systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

4. Februar 2014
von Tom Levold
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(Un-)Gerechtigkeit im Konflikt

Mit diesem spannenden Thema geht die Zeitschrift„Konfliktdynamik“ in ihren dritten Jahrgang. Für den Themenschwerpunkt sind dieses Mal Elisabeth Kals und Heidi Ittner verantwortlich. In ihrem Editorial leiten sie in das Thema ein: „Viele soziale, d.h. zwischenmenschliche Konflikte lassen sich in ihrer Entstehung und ihrem Verlauf auf unterschiedliches Gerechtigkeitserleben der beteiligten Konfliktparteien zurückführen (…). Denn sobald aus subjektiver Sicht wichtige Normen verletzt werden, löst dies ein Ungerechtigkeitserleben aus – und aus kalten Konflikten werden »heiße« Konflikte. Entsprechend spielt für deren nachhaltige Lösung die Wiederherstellung erlebter Gerechtigkeit eine zentrale Rolle. (…) selbst wenn sich die beiden Konfliktpartner auf dasselbe Gerechtigkeitsprinzip beziehen, kann die Bewertung zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen und ein Konflikt entstehen. So lassen sich etwa beim Leistungsprinzip die Fragen, wer welchen Anteil am Ergebnis geleistet hat und wie die verschiedenen Leistungsanteile zu bewerten sind, recht unterschiedlich beantworten; so könnten etwa kreative, aber rasch erbrachte Leistungen mit hohem Impact anders gewichtet werden als Leistungen, die auf genauen, zeitintensiven Detailarbeiten beruhen (…). Die gewichtige Rolle von Gerechtigkeitserleben ist bei Verteilungskonflikten offenkundig, im wirtschaftlichen Kontext etwa bei der Verteilung von Boni, Ferienzeiten, Zuständigkeiten für Aufgabenbereiche, Anerkennung durch den Chef und Nähe zu ihm u.v.a.m. Doch auch bei vielen weiteren Konflikttypen kann unterschiedliches Gerechtigkeitserleben zur Eskalation beitragen.“ Wer mehr lesen will, findet
die bibliografischen Angaben mit allen abstracts hier… 

3. Februar 2014
von Tom Levold
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For God’s Sake, Margaret

1976 führte Steward Brand, Begründer und Herausgeber des sagenumwobenen Whole Earth Catalogue der US-amerikanischen Subkultur, der auf vielfältige Weise auch mit Personen aus dem Kreis der Kybernetiker vernetzt war, ein langes Gespräch mit Gregory Bateson und dessen Ex-Frau Margaret Mead, in dem sie sich über die Geschichte der ersten Macy-Konferenz unterhalten, über die Begründer der Kybernetik, die Geschichte der Begriffe Feed-Back und Schismogenese u.v.a. Das Gespräch wurde auf Tonband aufgenommen, transkribiert und erschien in der Zeitschrift CoEvolution Quarterly. Heute ist es im Internet zu lesen, leider in einer nicht besonders gut lesbaren Form mit reichlich Schreibfehlern, was dem Vergnügen an der Lektüre aber keinen Abbruch tut, da beide auch viel aus dem Nähkästchen plaudern und Margaret Mead sowohl ihr gutes Gedächtnis als auch eine gewisse rechthaberische Art zur Geltung bringt. Der Text sei daher allen undingt empfohlen, die sich für die Geschichte der Kybernetik interessieren.
Zum vollständigen Text geht es hier…

2. Februar 2014
von Tom Levold
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Gianfranco Cecchin 22.8.1932-2.2.2004

