Für einen interessanten Sammelband hat Martin Vogel, Diplom-Psychologe, Organisationsberater und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interdisziplinäre Arbeitswissenschaften der Universität Hannover eine Vielzahl von eher praxisbezogenen als grundlagentheoretischer Arbeiten zur systemischen Organisationsanalyse zusammengetragen. Dabei verfolgt er nicht den üblichen Ansatz der Organisationstheorie, nämlich das Organisationsgeschehen als zweckrationalen Prozess der Zielerreichung zu verstehen, aus dem sich die Frage der Ordnung einer Organisation von alleine ergibt, sondern versucht, „mit einem eher deskriptiven Ansatz […] Beispiele außer-ordentlicher Perspektiven auf das Verhältnis von Ordnung und Unordnung“ zusammenzutragen. Und: „Während die gewohnte Perspektive in Organisationen Ordnung und Sicherheit präferiert und sich dabei von den Umständen gestört fühlt, geht eine systemtheoretische Perspektive davon aus, dass soziale Ordnung, Stabilität und Sicherheit nur um den Preis der Unordnung, Instabilität und Unsicherheit zu haben und allein schon deshalb in Reinform unwahrscheinlich sind. Vielmehr sind Ordnung und Unordnung zwei Seiten einer Unterscheidung, die ohne einander nichts bedeuten. Und letztlich braucht es in Organisationen auch beides: Ordnung und Stabilität, um in der Gegenwart zu bestehen; Offenheit und Instabilität, um auch in zukünftigen Gegenwarten noch handlungsfähig zu sein.“ Rainer Zech aus Hannover hat das Buch rezensiert:
Rainer Zech, Hannover:
Angelockt durch den ungewöhnlichen Titel stieß ich auf das genannte Buch, das versprach, unter Bezugnahme auf Luhmanns Theorie sozialer Systeme Organisationsfragen nicht unter der Prämisse eines zweckrationalen Ordnungsaufbaus, sondern mit der Unterscheidung Ordnung und Unordnung zu untersuchen. Nun hat die sozialwissenschaftliche Theoriebildung hier schon einige Konzeptionen angeboten : Organisation wird zum Beispiel verstanden als organisierte Anarchie (March), Mythos und Zeremonie (Meyer, Rowan) oder nichttriviale Maschine (von Foerster), auf jeden Fall als nicht kalkulierbares, unberechenbares System (Luhmann) mit evolutionärem Drift (Maturana, Varela). Spannend an diesem Buch erschienen aber die gewählten Themen, die üblicherweise nicht im Mittelpunkt der Organisationsforschung stehen, wie Ärger, Humor, Katastrophen, mangelnde Wertschätzung und selbstzerstörende Prophezeiungen.
Es stellte sich bei genauerer Betrachtung heraus, dass es sich bei dem Sammelband um Beiträge aus Lehrveranstaltungen des Weiterbildungsstudiengangs Arbeitswissenschaften der Leibniz Universität Hannover handelt. Zielgruppe des Buches sind theoretisch interessierte Praktiker, und für diese ist das Buch – das möchte ich vorwegnehmen – auch gut geeignet. Der Herausgeber schränkt in seinem einleitenden Beitrag zwar selbst ein, dass »systemtheoretisch Versierte an der einen oder anderen Stelle vermutlich mangelnde theoretische Genauigkeit, Praktiker dagegen […] in anderen Bereichen unmittelbare Übertragbarkeit vermissen« werden (S. 12). Aber auch wissenschaftlich orientierte Organisationstheoretiker finden darin den einen oder anderen inspirierenden Gedanken.
Der Beitrag von Hänsel verweist noch einmal auf die Grundlagen der systemischen Beratung, die er neben der Systemtheorie Luhmannscher Provenienz in der kognitionstheoretischen Neurowissenschaft, der Kybernetik, dem Konstruktivismus und der Synergetik sichtet. Dieser Beitrag geht in der Tat über weithin Bekanntes nicht hinaus. Er ist allerdings für die genannte Zielgruppe durchaus nützlich. Spannender wird es dann, wenn die oben genannten Einzelthemen behandelt werden.
Hier finden sich nun in diesem Buch eine Fülle von interessanten Themen, die sich vor dem Hintergrund einer Paradoxie entfalten, denn Ordnung wird nur möglich, wenn es gelingt stabile Erwartungen herauszubilden – stabile Erwartungen sind aber nur möglich, wenn bereits auf eine erkennbare Ordnung referiert werden kann. Darauf geht der Herausgeber Martin Vogel in einem seiner Beiträge ein. In anderen Beiträgen (z. T. mit Co-Autoren) beschäftigt er sich mit dem Phänomen Humor in Organisationen, dem Management des Ungefähren und der Organisationskultur.
