
Im vergangenen Jahr ist ein umfangreiches, fast 500 Seiten starkes „Handbuch für Beratung, Therapie und Coaching“ im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen, das sich mit der Nutzbarmachung des Narrativen Ansatzes in diesen Handlungsfeldern theoretisch und praxisbezogen auseinandersetzt. Wolfgang Loth, dem systemagazin heute zum 72. Geburtstag gratuliert, hat sich in einer ebenfalls umfangreichen Rezension diesen Band vorgenommen und spricht folgende Empfehlung aus: „Insgesamt kann ich die Lektüre dieses Buches nur wärmstens empfehlen. Die hier versammelten Beiträge vermitteln eindrücklich und glaubwürdig, wie Narrative Praxis wohltuend wirken kann. Insbesondere die Beiträge, die sich Zeit und Raum dafür nahmen, diesem Geschehen konkret nachzuspüren, machen das deutlich. Aber auch die eher theoretisch gehaltenen Beiträge lassen überwiegend diesen Spirit erkennen. Ich wünsche diesem Buch, dass es aufmerksam gelesen wird und dass die Leserinnen und Leser es als ein reichhaltiges Vademecum nutzen können. Und dass sie die Ermutigungen, die dieses Buch mit auf den Weg gibt, in ihrer Wirksamkeit erfahren können. Mein Eindruck ist: Das trägt“.
Wolfgang Loth, Niederzissen:
Das sagt sich so leicht: narrativ. Und der Gebrauch dieses Wortes nimmt seit einigen Jahren deutlich zu, wie das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (dwds) anzeigt.[1] Zu seiner Bedeutung heißt es da: »erzählend, von einem Erzähler nach bestimmten Regeln mündlich oder schriftlich vermittelt; etw. in erzählerischer Weise, in Form einer Geschichte darstellend, präsentierend«. Vermutlich bleibt davon erst einmal das Erzählen hängen, das Darbieten einer Geschichte. Doch dürfte es banal sein, das dann mit irgendeiner Form professioneller Praxis in Verbindung zu bringen. In jeder Praxis wird geredet, ob mit Worten oder schweigend. Das kann es also nicht sein. Daher halte ich in diesem Fall das eingeschobene »nach bestimmten Regeln« für maßgeblich. Erst sie sorgen dafür, dass der Begriff »Narrative Praxis« zu einem unterscheidbaren Handlungszusammenhang wird, zu einer spezifischen Form von Kommunikation. Davon handelt das hier vorgestellte Buch. Gleich wird davon genauer die Rede sein.
Vielleicht ist es noch interessant, der Entstehungsgeschichte des Wortes narrativ nachzuspüren. In der Regel bleibt es beim Verweis auf das lateinische narrare. Das bliebe mit »erzählen« übersetzt womöglich an der Oberfläche eines »aufzählenden« Vorgangs.[2]Spannender wird es nachzuvollziehen, dass narrare »von dem Adjektiv *gnāro- (lateinisch gnarus …) ›wissend‹ abgeleitet ist«,[3] was wieder eine Verbindung zu »ignorieren« andeutet, »abgeleitet von lateinisch: ignorare … = »nicht wissen«, »nicht wollen«; zu: ignarus … = unerfahren, unwissend«, was wiederum das Gegenteil aufscheinen lässt: »gnarus … = kundig; zu: noscere … = erkennen«.[4] Was als Futter für spleenige Sprachfreaks erscheinen könnte, führt, wie ich es sehe, mitten hinein in das Herz dessen, was Narrative Praxis ausmacht. Das Herzstück: Eine Praxis, in der die Beteiligten (alle der Beteiligten, Ratsuchende und Professionelle) erfahren wollen, wie sie sich mithilfe ihrer ihnen zur Verfügung stehenden Geschichten kundig machen über sich, über sich in der Welt, in der Beziehung zu sich und zu den anderen, wie sie sich vergewissern, dass sie sind. Und das ist erst einmal noch unbestimmt. Denn das bisherige »Wissen« dazu, kann sowohl einen optimistischen, sich etwas zutrauenden und handlungsfähigen Blick begründen, als auch das Gegenteil, in dem Niederlagen, Ungerechtigkeiten, Machtlosigkeit und ähnliche Erfahrungen dominieren. Hier könnte dann die Idee der »bestimmten Regeln« weiterhelfen (s. o.), die das Nachspüren, Aufsteigenlassen, Formulieren und Mitteilen von wohltuenderen Wendungen unterstützen. Ein Gespür kann entstehen für neue Mitwirklichkeiten, die mehr bedeuten als das Übernehmen von Zuschreibungen. Mitwirklichkeiten beinhalten das selbst-bewusste Teilhaben am Gestalten von lebensfreundlichen Kontexten.
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