Heute vor 10 Jahren ist Gianfranco Cecchin tödlich verunglückt. Ursprünglich gemeinsam mit Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo und Giuliana Prata im„Gründungsteam“ des„Mailänder Ansatzes“, löste er sich dann in den 80er Jahren von Selvini und arbeitete eng mit Luigi Boscolo therapeutisch und als international gefragte Lehrtherapeuten zusammen. Zur Erinnerung an Gianfranco möchte ich heute auf einen schönen Aufsatz von Imelda McCarthy aus Irland hinweisen, den sie über den Einfluss von Cecchin auf ihre eigene Arbeit aus irischer Perspektive im Jahre 2006 geschrieben hat, und der in der Zeitschrift „Human Systems: The Journal of Systemic Consultation & Management“ erschienen ist (Vol. 17, 257-263). Sie schließt mit den Sätzen: „Apart from these invitations there would be many more meetings over the next twenty years, at conferences, large and small. The favourite meetings were in my own home when he came to stay. Our learning of the Milan Approach and more particularly Gianfranco’s version was in large part through knowing him well, watching him work and lastly reading his works.“

Zum vollständigen Text…

28. Januar 2014
von Tom Levold
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fremd.gehen

Mit diesem schönen Kongress-Thema will die Österreichische Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie und systemische Studien auf ihrem 7. internationalen Kongress auf die Suche nach „Inspirationen für die Psychotherapie“ gehen. Der Kongress findet von 16.-18. Mail im Tagungszentrum Schloss Schönbrunn statt. Referenten sind u.a. Corina Ahlers, Reinhold Bartl,
Ingrid Egger, Thomas Friedrich-Hett, Stefan Geyerhofer, Herbert Gröger, Allan Guggenbühl, Ahmet Kimil, Sabine Kirschenhofer, Sabine Klar, Ruth Kronsteiner, Tom Levold, Eve Lipchik, Astrid Riehl-Emde, Dominik Rosenauer, Martin Rufer, Günter Schiepek, Ulrike Schiesser, Rainer Schwing, Guido Strunk, Cornelia Tsirigotis, Carmen Unterholzer, Kirsten von Sydow, Henry Vorpagel, Hedwig Wagner, Gerhard Walter & Cheryl White.
Informationen über Programm und Organisation gibt es hier…

25. Januar 2014
von Tom Levold
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Forschung zur Systemischen Therapie

Das letzte Heft der Family Process 2013 ist ausschließlich Forschungsfragen gewidmet. U.a. finden sich zwei Metastudien aus einer deutschen Forschungsgruppe mit Kirsten von Sydow, Rüdiger Retzlaff, Stefan Beher, Markus W. Haun & Jochen Schweitzer, die Wirksamkeitsstudien zur Systemischen Therapie bei Störungen im Kindes- und Jugendalter ausgewertet und positive Ergebnisse gefunden haben. Eleftheria Tseliou hat Studien untersucht, die mit den Mitteln der Diskursananalyse und Konversationsanalyse gearbeitet haben und kommt ebenfalls zu einer (vorsichtig) positiven Einschätzung. Ein Artikel von Tom Jewell, Alan Carr, Peter Stratton, Judith Lask & Ivan Eisler befasst sich mit einer Version des bereits etablierten SCORE Index of Family, die für Kinder entwickelt wurde, die weiteren Artikel beschäftigen sich mit Multi-Familien-Gruppen bei Chronischen Erkrankungen, mit den Belastungen von Latino-Familien mit einem erwachsenen Schizophrenen, mit den Belastungen von Angehörigen von Menschen mit einer Altersdepression und deren Zusammenhang mit deren Wahrnehmung der Depressionsursachen sowie mit dem Grad der Einbeziehung von Vätern in die Versorgung kleiner Kinder im Kontext mit posttraumatischen Belastungsstörungen.
Das Inhaltsverzeichnis mit allen abstracts gibt es hier…

24. Januar 2014
von Tom Levold
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Systemisch durch Veränderungsprozesse führen?!