Ein anderer Beitrag unternimmt am Beispiel der Emotionen den Versuch, individualpsychologische und organisationstheoretische Perspektiven miteinander zu verbinden. Hieran schließt sich passend der Beitrag an, in dem es um Ärger in organisationsstrukturellen Kontexten geht. Der Mangel an Wertschätzung gehört zu den Konstanten im Berufsleben der Individuen – egal um welchen Organisationstyp es sich handelt.
Über die genannten Themen erwartet die Leserinnen und Leser noch vieles mehr, zum Beispiel zur Personalauswahl, zum organisationalen Wandel und zur Innovation, zur Organisationsberatung, aber auch dazu, dass Zukunftserwartungen als sich selbst erfüllende Prophezeiungen durchaus auch zerstörerische Wirkungen haben können.
Also: Ein lesenswertes Buch, nicht deshalb, weil man Vertiefungen in der system- theoretischen Fundierung der Organisationsforschung erwarten kann, aber weil man mit im positiven Sinne »abseitigen«, also eben außerordentlichen, Einzelphänomenen konfrontiert wird, die im Diskurs der Organisationstheorie oft viel zu kurz kommen.
(Mit freundlicher Genehmigung aus Kontext 3/2104)
Das Inhaltsverzeichnis, Vorwort und Einleitung als Leseprobe
Martin Vogel (Hrsg.) (2013): Organisation außer Ordnung. Außerordentliche Beobachtungen organisationaler Praxis. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)
Verlagsinformation
Organisationen wirken von außen oft alles andere als strukturiert. Wer meint, dort herrsche das komplette Chaos, irrt jedoch. Es scheint vielmehr eine höchst eigenartige Mischung aus Ordnung und Unordnung zu sein – in Organisationen geht das Geplante mit dem Ungeplanten einher, das Geregelte mit dem Ungeregelten. Wie gehen Organisationsmitglieder damit um und wie kann die Organisation als Ganze trotz dieses paradoxen Zustands zukunftsfähig bleiben? Die Themen des Bandes reichen von Humor, Innovation, Ordnungsprinzipien und Personalauswahl in Organisationen bis zur systemischen Organisationsberatung.
Inhalt
Axel Haunschild: Vorwort 7
Martin Vogel: Zur Einführung – so viel Ordnung muss sein … 9
Sven Kette: Die Unordnung des Anfangs 19
Markus Hänsel: Der Ordnung halber! Grundlagen der systemischen Beratung 21
Martin Vogel: Wie ist (ordentliche) Organisation möglich? Von Personen und Erwartungen 39
Andreas Bergknapp: Ärger in Organisationen: Individuelle Konstruktion oder organisationales Phänomen? 56
Mirko Zwack, Audris Muraitis & Jochen Schweitzer: Der Kontext der (Nicht-)Wertschätzung. Zu einer praktischen Theorie der Wertschätzung in Organisationen 77
Martin Vogel und Jens Kersting: Humor in Organisationen – Kommunikation, quer zur Ordnung 94
Barbara Ahrens, Tom Mosblech & Martin Vogel: Passung ins System – Möglichkeiten einer systemischen Personalauswahl 110
Martin Vogel: Management des Ungefähren: Zur außer-ordentlichen Position von Stellvertretern in Organisationen 127
Harald Tuckermann: Paradoxien im Wandel – Wandel als Paradoxie: Beispiel Krankenhaus 146
Jens O. Meissner & Silke Seemann Unternehmenserneuerung zwischen Innovationssystemen und Systeminnovationen 159
Gereon Uerz & Martin Vogel: Zukunft in Organisationen – Ordnung aus der Außer-Ordentlichkeit. Zur Funktion von Zukunft bei Entscheidungsprozessen in Organisationen 178
Thomas Hoebel: Prophezeiungen, die Organisationen zerstören: Northern Rock und DaimlerChrysler im Vergleich 197
Volker Bauer & Martin Vogel: »Nur gucken – nicht anfassen!« Zum Management von Organisationskulturen 223
Frank E. P. Dievernich & Patricia Wolf: Beratung außer-ordentlich 246
Über den Herausgeber:
Martin Vogel, Diplom-Psychologe, verfügt über langjährige Erfahrung als freiberuflicher Organisationsberater und ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft der Universität Hannover.