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Norbert Wiener, die Kybernetik und die Zirkularität

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Beim Stöbern bin ich auf einen Blog mit dem Titel „wildes weben“ gestoßen, den Astrid Habiba Kreszmeier „als Aktivistin für Sympoietisches“ seit einiger Zeit auf der Website des Carl-Auer-Verlags gestaltet. Dort kreisen ihre Beiträge auf poetische und assoziative Weise mit den Zusammenhängen von Natur, Therapie, Tiefenmythologie und der Schönheit des Lebendigen. Die Thematik der Zirkularität und Rückbezüglichkeit „als lebensbildende Grundlage“ durchzieht dabei alle Beiträge dieses Blogs auf die eine oder andere Weise, so auch der aktuelle Post mit dem Titel „Immer wieder Rückbezüge“ vom 26.11.2021, dessen Zwischenüberschrift „Unheimliche cybernetics“ meine Aufmerksamkeit erregte und mich zu einer kritischen Stellungnahme an dieser Stelle bringt, da die Kommentarfunktion der Carl-Auer-Blogs seit einiger Zeit abgeschaltet ist.

Dem assoziativen Selbstverständnis folgend, mäandriert der Text vom Herbst im Appenzellerland über SVP-Kampagnen gegen die Corona-Politik, die Kybernetik Norbert Wieners, Helm Stierlins Boygroup, männlich perspektivische Geschichtsnarration und die Ethik Heinz von Foersters zurück zur Corona-Politik der Schweiz, ohne dass die Verkettung dieser Assoziationen tatsächlich nachvollziehbar würde. Soweit, so gut – und für einen poetischen Text natürlich völlig angemessen.

Die Bemerkungen zur Kybernetik und zu Norbert Wiener haben mich aber stutzen lassen. Schon in einem früheren Blogbeitrag von April 2021 ist bei ihr zu lesen: „Kybernetik ist und bleibt ein missverständlicher Name, wenn es ums Lebendige geht“, wenngleich dort auch betont wird, dass „zirkuläres Denken schlicht und ergreifend systemisches Denken“ sei.

Ihre Kritik an der Kybernetik leitet sie mit einem Hinweis darauf ein, „dass auch andere, aktuelle Publikationen von Carl-Auer die Rückbezüglichkeit als lebensbildende Grundlage neu thematisieren; dass sie Ethik und Verantwortung gegenüber der Welt vermehrt ansprechen“ und zur „Erinnerung nahezu vergessener Kontexte“ einladen. Dies ist aber kein generelles Plädoyer für die Einbeziehung von Kontexten, vielmehr „gibt es ja auch für mich einige Kontexte, die ich lieber vergessen möchte, weil sie mir unheimlich sind. Zum Beispiel das Wort Kybernetik, übertragen aus dem Englischen: Cybernetics“, und zwar „als interessierte Kollegin, die um Zirkuläres bemüht ist“. 

Nun empfinde ich mich auch als interessierten Kollegen, der um Zirkuläres bemüht ist, und stimme zu, dass zirkuläres Denken ein zentrales Element systemischen Denkens ist. Inwiefern aber die Kybernetik gerade in diesem Punkt unsystemisch sein sollte, hat sich mir aus ihrem Beitrag nicht erschließen können. Womöglich ist ihre Argumentation aber auch darauf zurückzuführen, dass sie sich gar nicht ausreichend mit diesem Kontext befasst hat, den sie ja lieber „vergessen“ möchte. Immerhin nennt sie ja sein 1948 erschienenes Buch „Cybernetics or control and communication in the animal and the machine“, dessen empfehlenswerte Lektüre doch den Vorwurf des „Unsystemischen“ entkräften könnte. Ob sie es wirklich gelesen hat, sei einmal dahingestellt.