Christian Haaler ist Diplom-Psychologe und – nach längerer Tätigkeit in Wirtschaft – Leiter des Sozialmanagements bei einem Jugendhilfeträger. In der Systemischen Bibliothek erscheint ein Orginalbeitrag von ihm zum Thema „Systemisch durch Veränderungsprozesse führen“. Im „Prolog“ zum Text heißt es: „Diese Reflexion setzt sich mit den Aspekten einer systemisch-orientierten Führungsarbeit in Organisationen auseinander und berührt dabei viele persönlich er- und durchlebte Projekte. Wichtig ist mir, meine Beobachtungen zunächst in ein theoretisches Gebäude zu stellen, weil ich viele Gedanken in wundervollen Büchern mit Geschichten über Systemtheorie, Märkte, Menschen und Manager gefunden habe, die es mir wert sind, nochmal für mich und vielleicht auch für den geneigten Leser zu zitieren und in einen anderen Kontext zu stellen. Ich möchte aber auf der Theorie-Ebene nicht verweilen, wie ein Zuschauer auf der Tribüne eines Fußballstadions, sondern aufs ,Feld gehen‘ und Ideen und Vorschläge entwickeln, wie ,man‘ es systemisch anders machen kann. Die Bewertung über das Gelingen dieses Versuchs überlasse ich dabei anderen.“
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23. Januar 2014
von Tom Levold
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Jochen Schweitzer wird 60!

Heute feiert Jochen Schweitzer seinen 60. Geburtstag, eine Tatsache, die angesichts seiner immer noch jugendlichen Ausstrahlung kaum zu glauben ist. Schon als Zivildienstleistender in die Heidelberger Systemische Szene hineingeraten, hat er die Entwicklung der Systemischen Therapie und Beratung fast von Anfang an miterlebt und vor allem: mitgestaltet! Als Lehrtherapeut und Mitbegründer der IGST und des Helm-Stierlin-Institutes in Heidelberg, in der Systemischen Gesellschaft und als langjähriger Vorsitzender der DGSF und in anderen Funktionen brachte und bringt er seine therapeutische Erfahrung, theoretische und praktische Kompetenz und in besonderer Weise seine Kreativität im Einsatz guter und gelingender Kommunikationsformen in alle seine Handlungsbereiche ein. Als Leiter der Sektion Medizinische Organisationspsychologie an der Uniklinik Heidelberg wirkt er durch seine Forschungsprojekte (am bekanntesten: SYMPA) und vor allem durch die Organisation vieler Tagungen zur systemischen Forschung in Heidelberg weit über die Heidelberger – und deutschen – Grenzen hinaus. Das alles macht er mit scheinbar leichter Hand und einem freundlichem Charme, dem man nur schlecht widerstehen kann. Mit einem Wort: Jochen Schweitzer ist ein Glücksfall für die systemische Szene und systemagazin gratuliert an dieser Stelle (gemeinsam mit einem Chor [was sonst…] von weiteren Gratulanten) von ganzem Herzen, verbunden mit dem Wunsch, dass von Dir, lieber Jochen, auch in Zukunft entscheidende Impulse ausgehen werden – und dass Du dabei möglichst gesund, zufrieden und erfolgreich bleiben mögest. Zum Wohl! (Nachtrag am 29.8.2014: Mittlerweile ist bei Vandenhoeck & Ruprecht ein von Julika Zwack und Elisabeth Nicolai herausgegebener Sammelband mit dem Titel „Systemische Streifzüge“ erschienen, der aus Anlass von Jochen Schweitzers Geburtstag konzipiert worden ist, und in dem 15 Freunde, KollegInnen und Wegbegleiter Systemische Positionen zu einer Vielfalt von Themen beisteuern).

