Andreas Reckwitz hat seit diesem Jahr eine Professur für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Universität Konstanz. Auf seiner Website stellt er zahlreiche seiner Texte frei zur Verfügung. Ein empfehlenswerter Aufsatz befasst sich mit den Differenzen einer kulturtheoretisch fundierten Sozialtheorie und der Luhmannschen Theorie sozialer Systeme, die sich in Bezug auf eine heutige Lektüre gewissermaßen wechselseitig kontextualisieren:„Die Spezifika von Luhmanns Theorieprogramm werden deutlich, setzt man es genauer in Beziehung zu jenem disparaten Feld der Kulturtheorien, die einen Großteil der zeitgenössischen Theorielandschaft ausmachen. Umgekehrt zeichnen sich die Konturen des kulturtheoretischen Programmes schärfer ab, betrachtet man es vor der Hintergrundfolie der Luhmannschen Theorieoptionen“
Spannend ist vor allem, wie Reckwitz das normative Motiv der Trennung des Sozialen von allen anderen phänomenologischen Sphären bei Luhmann herausarbeitet, während die kulturtheoretisch orientierten Sozialtheorien sich gerade die Grenzüberschreitung zwischen diesen Sphären zum Programm gemacht haben:
„Während Luhmanns Theorie des Sozialen auf einer grundbegrifflichen Separierung von sozialen, psychischen, organischen und mechanischen Systemen, damit auf einer Situierung des Sozialen außerhalb der Körper, des Bewußtseins und der Artefakte basiert, ist für das ‚praxeologische‘ Denken der Kulturtheorien eine Situierung des Sozialen und der Kultur in den Bewußtseinen, Körpern und Artefakten, mithin eine Grenzüberschreitung zwischen dem Kulturell-Symbolischen und den scheinbar asozialen Sphären des Körpers, der Psyche und der Materialität zentral. Wo in Luhmanns Gesellschaftstheorie die Moderne ihre Einheit im Prinzip funktionaler Differenzierung, in den eindeutigen Grenzen zwischen Subsystemen findet, arbeiten die Kulturtheoretiker den konflikthaften, uneinheitlichen Charakter der Moderne angesichts verschiedener kultureller, historischer, klassenspezifischer und geographischer Logiken heraus: Auch hier torpedieren sie die Logik der Grenzerhaltung durch den Verweis auf eine Logik von Grenzüberschreitungen. Es wird sich herausstellen, daß die unterschiedlichen Theorieentscheidungen bei Niklas Luhmann und den Kulturtheoretikern von verschiedenen normativen Grundüberzeugungen motiviert sind, auch wenn die Autoren selbst ihre normativen Motive selten explizit offenlegen“
Der Aufsatz ist 2004 im von Günter Burkart herausgegebenen Sammelband„Niklas Luhmann und die Kulturtheorie“ bei Suhrkamp erschienen und hier online als PDF zu lesen.
Luhmann und die Kulturtheorie
10. August 2006 | Keine Kommentare