So behauptet Kreszmeier, Norbert Wiener habe „aus dem griechischen Eigenschaftswort kybernetikos, was so viel wie «steuermännisch» bedeutet, ein Hauptwort kreiert. Der Steuermann also, und Kybernese, die Leitung, die Herrschaft. Das mögen andere anders empfinden, aber mir widerstreben diese Bedeutungsfelder für das, worum es geht. Nicht nur aus feministischer Warte, sondern weil ich es für bedeutsam halte, mit welchen Wörtern wir Lebensprozesse beschreiben. Die Reduktion systemischer Rückbezüglichkeiten und Wechselseitigkeiten unter «Steuermannsche Herrschaft» ist nun doch etwas einseitig, also auch unsystemisch“. 

Leitung und Herrschaft als „die Bedeutungsfelder für das, worum es geht“, wären in der Tat (und nicht nur aus „feministischer Warte“) falsch am Platz – nur: Um Leitung und Herrschaft geht es bei Norbert Wieners Konzept der Kybernetik überhaupt nicht. 

In seinem 1947 verfassten Vorwort zum Buch, das übrigens im Internet frei zum Nachlesen heruntergeladen werden kann, schreibt Wiener, dass er mit seinem langjährigen Forschungspartner, dem mexikanischen Physiologen Arthur Rosenblueth entschieden habe, „das gesamte Feld der Kontroll- und Kommunikationstheorie“ cybernetics zu nennen, eine Ableitung vom „griechischen Kybernetes oder Steuermann“ (S. 11). Er hat also nicht – wie behauptet – aus einem Eigenschaftswort ein Hauptwort kreiert, sondern ein griechisches Substantiv als Stamm für seine Wortneuschöpfung benutzt. Doch das nur eine Kleinigkeit am Rande. Schwerwiegender schon die irreführende Brücke zum Begriff der Kybernese, den Wiener nicht benutzt hat, der auch nichts mit der Kybernetik Wieners zu tun hat, sondern als (veralteter) theologischer Begriff die Führung einer kirchlichen Gemeinde meint. 

Auf dieser Basis zu unterstellen, unter Kybernetik sei die „Reduktion systemischer Rückbezüglichkeiten und Wechselseitigkeiten unter «Steuermannsche Herrschaft»“ gemeint, ist schon ziemlich gewagt, weil der Begriff der Steuerung eben nicht – auch nicht im weitesten Sinne des Wortes – als Herrschaftstechnik konzipiert wird und darüber hinaus Wiener dezidiert herrschaftskritisch eingestellt war.

Nun rudert Kreszmeier insofern zurück, als sie Wiener „keine einseitige Absicht“ unterstellen mag, nur Zweifel anmeldet, ob das Wort Kybernetik „dem Prinzip des Zirkulären gerecht wird“ und die Antwort gleich mitgibt: „Nein, möchte ich sagen, selbst wenn es auf zweite Ordnung hochgerechnet wird.  Da lobe ich mir Autopoiese! Und erst recht Sympoiese“ (was immer mit  dieser Äußerung gemeint sein mag).

Wiener wird mit dem genannten Buch als „eine prägende Stimme in den Selbststeuerungstechniken mit all ihren Folgen: von Cyberspace, Kriegsdrohnen bis hin zu Künstlicher Intelligenz“ beschrieben, und in der Tat ist der Erfolg der Kybernetik in den 1940er bis 1960er Jahren den großen Budgets zu verdanken, die aus dem amerikanischen Militärhaushalt im zweiten Weltkrieg und in der Zeit des darauf folgenden kalten Krieges in diesen Forschungszweig geflossen sind (und durch die auch die Arbeiten von Heinz von Foerster finanziert wurde). Dass die Arbeiten von Wiener und Kollegen bei der Entwicklung von ihr Ziel selbstkorrigierend verfolgenden Flugabwehrgeschossen eine zentrale Rolle spielten (die Forscher auf der Seite des NS-Regimes waren übrigens mit ähnlichen Entwicklungen beschäftigt), hatte vor allem damit zu tun, dass z.B. Wiener und Rosenblueth sich bereits intensiv mit den selbstrückbezüglichen Feedbackprozessen im Gehirn und den feinmotorischen organismischen Steuerungsvorgängen beschäftigt hatten. So besteht zwischen der zielkorrigierenden Steuerung eines Geschosses und der Aufnahme eines Bleistiftes durch die Hand eines Menschen in Hinblick auf ihre mathematische Modellierbarkeit kein fundamentaler Unterschied, da die eigene Bewegung in Richtung des Zielobjektes so lange rückbezüglich (output = input) in einer zirkulären Schleife korrigiert wird, bis das Ziel erreicht wird. Auf diese Art von Steuerungsprozessen, die in lebenden Systemen überall anzufinden sind und die im Kern das Leben ausmachen, kam es den Kybernetikern ursprünglich an. Ihre transdisziplinäre Perspektive ermöglichte es ihnen, das Grundmuster dieser zirkulären Prozesse auf alle möglichen Erfahrungsbereiche zu übertragen und von den jeweiligen materialen Voraussetzungen der Gegenstände der Beobachtung abstrahieren zu können.