 

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22. Januar 2014
von Tom Levold
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die Pflicht zur standardisierten Diagnostik droht zum Selbstgespräch zu werden

Während in der Systemischen Therapie der Sinn und Unsinn von Diagnosen diskutiert wird, geht es im Mainstream der Psychotherapieforschung schon um die Frage einer standardisierten, d.h. auf dem kontinuierlichen Einsatz von Testverfahren im Rahmen einer Psychotherapie aufbauenden Diagnostik, die womöglich zukünftig für Antrag und Bewilligung einer Psychotherapie Voraussetzung sein könnte. Thorsten Padberg hat in einem interessanten Artikel für das Psychotherapeutenjournal 1/2013 über diese Diskussion berichtet, die er für falsch hält. Im abstract heißt es: „Im Namen der Wissenschaft wird zurzeit die Notwendigkeit standardisierter Diagnostik betont. Der Artikel weist eine einseitige Inanspruchnahme ,der Wissenschaft‘ durch die Befürworterinnen und Befürworter standardisierter Diagnostik zurück. Psychotherapiepraktiker, die dieser Form der Diagnostik skeptisch gegenüberstehen, haben gleichwertige Wissenschaftsansprüche, die nicht notwendig zur Forschung im Widerspruch stehen. Bei Psychotherapeuten festzustellende Abweichungen von standardisiert gestellten Diagnosen rechtfertigen zudem keine Schlüsse auf die Persönlichkeit dieser Psychotherapeuten. Es wird die Frage gestellt, ob standardisierte Diagnostik den Interessen der Klienten dient, und erläutert, welche Rolle Diagnosen im Therapieprozess spielen. Der Zwang zur standardisierten Diagnostik übergeht ethische und praktische Überlegungen sowie kommunikative Prozesse, die der Psychotherapie als Wissenschaft wesentlich sind.“
Den vollständigen Artikel lesen Sie hier (S. 12-18)

19. Januar 2014
von Tom Levold
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Sexualität und Therapie

Die „Familiendynamik“ eröffnet ihren 39. Jahrgang mit einem Themenschwerpunkt „Sexualität und Therapie“, inhaltlich verantwortlich für dieses Heft zeichnen Steffen Fliegel und Arist von Schlippe. Im Editorial schreiben sie: „Ulrich Clement vermittelt im ersten Beitrag den »State of the art« der Sexualtherapie. Das Hamburger Paartherapiekonzept wird von Margret Hauch und Andreas Hill vorgestellt. Wir haben dafür die Form eines Interviews gewählt. Wie sich diese therapeutische Arbeit auf die Dynamik der Paare auswirken kann, beschreiben Renate Bauer und Reinhard Maß. Ein Tabuthema ist Sexualität innerhalb der therapeutischen Beziehung. Hier stellen wir ein ungewöhnliches Experiment vor. Auch das Interview schließt an das Thema an. Es geht um Präferenzstörungen. Das Gespräch mit einem pädophilen Patienten und seiner Psychotherapeutin lässt sicher mehr Fragen offen als es beantwortet.“ Außerdem gibt es noch Beiträge zur Marte-Meo-Methode (C. Hawellek) und zur „Autonomie und Verbundenheit in familiären Triaden von Töchtern mit Essstörungen“ (Boetticher, Strack & Reich) sowie die üblichen Rubriken.
Zum vollständigen Inhaltsverzeichnis mit allen abstracts…

18. Januar 2014
von Tom Levold
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Der Typus des postmodernen Professionellen – ein Porträt Psychologischer Psychotherapeuten?

