In einer aktuellen Arbeit für das„Psychotherapeuten- Journal“ 1/2009 stellen Rüdiger Retzlaff, Kirsten von Sydow, Wilhelm Rotthaus, Stefan Beher und Jochen Schweitzer mit„aktuellen Fakten, Entscheidungen und Aussichten“ die„Systemische Therapie als evidenzbasiertes Verfahren“ vor. Nach der Anerkennung der wissenschaftlichen Fundierung der Systemischen Therapie durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie geht es jetzt um die Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss G-BA, von dessem Votum die Aufnahme der Systemischen Therapie in die Richtlinienverfahren abhängt. Dementsprechend wird das Loblied der Evidenzbasierung auch hier weiter gesungen, weiß man ja, dass der G-BA auf allen anderen Ohren ohnehin taub ist. Leider wird damit aber auch ein Modell der RCT-orientierten Evidenzbasierung als state of the art der Psychotherapieforschung akzeptiert und für die Systemische Therapie übernommen, deren konstruktivistische Basis im Verlaufe dieser Operation aber nicht mehr recht erkennbar scheint. Die einzige Stelle in der vorliegenden Arbeit, die auf die kritischen Punkte überhaupt eingeht, bleibt konsequenterweise ziemlich im ungefähren:„Nach Veröffentlichung der Expertise zur Wirksamkeit der Systemischen Therapie (v. Sydow et al., 2007b) wurde vor der Gefahr der Übernahme eines einseitigen medizinisch-pharmakologischen Wissenschaftsverständnisses gewarnt, das den Besonderheiten des systemischen Modells nicht gerecht wird. In der Systemischen Therapie ist die Behandlung klinischer Störungsbilder im Sinne der ICD-10 in einen breiten Verstehenskontext eingebettet; Symptome werden als Ausdruck aneinander ankoppelnder biologischer, innerpsychischer und sozialer Interaktionen verstanden, und durch eine kooperative Entwicklung gesundheitsfördernder Kommunikationsmuster auflösbar gemacht (Was immer das heißen mag, TL). Insofern entsprechen sie den Anforderungen der Psychotherapie-Richtlinien, dass die Theoriesysteme von Therapieverfahren ‚gegenwärtigen, lebensgeschichtlichen und gesellschaftlichen Faktoren in ihrer Bedeutung für das Krankheitsgeschehen gerecht werden‘ müssen“ Operation gelungen, Patient tot?
Medikalisierung von Lebenskontexten? Systemische Therapie als evidenzbasiertes Verfahren
29. April 2009 | 2 Kommentare
Die Kritik von Tom Levold und Peter Kraimer kann ich teilen, aber die quantitative und die qualitative Forschung müssen sich ergänzen und nicht bekämpfen. Manchmal müssen Menschen auch stationäre Hilfen in psychischen Krisen bekommen, d.h. warum soll ich als systemischer Kassentherapeut nicht auch Einweisungen vornehmen dürfen? Das Problem sehe ich eher in der stockenden Psychiatriereform – viele befürworten z.B. Soteria – wer aber engagiert sich konkret für die flächendeckende Umsetzung dieses Konzeptes auf politischer Ebene?
Tja, und so geht die Systemische Therapie den gleichen Weg, den einst die VT ging – und wer in den 70er/80er-Jahren eine gesellschaftlich interessierte breit angelegte VT lernte, weiß, was heute daraus geworden ist: eine medikalisierte Behandlung genau der Art von diagnostizierten Störungen nach dem medizinischen Krankheitsmodell, die einst vehementest abgelehnt wurde. Wolfang Loth hat das ja schön vor kurzem auf den Punkt gebracht. Und bald werden dann die Systemiker auch in den Chor der jüngsten Petition einstimmen, dass GBA-anerkannte Therapeuten doch auch Medikamente verschreiben, Einweisungen in die Psychiatrie vornehmen und Krankschreibungen ausstellen können sollten.
peter.kaimer