Erst vor ein paar Tagen erhielt ich die traurige Nachricht vom Tod Mary Gergens, die bereits am 22.9. ihrem Krebsleiden erlegen ist. Noch im Frühjahr 2019 haben wir uns in Wien auf der ÖAS-Jubiläumstagung gesehen, auf der auch dieses Foto entstanden ist. Kennen gelernt hatten wir uns schon früher, auf der Jahrestagung der SG in Marburg 2010, die Klaus Deissler ausgerichtet hatte. Wir verbrachten einen schönen Abend auf der Tagungsparty, ohne dass ich zunächst wusste, mit wem ich es zu tun hatte. Wir unterhielten uns über alle möglichen Dinge unseres Lebens in Deutschland und den USA und kamen sehr schnell über Privates miteinander ins Gespräch, als wären wir schon viel länger miteinander bekannt. Im vergangenen Jahr trafen wir uns dann in Wien wieder, wo sie einen kraftvollen Vortrag hielt und mit ihrer unglaublichen Ausstrahlung den ganzen Saal für sich einnahm. Sie, ihr Mann Ken und ich waren während des Kongresses im Haus von Corina Ahlers untergebracht, wo wir eine schöne Zeit auch abseits der Tagung mit vielen Gesprächen und gutem Essen und Trinken verbrachten. Ihre Vitalität und Zugewandtheit haben mich ebenso wie ihre Bestimmtheit und Energie, die auch in diesem Foto erkennbar ist, sehr beeindruckt. Ich bin froh, sie auf diese Weise kennenlernen zu dürfen. Thomas Friedrich-Hett und Klaus Deissler, die lange mit ihr als einer wichtigen Vertreterin des Sozialen Konstruktionismus verbunden waren, haben für systemagazin einen Nachruf verfasst.
Thomas Friedrich-Hett, Essen & Klaus Deissler, Marburg: Nachruf auf Mary Gergen
Mary Gergen verstarb am 22. September friedlich in ihrem zu Hause in Wallingford, nachdem sie zum vierten Mal mit Krebs ringen musste. Mary hinterlässt ihren Mann Ken, 5 Kinder und 4 Enkelkinder.
Mary Gergen erwarb zunächst einen M.S. in Pädagogischer Psychologie mit Schwerpunkt in Beratung an der Universität von Minnesota und arbeitete bis zu ihrer Emeritierung in 2006 als Professorin für Psychologie und feministische Studien der Penn State University, in Brandywine, Media, PA/USA. Sie wurde insbesondere durch ihre Studien zum Feminismus (s. das Buch „Feminist Reconstructions in Psychologie“) und zusammen mit ihrem zweiten Ehemann Kenneth G. Gergen, zum sozialen Konstruktionismus bekannt. Mary engagierte sich aber auch für ein erweitertes Verständnis traditioneller Forschung und veröffentlichte zusammen mit Gudmund Iversen das Buch: „Statistics, A Conceptual Approach.“
Für ihre Lehre an Universitäten gewann sie mehrere Auszeichnungen.
Seit 1970 war Mary Mitglied der American Psychological Association, innerhalb deren sie die Society for the Psychology of Women mitbegründete.
An Sozialem Konstruktionismus Interessierten ist Mary Gergen auch als engagiertes Mitglied und Mitbegründerin des Taos Instituts (Chagrin Falls, Ohio, USA) bekannt, in dem sie 27 Jahre dem Vorstand als Schatzmeisterin angehörte. Im TAOS Institut, einer non-profit Organisation zur Förderung der praktischen Potentiale des Sozialen Konstruktionismus, engagierte sich Mary für ein PhD-Programm und eine weitreichende internationale Vernetzung.
Seit 2001 gab Mary zudem zusammen mit ihrem Mann Ken den Positive Aging Newsletter als online-Zeitschrift heraus. In bisher 113 Ausgaben, die aktuell in 8 Sprachen übersetzt werden, werden die positiven Potentiale des höheren Lebensalters betont und negative Mythen über Ältere vielfältig dekonstruiert.
Ich (T.F.-H.) habe Mary Gergen erstmals 2004 in einem Seminar des Marburger Instituts viisa, in dem ich als Lehrtherapeut tätig bin, persönlich kennen gelernt. Eigentlich hatten wir Ken Gergen zum Thema sozialer Konstruktionismus eingeladen. Aber er kündigte an, zusammen mit seiner Frau Mary zu kommen, um uns auch ein neues Herzensthema der beiden vorstellen zu können: Positive Aging (Positives Altern)!
Ich arbeitete damals als Psychologe in der Gerontopsychiatrie und war zugleich skeptisch und neugierig. In wenigen Stunden legten uns die beiden leidenschaftlich die soziale Konstruktion unserer weit verbreiteten defizit-orientierten Altersbilder dar und schilderten die breite Vielfalt dieser bis heute eher negativ bewerteten unbeliebten Lebensphase.
Die Begeisterung von Mary und Ken hat mich angesteckt und verführte mich zu einer bis heute anhaltenden Beteiligung an der deutschen Übersetzung des Positive Aging Newsletters, zu intensiver Literaturrecherche, zwei eigenen Fachbüchern, zahlreichen Aufsätzen, Vorträgen, Seminaren, zu einem bereichernden Netzwerk engagierter Praktiker und Praktikerinnen und zu einer großen Freude am Älterwerden. Und auch zu einem seit 2004 anhaltenden und sehr bereichernden Kontakt mit Mary und Ken.
Mary hat sich in ihrer Arbeit und wohl auch in ihrem Leben in besonderer Weise für die Wahrnehmung, Bewusstmachung und Transformation sozial konstruierter Stereotypen engagiert und damit in vielen gesellschaftlichen Bereichen Räume erweitert. Wir werden ihre warmherzige, achtsame, inspirierende und freundliche Präsenz vermissen!
Eine kleine Randbemerkung:
Die meisten feministischen Ansätze realisieren sich durch dialogische Praxisformen – insofern kann man feministische Forschung als einen impliziten Beitrag zur dialogischen Forschung verstehen –
Zumindest hat Mary Gergen in ihrer feministischen Orientierung aus unserer Sicht eine implizit dialogische Haltung gelebt, als Kollegin praktiziert und nicht nur uns zu weiteren Diskursen eingeladen und angeregt.
Wichtige Veröffentlichungen:
Gergen, Mary (1988). Feminist Thougth and the Structure of Knowledge. NYU Press.
Gergen, Mary & Davis, Sarah N. (Ed.)(1997). Toward a new psychology of gender. Routledge.
Gergen, Mary (2001). Feminist Reconstructions in Psychology: Narrative, Gender and Performance. Thousand Oaks: Sage.
Kenneth J. Gergen & Mary M. Gergen (2004). Social Construction: Entering the Dialouge. Taos Institute Publications.
Kenneth J. Gergen & Mary M. Gergen (2009). Einführung in den sozialen Konstruktionismus. Heidelberg: Carl-Auer.
Gergen, Mary & Gergen, Kenneth J. (2017). Paths to Positive Aging: Dog Days with a Bone and Other Essays. Taos Institute Publications.
Ein Video von Mary:
Vielen Dank für die Information, lieber Herr Levold. Der soziale Konstruktivismus spielt in meinen Lehrveranstaltungen und Forschung immer eine bedeutende Rolle. Viele Grüße aus Meerbusch, Jan V. Wirth