In der neuesten Ausgabe des Psychotherapeutenjournals findet sich ein bemerkenswerter Aufsatz von Julia Thom und Matthias Ochs, der sich mit der Frage der Profession und Professionalisierung des Therapeutenberufes auseinandersetzt. Julia Thom, Dipl.-Psych., Stipendiatin des Ev. Studienwerkes, studiert Psychotherapie (Master of Science) in Kombination mit der Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin (Schwerpunkt VT) an der Psychologischen Hochschule Berlin. Ihre Forschungsinteressen liegen in der sozialwissenschaftlichen Untersuchung der Psychotherapie sowie Fragen der Epidemiologie und Versorgungsforschung. Matthias Ochs ist in der systemischen Szene vor allem durch die gemeinsame Organisation der Systemischen Forschungstagungen in Heidelberg (mit Jochen Schweitzer), als Herausgeber von www.systemisch-forschen.de und als Mitherausgeber des„Handbuches Systemisch Forschen“ bekannt (ebenfalls mit J. Schweitzer), er lehrt im Fachgebiet „Psychologie und Beratung“ am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda. Ihr differenzierter, umfassend informierter Text leistet in aller Kürze einen ausgezeichneten Überblick über die gegenwärtige soziologische Professionalisierungsdebatte und deren Relevanz für die Frage, inwiefern Psychotherapeuten (und insbesondere Psychologische Psychotherapeuten) als Profession zu betrachten sind (und sich selbst so betrachten) und inwieweit unterschiedlichen Professionalisierungskonzepte zu unterschiedlichen Annahmen hinsichtlich der Vollständigkeit von Professionalisierung oder gar einer Deprofessionalisierung von Professionalisierung führen. Im abstract heißt es: „Wenn Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychothera­peuten an ihrem Arbeitsauftrag oder der Gültigkeit ihres Fachwissens zweifeln, diagnos­tiziert die Soziologie den ,Typus des postmodernen Professionellen‘. Dieser bekommt die Folgeprobleme des Modernisierungsprozesses Professionalisierung innerhalb seines Berufsstandes zu spüren und beginnt sie zu reflektieren. So lässt die Professionssoziolo­gie ein alarmierendes Bild der Psychotherapie zeichnen: Ihr gelingt die Professionalisie­rung nur unvollständig, ihre gesellschaftliche Funktion und Legitimität muss sich infrage stellen lassen, Wissenschaft und die eigene Klientel bedrängen das professionelle Selbstverständnis und das tägliche Handeln wird paradox. Die Entwicklung des psycho­therapeutischen Berufsstandes bietet Lesarten, in denen sich diese Hypothesen sowohl bestätigt als auch widerlegt sehen – was in seiner Widersprüchlichkeit so zeitgenössisch wie fachlich notwendig und typisch für die Psychotherapeutenschaft sein mag.“ Der Text ist auch im Netz erschienen, allerdings nicht solo, da das aktuelle Heft als Ganzes im Netz ist,
man findet den Beitrag auf den Seiten 381-387…

17. Januar 2014
von Tom Levold
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Memorandum „Reflexive Neurowissenschaft“