Insofern ging es bei den von Kreszmeier erwähnten Macy-Konferenzen nicht einfach nur um Treffen, „in denen es in einem interdisziplinären Team um Gehirnforschung ging und ums Lernen“, sondern genau darum, in einem transdisziplinären Kontext „Feedback Mechanisms and Circular Causal Systems in Biological and Social Systems“ zu erörtern. Und, by the way, Paul Watzlawick war kein Mitglied der Macy-Konferenzen, wie sie in ihrer Aufzählung von Namen nahelegt, weil er erst 1960 zur Gruppe um Gregory Bateson in Palo Alto stieß, die letzte Macy-Konferenz aber schon 1953 stattfand. 

Die Grundlegung des Konzeptes der Zirkularität, das für Kreszmeier doch so wichtig ist, wird in Wieners Band von 1948 gelegt, das sich zentral mit Feedback und zirkulären Wechselwirkungen (circular causation) befasst. Was kann dann aber mit „Reduktion systemischer Rückbezüglichkeiten und Wechselseitigkeiten unter «Steuermannsche Herrschaft»“ gemeint sein? Wenn die Herrschaft im Sinne einer theologischen „Kybernese“ ausscheidet, bleibt vielleicht noch die Metapher des Governors, auf die sich Wiener bezieht. Zwar teilt dieser aus dem Griechischen latinisierte Begriff seinen Wortstamm auch mit dem Begriff des Gouverneurs, der ja einen Platz in gesellschaftlichen Herrschaftsformen einnimmt. Das ist aber bei Wiener nicht gemeint, da es bei seinem Konzept der Steuerung und Regelung gar nicht um Herrschaft geht. Vielmehr geht es bei dieser Begriffswahl um die Referenz an den schottischen Physiker James Clerk Maxwell, der erstmals eine mathematische Modellierung von Regelungsprozessen in Maschinen vornahm.

Der Begriff Governor hat in diesem Zusammenhang überhaupt nichts mit Herrschaft zu tun, sondern steht für nichts anderes als für einen Regler, etwa ein Fliehkraftregler in einer Dampfmaschine: „In choosing this term, we wish to recognize that the first significant paper on feedback mechanisms is an article on governors [!], which was published by Clerk Maxwell in 1868, and that governor is derived from a Latin corruption of kybernetes. We also wish to  refer to the fact that the steering engines of a ship are indeed one of the earliest and best-developed forms of feedback mechanisms“ (Wiener 1948, S. 11f.).

Soweit zum Begriff der Zirkularität, seinen Ursprüngen und Vorläufern und einem Kontext, den wir vielleicht besser nicht vergessen sollten. Allerdings beschleicht mich bei der Aufzählung von Ereignissen und Namen unter dem Zwischentitel „Ethische Kreise“ auch noch ein Verdacht, dass es vielleicht noch um etwas Anderes als um die Frage der Zirkularität geht. Von den berühmten Teilnehmern der Macy-Konferenzen kommen wir nämlich umstandslos zu „Helm Stierlin und seiner Boygroup und zu Carl-Auer. Hier sind wir nun inmitten der Hauptnarration systemischer, männlich perspektivischer Geschichte: Dicht verwoben in eine vom zweiten Weltkrieg und seinen Folgen angetriebene Erkenntnisreise. Es schadet nicht, sich das deutlich zu machen, auch wenn alles schon lange her ist“. Unter der dichten Verwobenheit der (durch Stierlins Boygroup und Carl-Auer betriebenen?) Hauptnarration systemischer, männlich perspektivischer Geschichte in eine vom Weltkrieg angetriebene Erkenntnisreise kann ich mir angesichts der hier eher ziemlich dünn ausgelegten Webfäden noch nicht wirklich viel vorstellen, aber vielleicht werden wir dazu ja zukünftig von der Autorin noch mehr hören können. 

