfristig erfolgte und alle Autoren nur wenig Zeit für ihre Antwort hatten. Weil ausdrücklich auch »quick & dirty answers« erlaubt waren, muss man das Ergebnis als eine aktuelle Bestandsaufnahme und nicht als Katalog zeitloser Positionen lesen – gerade das macht es spannend. Wie wir erwartet haben, sind die Antworten alles andere als einheitlich, die Spannweite der Einschätzungen ist immens“ Außer den genannten Beiträgen und den üblichen Rubriken gibt es im neuen Heft noch das Transkriptes eines älteren (2008), aber immer noch höchst aktuellen Streitgespräches zwischen Tom Levold, Wolfgang Loth, Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer zum„Störungsspezifischen Wissen“.
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27. Juni 2011
von Tom Levold
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The Illusions of Psychiatry

Am 7.6. habe ich an dieser Stelle auf eine ausgezeichnete Buchbesprechung von Marcia Angell in der New York Book Review hingewiesen, in der sie der Frage nach den Ursachen der Epidemie„psychischer Krankheiten“ nachging. Seit heute ist der nicht minder spannende zweite Teil ihres Artikels online zu lesen, der vor allem dem problematischen Einsatz von Psychopharmaka durch Psychiater und dem Einfluss der Pharma-Industrie auf die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft, die die nächste Ausgabe des DSM (nämlich DSM-V) vorbereitet, gewidmet ist. Sie beschreibt u.a. eindrucksvoll, wie die Pharmazeutisierung und„Re-Medikalisierung“ der Psychiatrie als eine Strategie der APA auf die zunehmende gesellschaftliche Kritik an der Psychiatrie in den 60er und 70er Jahren vorangetrieben wurde:„In the late 1970s, the psychiatric profession struck back—hard. As Robert Whitaker tells it in Anatomy of an Epidemic, the medical director of the American Psychiatric Association (APA), Melvin Sabshin, declared in 1977 that “a vigorous effort to remedicalize psychiatry should be strongly supported,” and he launched an all-out media and public relations campaign to do exactly that. Psychiatry had a powerful weapon that its competitors lacked. Since psychiatrists must qualify as MDs, they have the legal authority to write prescriptions. By fully embracing the biological model of mental illness and the use of psychoactive drugs to treat it, psychiatry was able to relegate other mental health care providers to ancillary positions and also to identify itself as a scientific discipline along with the rest of the medical profession. Most important, by emphasizing drug treatment, psychiatry became the darling of the pharmaceutical industry, which soon made its gratitude tangible“
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26. Juni 2011
von Tom Levold
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Die gute Stube

Im Haus eines befreundeten Bauernpaares wirkt eine Schmutzschleuse als Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Lebensbereichen. Sie lädt den Bauern und seine Mitarbeiter ein, auf dem Weg von Acker, Wiese oder Stall die Stiefel abzustellen, zu duschen und die Arbeitskleider an den Nagel zu hängen. Der Übergang in die häusliche Sphäre wird durch dieses kleine Ritual markiert. In den traditionellen Familienverhältnissen bleibt die Hausarbeit zwar Frauensache, aber durch die symbolische Reinigung, bei der auch die grösseren Kinder mitmachen, bekommt die Bäuerin Anerkennung für ihre Arbeit. Die Schmutzschleuse stiftet Ordnung und Entlastung im Alltag, und sie dient der Aufrechterhaltung weiblicher und männlicher Bereiche, ohne dass darüber noch «kommuniziert» werden muss.
Eine ähnliche Funktion hatte im Haus meiner Kindheit die gute Stube. Im Geschäftshaushalt war es selbstverständlich, dass während der Woche die Angestellten mit am Tisch aßen. Es wurde am Werktag für zwölf oder mehr Leute gekocht, und wir Kinder waren froh, wenn unsere Stimmen am Tisch überhaupt gehört wurden. Anders am Sonntag, wenn nur die «Kernfamilie», die Eltern und wir fünf Kinder, in der guten Stube assen – mit Porzellan und Silberbesteck. Auch wenn heute die Einrichtung der guten Stube als bürgerliche Spießigkeit abgetan wird, denke ich mit einem Lächeln an sie zurück. Für uns markierte sie wichtige Grenzen zwischen Arbeit, Familie, Öffentlichkeit und Privatheit.
Wenn ich mit modernen Paaren zusammen bin, kommt mir oft die Weisheit von Schmutzschleuse und guter Stube in den Sinn, die den Übergang von außen nach innen kennzeichnen. Klagen über das Fehlen solcher ritualisierter Übergänge klingen ähnlich. Eine Frau: Mein Mann kommt müde nach Hause, vielleicht von einer Reise – und was tut er? Er läuft durch die Wohnung und schimpft über herumliegende Spielsachen oder meine Arbeitspapiere auf dem Esstisch, oder er rennt zum Handy, bevor er uns begrüßt hat. Ein Mann: Ich gönne doch meiner Frau den Erfolg im Beruf. Aber wenn sie heimkommt und atemlos die Kinder nach ihren Hausaufgaben fragt oder den Geschirrspüler auszuräumen beginnt, ist der Abend im Eimer.
Übergänge ritualisieren: eine halbe Stunde aufs Bett liegen, bevor die Frau sich der Familienarbeit zuwendet; ein vereinbarter Rückzug an den Computer, bevor der Mann als Partner und Vater präsent wird. Oder ein gemeinsames Glas auf dem Balkon. Den Seelen erlauben, den Alltag hinter sich zu lassen und anzukommen.

Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf“ veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.

25. Juni 2011
von Tom Levold
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Runder Tisch Heimerziehung

Der Runde Tisch Heimerziehung, der die Aufklärung der Zustände in den deutschen Heimen in den 50er und 60er Jahren zur Aufgabe hatte, hat seine Arbeit im Januar 2011 mit der Übergabe seines Abschlussberichtes an den Deutschen Bundestag beendet. Ab März 2011 nahm die Anlaufstelle„Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“, die auf Vorschlag des Runden Tisches von Bund und Ländern eingerichtet wurde, ihre Arbeit auf. Sie soll bis zur Umsetzung der Lösungsvorschläge des Runden Tisches als Anlaufstelle zur Verfügung stehen. Der Abschlussbericht steht als PDF zum Download zur Verfügung!
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