Heute feiert der Psychologe und Systemtheoretiker Norbert Bischof (Foto: www.bischof.com) seinen 85. Geburtstag. Dabei kann er, am 6. März 1930 in Breslau geboren, auf ein erfülltes wissenschaftliches Forscherleben zurückschauen, das freilich noch keineswegs abgeschlossen ist: Seit 1997 hat er eine Honorarprofessur an der LMU in München und ist immer noch mit Vorträgen, Videos und Präsentationen im Internet präsent. Wie Stephan Wolff 2004 in seiner Laudatio auf eine Ehrenpromotion für Norbert Bischof feststellt, arbeitet Bischof „seit Jahrzehnten konsequent und erfolgreich (wenngleich keineswegs stets mit der ihm gebührenden Anerkennung) an der Errichtung einer systemtheoretischen Psychologie auf biologisch-evolutionstheoretischer Grundlage. Motivation ist für ihn das Basisthema der Psychologie. Auf der Behandlung dieses Themas baut er eine veritable ,Allgemeine Psychologie’ auf. Er zeigt die Einbettung menschlichen Handelns in die verschiedenen Motivkomplexe und betont dabei insbesondere die Rolle des ,Autonomiestrebens’ und des ,Strebens nach Vertrautheit’ als wichtigen – wenn man so will – kognitiven Motiven. (…) Der zweite Arbeitsbereich, der mit diesem ,inhaltlichen’ eng zusammenhängt, ist die Anwendung der Systemtheorie auf die Psychologie. Bischof vertrat schon früh die Auffassung, dass die Verwendung systemtheoretischer Konzepte die Möglichkeit eröffnet, die in der Psychologie immer wieder als Gegensätze auftretenden ,ganzheitlichen’ und ,analytischen Ansätze’ zu vereinen; und so aus dem ganzheitlichen Ansatz das mystisch-rätselhafte, das ,Gestaltgeraune’ herauszunehmen und den analytischen Ansatz um ganzheitliche Aspekte anzureichern.“
Ich habe Norbert Bischof das erste Mal 1981 in Zürich auf dem wichtigen Internationalen Kongress für Familientherapie erlebt, als er eine Vorstufe seines Zürcher Modells der sozialen Motivation vorstellte. Als jemand, der sich damals sehr intensiv mit Bowlbys Bindungstheorie auseinandersetzte, hat mich seine Kritik und Weiterentwicklung der Bindungstheorie auf kybernetischer Grundlage sofort fasziniert. In seinem Klassiker Das Rätsel Ödipus. Über den Urkonflikt von Intimität und Autonomie hat er sein Motivationsmodell dann 1985 veröffentlicht, wobei seine didaktische Fähigkeit, komplexe Stoffe eingängig zu vermitteln, ohne sie unzulässig zu vereinfachen, in herausragender Weise zum Ausdruck kam. Leider ist das Buch nicht mehr im Buchhandel erhältlich, aber man kann und sollte es als PDF auf der website von Norbert Bischof herunterladen. Eine schöne Zusammenfassung des Motivationsmodells findet sich auch hier.
In den Folgejahren hatten wir immer wieder einmal persönliche Begegnungen in Köln oder Zürich, wo er 22 Jahre lang den Lehrstuhl für allgemeine Psychologie experimentell-mathematischer Richtung innehatte. Hier ersann er nicht nur phantastische Experimente zur empirischen Untermauerung seiner Motivationstheorie (auch gemeinsam mit seiner Frau Doris Bischof-Köhler, mit der er ein langes Forscherleben teilt), ich erinnere mich auch an einen Besuch im Keller seines Institutes, wo er eine Tierstation von Weißbüschelaffen zur Erforschung ihres Sozial- und Bindungsverhaltens unterhielt. Es war für mich eine besondere Ehre, von ihm zu einem Gästekolloquium eingeladen zu werden, über das er in seinen autobiografischen Notizen schreibt: „In den ersten Stock [des Institutsneubaus] kam ein Kolloquiumsraum, kreisförmig möbliert nach Holstschem Vorbild. Die vertraute Intensität der Diskussionen war freilich bei der – sagen wir, zurückhaltenden – deutschschweizerischen Mentalität nicht zu erreichen. Dennoch war das wöchentliche Gästekolloquium ein weit über das Institut hinaus bekanntes Ereignis, die Liste der Redner stattlich, mit Namen wie Gregory Bateson, Jane Goodall, K.H. Pribram, Urie Bronfenbrenner, Hermann Haken, Hans Eysenk, Richard Dawkins, Paul Feyerabend, Bartel van der Waerden, C. Fr. von Weizsäcker und natürlich auch Delbrück und Premack. Im obersten Stockwerk hatten wir ein Gästeappartement eingerichtet, das uns erlaubte, die Redner kostensparend unterzubringen und zugleich in das Hausklima einzubeziehen. Dort warteten auf die Vortragenden dann Buntstifte und ein Zeichenblock, auf dem wir von ihnen eine Illustration zu ihrem Thema erbaten. So wurde der Kolloqiumsraum zur Galerie; wir hatten zum Schluß mehr Bilder, als die Wände faßten.“