Offensichtlich soll das jedoch etwas mit ethischen Fragestellungen zu tun haben. Dazu heißt es: „Kybern-Ethik hat dann ja auch Heinz von Foerster sehr beschäftigt. Das verdient mindestens einen eigenen Post und vieles lässt sich bestimmt im neu aufgelegten Buch von Bröcker/Foerster, Teil der Welt, nachlesen“. Bestimmt! Sicher auch, dass die Verantwortung für die Beobachtungen und die Sprache, in der die Beobachtungen verfasst werden, ebenso beim Beobachter liegt wie die Verantwortungen für seine Entscheidungen und seine Handlungen.

Ähnlich hat auch Norbert Wiener gedacht, der seine eigene Aktivität als Beobachter noch nicht als Teil des zu beobachtenden Systems beobachtet hat. Die Kybernetik 2. Ordnung entwickelte sich erst nach seinem Tod. Dennoch hat er ein flammendes Plädoyer gegen Herrschaft und Ausbeutung und für einen verantwortungsvollen Umgang mit den Möglichkeiten verfasst, die die – grundsätzlich neutralen – zirkulären Steuerungstechniken der Menschheit zum Guten wie zum Bösen in die Hand geben, sei es in der Wirtschaft oder der Kriegsführung. Das war übrigens schon 1947 und nicht erst „bereits Anfang der sechziger Jahre“. Die Weigerung, „seine Kompetenz in Wettrüsten und weitere Automatisation von Kriegsmaschinen einzubringen“, hat er schon unmittelbar nach dem Kriegsende vollzogen – übrigens ganz im Gegensatz zu John von Neumann, ebenfalls Mitglied der Macy-Konferenzen, der als Hardcore-Antikommunist und Regierungsberater in den USA in den 1950er Jahren sehr für den atomaren Erstschlag gegen die  Sowjetunion geworben. In der Zeit bis zu seinem Tode 1964 hat Wiener die Verantwortung der Wissenschaften für die ethisch akzeptable Verwendung ihrer Erkenntnisse immer wieder betont.

Am Schluss seiner Einleitung in den genannten Band schreibt er – und diese Sätze sprechen am Schluss auch dieses Beitrags für sich:

„I have said that this new development has unbounded possibilities for good and for evil. For one thing, it makes the metaphorical dominance of the machines, as imagined by Samuel Butler, a most immediate and non-metaphorical problem. It gives the human race a new and most effective collection of mechanical slaves to perform its labor. Such mechanical labor has most of the economic properties of slave labor, although, unlike slave labor, it does not involve the direct demoralizing effects of human cruelty.
However, any labor that accepts the conditions of competition with slave labor accepts the conditions of slave labor, and is essentially slave labor. The key word of this statement is competition. It may very well be a good thing for humanity to have the machine remove from it the need of menial and disagreeable tasks, or it may not. I do not know. It cannot be good for these new potentialities to be assessed in the terms of the market, of the money they save; and it is precisely the terms of the open market, the „fifth freedom, that have become the shibboleth of the sector of American opinion represented by the National Association of Manufacturers and the Saturday Evening Post. I say American opinion, for as an American, I know it best, but the hucksters recognize no national boundary. (…) 
Those of us who have contributed to the new science of cybernetics thus stand in a moral position which is, to say the least, not very comfortable. We have contributed to the initiation of a new science which, as I have said, embraces technical developments with great possibilities for good and for evil. We can only hand it over into the world that exists about us, and this is the world of Belsen and Hiroshima. We do not even have the choice of suppressing these new technical developments. They belong to the age, and the most any of us can do by suppression is to put the development of the subject into the hands of the most irresponsible and most venal of our engineers. The best we can do is to see that a large public understands the trend and the bearing of the present work, and to confine our personal efforts to those fields, such as physiology and psychology, most remote from war and exploitation. As we have seen, there are those who hope that the good of a better understanding of man and society which is offered by this new field of work may anticipate and outweigh the incidental contribution we are making to the concentration of power (which is always concentrated, by its very conditions of existence, in the hands of the most unscrupulous).
I write in 1947, and I am compelled to say that it is a very light hope“ (S. 27ff.)