2004 erregte ein optimistisches Manifest von Hirnforschern, u.a. auch Gerhard Roth und Wolf Singer, ein gewisses Aufsehen, in dem diese die wesentlichen Rätsel der Funktionsweise des Gehirns als grundsätzlich lösbar erklärten, die Klärung der Einzelheiten sehr vor allem eine Frage der Zeit und der eingesetzten Ressourcen: „In absehbarer Zeit, also in den nächsten 20 bis 30 Jahren, wird die Hirnforschung den Zusammenhang zwischen neuroelektrischen und neurochemischen Prozessen einerseits und perzeptiven, kognitiven, psychischen und motorischen Leistungen andererseits soweit erklären können, dass Voraussagen über diese Zusammenhänge in beiden Richtungen mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad möglich sind. Dies bedeutet, dass man widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen wird, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen.“ Nun ist auf der website von „Psychologie Heute“ ein „Memorandum ,Reflexive Neurowissenschaft’“ erschienen, das von 15 Professoren unterzeichet wurde, darunter Felix Tretter (Redaktion), Thomas Fuchs, Felix Hasler, Georg Northoff, Stephan Schleim und Wolfgang Tschacher. Hier zeigt sich, dass sich der Optimismus inzwischen weitgehend gelegt bzw. relativiert hat. Einleitend heißt es im Memorandum: „Vor 10 Jahren, im Jahr 2004 wurde der Öffentlichkeit ein Manifest von Neurowissenschaftlern präsentiert, das eine äußerst optimistische Zukunftsperspektive der Hirnforschung erkennen ließ. Unter anderem sollten neue Neurotechnologien die Enträtselung des Gehirns und damit des Geistigen ermöglichen, und für die klinische Praxis sollten bald effektivere und nebenwirkungsärmere Psychopharmaka entwickelt werden. Schließlich sollte ein neues, wissenschaftlich fundiertes Menschenbild entstehen.
Die heutige Bilanz fällt aus unserer Sicht allerdings eher enttäuschend aus. Eine Annäherung an gesetzte Ziele ist nicht in Sicht. Die Ursachen dafür gehen weit über organisatorisch-technische Schwierigkeiten hinaus und liegen einerseits an Schwächen im Bereich der Theorie der Neurowissenschaft, andererseits an zu wenig durchdachten naturalistischen Vorannahmen und Konzepten, die wünschenswerte Brückenschläge zur Psychologie, Philosophie und Kulturwissenschaft nachhaltig erschweren.
Bereits die oftmals unzulängliche Unterscheidung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen hat auf vielen Feldern zur Überschätzung eigener Erklärungsansprüche geführt: Selbstverständlich ist ohne Gehirn alles nichts, aber das Gehirn ist nicht alles, denn es benötigt den Körper, und der Körper benötigt die Umwelt. Aussagen wie „Psychische Prozesse beruhen auf Gehirnprozessen“ führen uns nicht weiter, denn psychische Prozesse benötigen auch die Atmung, den Blutkreislauf usw.
Auch die Verkürzung der Psychologie auf alltagsweltliche Begriffe und Konzepte und auf einfache Experimente ist problematisch. So bleibt oft unbeachtet, ob die experimentelle Operationalisierung einer Funktion den psychologischen Inhalt dieser Funktion zutreffend widerspiegelt. Außerdem zeigt die Forschung, dass eine psychische Funktion (z.B. Sehen) an mehreren Gehirnorten realisiert ist und dass andererseits ein Gehirnort an mehreren Funktionen beteiligt ist. Damit werden mehrere Schwierigkeiten einer eindeutigen Zuordnung psychischer Funktionen zu Hirnstrukturen erkennbar. Dies beruht auf dem Netzwerkcharakter des Gehirns. Dieser Aspekt muss ausdrücklicher als zuvor durch die Einbindung der Systemwissenschaft berücksichtigt werden. Sie kann als mathematisch fundierte Disziplin helfen, die Funktionsweise des Gehirns als System zu verstehen. Das Gehirn ist ja aus Milliarden von zellulären Schaltkreisen aufgebaut, die eine hochkomplexe Signalaktivität aufweisen.
Um Gehirnfunktionen angemessen verstehen zu können, ist daher eine enge und institutionalisierte Zusammenarbeit von Biologie, Psychologie und Systemwissenschaft erforderlich, und zwar unter essenzieller Beteiligung der Philosophie mit ihren Facetten der Anthropologie, Philosophie des Geistes und Wissenschaftstheorie. Eine bloße Ergänzung der (neuro)biologischen Beschreibung durch einige psychologische und geisteswissenschaftliche Randaspekte ginge am Ziel vorbei. Nur wenn die klinische Praxis, also Psychiater und Neurologen, in die Forschung eingebunden wäre, könnte die nötige Transdisziplinarität  zustande kommen, die eine neue, diskursive und reflexive (nachdenkliche) Neurowissenschaft entstehen lässt, die auch ihre eigenen Grundlagen hinterfragen und ihre Grenzen erkennen kann.
Letztlich ist die Reduktion des Menschen und all seiner intellektuellen und kulturellen Leistungen auf sein Gehirn als „neues Menschenbild“ völlig unzureichend. In diesem einseitigen Raster ist der Mensch als Subjekt und Person in seiner Vielschichtigkeit nicht mehr zu fassen. Es ist immer die ganze Person, die etwas wahrnimmt, überlegt, entscheidet, sich erinnert usw., und nicht ein Neuron oder ein Cluster von Molekülen.“
Der Text ist frei im Netz zugänglich,
und zwar hier…

