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Norbert Wetzel (16.9.1936 – 27.4.2025)

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Norbert Wetzel

Schon am 27. April dieses Jahres ist Norbert Wetzel im Alter von 88 Jahren in Princeton verstorben. In der deutschsprachigen familientherapeutischen Szene ist er vor allem als Mitverfasser des Buches „Das erste Familiengespräch“ bekannt geworden, das Helm Stierlin und der Heidelberger Gruppe in den Anfangsjahren der familientherapeutischen Bewegung eine große Öffentlichkeit verschafft hatte. Mit ihm geht einer der letzten familientherapeutischen Pioniere seiner Generation. In den letzten 47 Jahren lebte und arbeitete er in den USA und trat in Deutschland nur noch gelegentlich als Autor in Erscheinung. Für seinen gemeinwesenorienter familientherapeutischer Ansatz und seinem konsequenten Eintreten für die sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen wird er im Gedächtnis bleiben.

Norbert Wetzel wurde am 16. September 1936 in Berlin als Sohn von Dr. Anton und Maria Wetzel geboren. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er evakuiert und lebte im hessischen Fehlheim (Bensheim) auf dem Bauernhof seines Onkels. Nach Kriegsende zogen seine Eltern nach Stuttgart, wo Norbert das Gymnasium besuchte.

Nach einem Theologiestudium übernahm er 1962 in Frankfurt am Main die Leitung der Telefonseelsorge und war Mitbegründer der Beratungsstelle „Offene Tür” im Frankfurter Zentrum. 1971 wurde er in Theologie an der Universität Innsbruck mit der Arbeit „Das Gespräch als Lebenshilfe“, einer Studie über Krisenintervention und Suizidprävention, promoviert. Ende der 1960er Jahre wurde er in der Bewegung der „radikalen Priester“ in Westdeutschland aktiv, die eine progressive Neuausrichtung der katholischen Kirche forderte. Seine wachsende Leidenschaft für psychologische Beratung und seine Enttäuschung über die Kirche veranlassten ihn schließlich, das Priesteramt niederzulegen und eine Ausbildung in Familientherapie an der Menninger Foundation in Topeka zu beginnen, die er bei renommierten amerikanischen Pionieren wie Salvador Minuchin, Jay Haley, Kitty LaPerriere, Don Bloch und Charles Fishman in den USA absolvierte.

1975 nahm er am postgradualen klinischen Ausbildungsprogramm des Ackerman Institute for the Family in New York teil, wo er seine Lebens- und Arbeitspartnerin, Hinda Winawer aus Brooklyn, kennenlernte, die er 1979 heiratete.

Von 1976 bis 1978 war er Assistent von Helm Stierlin in der Abteilung für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Universität Heidelberg. Bei Klett-Cotta erschien das genannte Buch „Das erste Familiengespräch“, das Helm Stierlin gemeinsam mit Ingeborg Rücker-Emden, Norbert Wetzel und Michael Wirsching verfasste.

Helm Stierlin, Michael Wirsching, Barbara Brink, Norbert Wetzel und Ingeborg Rücker-Embden (v.l.n.r.)

1978 siedelte er nach Princeton (USA) über, wo er als Psychologe und Paar- und Familientherapeut in New Jersey lizenziert war. Von 1980 – 1991 lehrte er als Professor für Paar- und Familientherapie an der Fakultät für Angewandte und Professionelle Psychologie der Rutgers Universität und gründete 1983 das bis heute bestehende Institut für Paar- und Familientherapie in Princeton. Daneben übernahm er ausgedehnte Lehrtätigkeiten in den USA und Europa.

Gemeinsam mit seiner Frau gründete er 1994 das Center for Family, Community, and Social Justice, das Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialwesen ausbildete, um Kinder, Jugendliche und Erwachsene innerhalb ihrer Familien und Gemeinschaften in neun Schulbezirken in New Jersey zu unterstützen, und dessen klinische Leitung er bis 2014 innehatte. Im Rahmen dieser Arbeit entwickelte Norbert das „Kaleidoskop der kontextuellen Blickwinkel“ als praktisches Werkzeug für sein Modell einer kontextzentrierten Familientherapie, die er als Alternative zu positivistisch-linearen, biologisch orientierten Therapiemodellen verstand.

Seine theoretische und klinische Arbeit war von einem intensiven Einsatz für soziale Gerechtigkeit gekennzeichnet, besonders hinsichtlich der ethnischen und sozialen Benachteiligung der Familien, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Berücksichtigung der mehrgenerationalen Erfahrungen in Familien. Wichtig war für ihn dabei immer, die epistemologische Basis für das beziehungs- und kontextorientierte Paradigma der systemischen Familientherapie des Zentrums zu erforschen und zu stärken. Er war Gründungsmitglied der American Family Therapy Association (AFTA), von der er im Jahr 2010 den Preis für »Hervorragende Beiträge zu Sozialer Gerechtigkeit« der »Amerikanischen Akademie für Familientherapie« (AFTA) verliehen bekam.

Einen Einblick in seine gemeinwesenorientierte Arbeit und sein Kaleidoskop der kontextuellen Blickwinkel ist in einem Beitrag für die Zeitschrift Kontext 2016 erschienen, den Sie hier lesen können.

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