7 Kommentare

  1. Tom Levold sagt:

    Lieber Rolf Todesco, Sie haben natürlich Recht, dass Kybernetik durchaus im Kontext von und als Instrument in Herrschaftsverhältnissen gesehen werden kann. In diesem Kontext habe ich ja auch schon John von Neumann erwähnt. Die Faszination einer technokratischen Kontrolle von Gesellschaften hatte in den 60er Jahren einen Höhepunkt erreicht (z.B. die Arbeiten von K. Steinbuch), vor allem auch in den Ländern des Ostblocks als sozialistische Steuerungsphantasie. Stafford Beer hatte in Chile ähnliche Pläne einer zentralen Steuerung der Wirtschaft zur Zeit der Allende-Regierung, die dann durch den Putsch Pinochets zunichte gemacht wurden. Kybernetik und Systemtheorie sind beide ethisch steril, d.h. sie sind nicht in der Lage, Wertsetzung in Hinblick auf ihre eigene Verwendung vorzunehmen. Allenfalls kann man damit die Art und Weise des ethischen Diskurses untersuchen. Vor diesem Hintergrund ist ja auch die ethische Position Heinz von Foersters zu verstehen, der die Schwäche dieser Kybernetik 1. Ordnung im Blick hatte.
    In meinem Text ging es mir aber nicht darum, Kybernetik in Gegensatz zu Herrschaft zu setzen, sondern Wiener gegen den Vorwurf zu verteidigen, er habe kein Verständnis von Zirkularität gehabt und mit der Steuermann-Metapher der Herrschaft das Wort geredet.
    Unabhängig davon ist aber natürlich die Frage interessant, wie weit ein transdisziplinärer Ansatz von der Frage der Materialität der beobachteten Systeme abstrahieren kann und darf und was durch diese Art der Betrachtung an essentiellen Aspekten verloren geht (s. Bertalanffy).

    • Rolf Todesco sagt:

      Lieber Tom Levold, ich glaube, Sie schon in diesem Sinne verstanden zu haben, mir war nur Ihre Zuspitzung, die Sie jetzt fein relativieren, etwas zu hart.
      Hier der Link, den ich vergessen habe:
      https://www.soziopolis.de/theorie-der-gesellschaft-oder-regierungstechnologie.html

      Und davon ganz unabhängig scheint mir gerade die Politisierung des Begriffes Kybernetik und die vermeintliche Anwendungen im Systemischen für den Tod der Kybernetik verantwortlich zu sein. Aus Ihrem Beitrag habe ich (hmm .. ziemlich spekulativ) entnommen, dass Frau Kreszmeier vor allem an diese gescheiterte Kybernetik dachte, als sie die Kybernetik insgesamt – die Heidegger noch an die Stelle der Philosophie setzen wollte – verworfen hat.

      • Lina Nagel sagt:

        Lieber Rolf Todesco, was meinen Sie mit der vermeintlichen Anwendung im Systemischen und mit dem Tod der Kybernetik? Das was ich unter Kybernetik verstehe lebt insbesondere im Systemischen weiter (wird nur leider häufig nicht so kenntlich gemacht) und hat zwar (m.E. leider) nicht viel Verbreitung gefunden, aber könnte es jederzeit, sodass von Tod keine Rede sein kann – deshalb bin ich neugierig, was Sie genau damit meinen und ob wir überhaupt dasselbe meinen, wenn wir von Kybernetik sprechen.