Seine autobiografischen Notizen eröffnet er mit dem Satz: „Falls es ein Gen für Konformismus gibt, dann bin ich diesbezüglich eine Verlustmutante“. Kritik auch bissig und polemisch zu formulieren war für ihn weniger ein Problem als wahrscheinlich für die Kritisierten, was ihm in der akademischen Psychologie eine Außenseiterposition verschaffte. Im systemtherapeutischen Feld ist Norbert Bischof leider viel zu wenig rezipiert worden, was auch daran liegen mag, dass er mit den konstruktivistischen Theorien nicht nur nicht warm wurde, vieles davon hielt er für Unsinn. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass seine Arbeiten einer Kybernetik 1. Ordnung zugerechnet wurden, die man fälschlicherweise mit der Kybernetik 2. Ordnung zum alten Eisen rechnen zu können glaubte. Wenn man aber sehen möchte, wie man kybernetische Theorie, Forschung und Praxis in den naturwissenschaftlichen wie geisteswissenschaftlichen Fächern betreiben kann, kommt man um die Arbeiten von Norbert Bischof auch als Konstruktivist nicht herum. Mit seinem Lehrbuch Struktur und Bedeutung. Systemtheorie für Psychologen, an dem er über 30 Jahre gearbeitet hat, hat er 1998 ein anspruchsvolles Fundament dieser kybernetischen Perspektive vorgelegt, das freilich als Bettlektüre nicht geeignet ist, da es schon eine Auseinandersetzung mit mathematischen Grundlagen erfordert. Als Ziel dieses Buches formulierte er: „Gesucht wird eine Mathematik, die nicht, wie die Statistik, nur der Datenaufbereitung dient, sondern als echtes Medium der Theoriebildung taugt. Unter allen diesbezüglichen Bemühungen kann bislang nur die Systemtheorie eine wirkliche Erfolgsbilanz aufweisen.“ Im gleichen Jahr erschien auch Das Kraftfeld der Mythen, als zweiter Teil einer mit dem «Rätsel Ödipus» grundgelegten psychologischen Anthropologie gedacht. In der Verlagsinformation heißt es: „Sein auf interdisziplinären Recherchen und aktueller eigener Forschung fußender Ansatz schlägt Brücken zwischen scheinbar weit auseinander liegenden Themen. Es liest sich, je nach Blickwinkel, als Beitrag zur strukturalistischen Mythenforschung, zur Philosophie der Weltanschauungen und zur Psychologie der emotionalen und sozialen Entwicklung. Auseinandersetzungen geht es nicht aus dem Wege: Es stellt psychoanalytische Dogmatik ebenso in Frage wie esoterischen Scheintiefsinn, es zeigt Auswege aus fundamentalistischen Denkzwängen und diagnostiziert die Pathologie des politischen Extremismus. Insgesamt spricht es alle an, die den Menschen auch und gerade in den Abgründen seiner Irrationalität verstehen möchten und sich dabei nicht mit unverbindlichen Antworten zufrieden geben.“
Sein Lehrbuch Psychologie. Ein Grundkurs für Anspruchsvolle erschien 2008 und war für mich das erste und einzige Psychologielehrbuch, das ich von vorne bis hinten durchgelesen habe – und zwar mit großer Spannung, weil es keine Aneinanderreihung von Theoriedarstellungen ist, sondern ein faszinierender Trip in die Gegenstandsbereiche der Psychologie, der einem auf jeder Seite neue Anregungen gibt. Sein letztes großes Werk, wie alle seine Bücher großartig komponiert und wunderbar illustriert, „handelt von einem erbarmungslosen Mordinstrument, dem mehr Menschen zum Opfer gefallen sind als den schlimmsten Naturkatastrophen. Es handelt von einem Schatz, dessen Glanz Festredner beschwören, ohne die Schlangen und Skorpione zu bemerken, die sich unter ihm sammeln. Es handelt von Gut und Böse, die sich als Antipoden gebärden und doch nur zwei Seiten derselben Sache sind. Es handelt von der Moral“ und beschreibt diese als paradoxes Phänomen, „das bei gut gemeinter, aber maßloser Auslegung die Brände schürt, die es löschen soll.“
Norbert Bischof ist für mich ein großer Lehrmeister, herausragender Schriftsteller und ein unkonventioneller Denker, der Theorie, Forschung und Praxis auf einmalige Art und Weise verbindet und durchdringt – und damit eine andere Art des Denkens lehrt als man gewöhnlich vermittelt bekommt. Für meine unterschiedlichen Begegnungen mit ihm bin ich sehr dankbar.
Lieber Norbert Bischof, zum Geburtstag wünsche ich Ihnen alles Gute, Gesundheit Schaffenskraft, Neugier auf Neues und Freude am Erreichten!
Lieber Tom,
danke für diesen wertvollen Hinweis, gewissermaßen eine Horizonterweiterung, da mir Bischof nicht bekannt war. Ich bin immer wieder erstaunt über Deinen Fundus an systemischem Wissen. Und in diesem Fall besonders erfreut, denn es zeigt: es gibt ein systemisches Leben jenseits des konstruktivistischen Mainstreams.