15. Januar 2014
von Tom Levold
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Nicht ob, sondern wie – Überlegungen aus Anlass einer professionellen Beziehungsstörung

Angesichts der aktuellen Bemühungen um eine positive Überprüfung der Systemischen Therapie durch den G-BA ist in der systemischen Mailingliste (nichtöffentlich, aber für systemische Fachleute zugänglich) eine aktuelle Diskussion über für und wider bzw. über die mutmaßlichen  dieses Schrittes in Gang gekommen. Ausgangspunkt war die Einladung der systemischen Gesellschaften an ihre Mitglieder (Forscher wie Praktiker), den Antrag an den G-BA mit eigenen Stellungnahmen zu Wirksamkeit und Nutzen der Systemischen Therapie zu begleiten. Die Diskussion verläuft kontrovers hinsichtlich der Einschätzungen, was ein Eintritt der Systemischen Therapie in das bestehende psychotherapeutische Versorgungssystem bedeutet für die Identität der Systemischen Therapie, die zukünftige Perspektive eines transdisziplinären und multiprofessionellen systemischen Ansatzes in der Therapie (bei einer zukünftigen monodisziplinären und monoprofessionellen Systemischen Psychologischen Psychotherapie) und für den Zusammenhalt der Systemischen Bewegung. Ganz unabhängig davon, ob die Leser des systemagazin diese Debatte verfolgen oder nicht, sei hier auf einen Text von Wolfgang Loth aus dem Jahre 2008 verwiesen, der noch vor dem Hintergrund der beantragten (und kurz danach vollzogenen) Anerkennung als wissenschaftlich fundiertes Verfahren durch den Wissenschaftlichen Beirat geschrieben wurde und der sich u.a. kritisch mit der (auch im systemischen Feld beliebter werdenden) Störungsorientierung auseinandersetzt. Im Hinblick auf die Prüfung der Systemischen Therapie aus der Perspektive der Mainstream-Psychotherapie stellen sich Loth zufolge folgende Aufgaben: „Angenommen es machte Sinn, die Prämissen und Praxiserfahrungen Systemischer Therapie in Bezug auf ihre Anschlussfähigkeit an diese ,Bedingungen des Gesundheitssystems‘ zu überprüfen und eventuelle Anpassung zu leisten, dann müsste Systemische Therapie m. E. a) ihre erkenntnistheoretischen Prämissen im Hinblick auf den Begriff ,Störung mit Krankheitswert‘ klären, b) ihre erkenntnistheoretischen Prämissen hinsichtlich der Linealität / Nichtlinealität von Sinnprozessen überprüfen (bzw. die Annahme zirkulärer Prozesse), c) auch ihre Position im Hinblick auf die Bedeutung Allgemeiner / bzw. Gemeinsamer Faktoren überprüfen, d) und schließlich sich mit dem Dilemma auseinandersetzen, dass der Nachweis, ob Systemische Therapie sich unter den Bedingungen des gegenwärtigen Gesundheitssystems als machbar erweisen kann, nur dann möglich ist, wenn Rahmenbedingungen erlaubt und finanziert werden, dies in vivo zu überprüfen. Das Einräumen fairer Bedingungen für diese Möglichkeit geschieht jedoch nur dann (wenn überhaupt), wenn sich Systemische Therapie vorher bereits den Bedingungen der Etablierten angepasst hat. D.h.: die Plausibilität systemischer Grundpositionen kann nicht als Ergebnis erwiesen werden, weil sie im Vorfeld preisgegeben werden mussten, um einen anerkannten Nachweis führen zu dürfen.“

Zum vollständigen Text