        • Rolf Todesco sagt:

          Liebe Lina Nagel, ich habe Ihren Beitrag erst jetzt gesehen, sorry. Als Kybernetik bezeichne ich die Disziplin, die N. Wiener zugeschrieben wird und durch das Buch von R. Ashby bekannt wurde. Es ist Systemtheorie, die auf mit Regelkreisen beruht. In der Technik ist Kybernetik sozusagen Alltag, aber unter ganz anderen Namen (etwa Automatik). Als Theorie ist Kybernetik – soweit ich sehe – verschwunden. Ich kenne keine neueren Texte, die sich darauf beziehen. In der Sozialphilosophie berufen sich viele Autoren auf System“theorie(n)“, die mit Kybernetik nichts zu tun haben (etwa auf Luhmann oder Bertalanffy). Und das „Systemische“, das ich meinte, sind therapeutische Ansätze bis hin zu Aufstellungen, die auf Theorie ganz verzichten, aber durch Konstruktivismen von H. von Foerster dann und wann den Ausdruck Kybernetik verwenden.

          Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will nichts kritisieren von dem, was SystemikerInnen machen. Und mir liegt fern, das Wort Kybernetik für etwas Bestimmtes zu reservieren. Ich habe nur auf den Artikel von Ton Levold reagiert, weil darin von Kybernetik die Rede war.

  2. Rolf Todesco sagt:

    Es gibt dazu ja noch etwas Kontext, der auch genannt werden kann: L. von Bertalanffy war ein erbitterter Gegner der Kybernetik, weil sie im Gegensatz zu seiner System-Lehre sehr mechanistisch sei und das Lebendige verpasse.

    Kontrolle im Sinne von Steuerung ist in bestimmten Fällen Herrschaft – genau dann, wenn nicht Mechanismen gemeint sind.
    PS Ich habe den Beitrag von Kreszmeier nicht gelesen, er wird hier ja nicht sehr beliebet gemacht, ich reagiere nur auf diese Anmerkungen, die ich als Rückseite der Medaille lese.

    Kybernetik ist ohnehin schon lange tot.

    • Rolf Todesco sagt:

      Und noch etwas Wasser auf die Mühle:
      Kybernetik – Theorie der Gesellschaft oder Regierungstechnologie?

      Vincent August:
      Technologisches Regieren. Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Foucault, Luhmann und die Kybernetik

      Da wird Kybernetik sehr mit Herrschaft verbunden. Das scheint ein gängiges Topos zu sein (auch wenn meisten unklar beleibt, was mit Kybernetik bezeichnet wird)

  3. Sei bedankt für diesen wichtigen Beitrag, Tom! Wichtig zum einen, weil er ein Leitmotiv systemischen Denkens aus den Anfängen heraus untersucht und den Kontext beleuchtet, innerhalb dessen der für dieses Denken so zentrale Begriff mit Sinn gefüllt wurde. So etwas wünsche ich mir viel häufiger zum Gebrauch vermeintlich selbstverständlicher Begriffe aus dem Repertoire des Systemischen. Und zum anderen, weil anklingt, dass eine systemtheoretische „Draufsicht“ ohne eine systemisch orientierte „Rücksicht“ noch nicht den berühmten Unterschied macht, der einen Unterschied macht. Oder, um aus Wolfram Lutterers kurzer „Geschichte des systemischen Denkens“ zu zitieren: „Selbst dann, wenn wir alle mit einem Male ‚systemisch‘ denken würden, wäre die Welt nicht mit Notwendigkeit sogleich ein besserer Ort“ (S.72). Der fortschreitende Erkenntnisgewinn alleine garantiert nicht die Richtungswahl an der Wegscheidung „for good or for evil“. Und der Fokus auf den beziehungs-korrumpierenden „Wettbewerb“, den Wiener da anspricht, ist m.E. immer noch nicht anschlussfähig genug ausgeleuchtet. Kurzum: Norbert Wiener hat sich nicht nur um die Entwicklung systemtheoretischer Perspektiven verdient gemacht, sondern auch als jemand, der über den Tellerrand seiner fachspezifischen Erkenntnisse hinaus zu denken in der Lage war – und somit der „Rücksicht“ den Platz freigehalten hat. Also, nochmals Danke!, dass Du daran erinnert hast und mit Deinem Kommentar den Zugang dazu ermöglicht.

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