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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Luhmann für dich und mich

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Heute vor 20 Jahren ist Niklas Luhmann (8.12.1927 – 6.11.1998) gestorben. Auch wenn sein primäres Interesse einer Systemtheorie der Gesellschaft galt, ist seine Ausstrahlung und Bedeutung im Feld der systemischen Beratung und Therapie ungebrochen. In der Zeitschrift systhema haben Haja Molter und Karin Nöcker 2012 versucht, Aspekte der Theorie der sozialen Systeme nach Niklas Luhmann, insbesondere seiner Kommunikationstheorie, auf den Nutzen und mögliche Konsequenzen für die systemische Praxis zu befragen.

Aus dem Anlass dieses Jahrestages verweist systemagazin auf diesen Text, in dem es u.a. darum geht:

  • Welche Relevanz hat diese Systemtheorie für unsere systemische Praxis?
  • Inwieweit ist diese Theorie brauchbar, hilfreich oder möglicherweise hinderlich für unsere Arbeit mit Klienten?
  • Welche konkreten Interventionen/Einladungen lassen sich für unseren Berufsalltag ableiten und anwenden, welche Anregungen könnten wir geben und welche Aufregungen könnten wir veranlassen, um die Selbstorganisation unserer Klienten zu fördern?
  • Wie kann es gelingen, eine anschlussfähige Kommunikation anzuregen?
  • Wenn „Missverstehen“ in der Kommunikation wahrscheinlicher als „Verstehen“ sein soll, wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass wir Luhmanns Theorie der sozialen Systeme verstanden haben?

Zum vollständigen Text geht es hier…

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3 Kommentare

  1. Andreas Wern sagt:

    Persönliche Anmerkungen zu Luhmann:
    Die Theorie Luhmanns ist mir erstmals im Psychologie-Studium begegnet. Aber was sollte man als Psychologe mit einer Theorie ohne Menschen anfangen? Außerdem ließ das Abstraktionsniveau irgendeine Nutzung dieses Denkens in der Praxis recht unrealistisch erscheinen.
    Während diverser systemischer Fort- und Weiterbildungen nach dem Studium tauchte der Name und die damit einhergehende Theorie natürlich vermehrt auf. Die Hürde, die man als Psychologe, der gewöhnt ist, von kaum etwas anderem als vom einzelnen Menschen her zu denken und für den Soziales in erster Linie durch eine enorme Vielzahl an sozialpsychologischen Experimenten, die man für Prüfungen gepaukt hatte, relevant war, bei Luhmann nehmen muss, ist immens. Ich bin mir deshalb auch sicher, dass viele Weiterbildungsteilnehmer, für die Theorie oft eher ein notwendiges Übel ist, die soziologische Systemtheorie kaum bis gar nicht zur Kenntnis nehmen. Dabei sei angemerkt, dass diese Ansicht sicherlich wesentlich durch meine Befürchtung gefärbt ist, dass systemisches Arbeiten durch seine zunehmende Verbreitung zwar an Methoden-Vielfalt gewinnt, die theoretischen Fundamente allerdings gleichzeitig immer mehr Aufmerksamkeit verlieren.
    Ich bekenne mich übrigens schuldig, dass es auch bei mir Jahre dauerte, bis ich Luhmann ernsthaft zur Kenntnis genommen habe. Dafür verantwortlich war letztlich eine zunehmende Unzufriedenheit mit dem Fehlen von Konzepten, die ernsthaft Gesellschaft im Allgemeinen und soziale Systeme im Speziellen zusammen mit individuellen psychischen Prozessen in den Blick nehmen können. Nun gilt Luhmann mit Recht nicht als der Theoretiker, der sich intensiv mit Fragen der Psyche beschäftigt hat. Seine Aussagen zu psychischen Systemen bleiben mehr als unbefriedigend. Das Psychische bleibt eine Leerstelle im theoretischen Gebäude. Dies kann man Luhmann als Soziologe definitiv nicht vorwerfen. Peter Fuchs gehört zu den Soziologen, die aus soziologischer Perspektive versuchen die Lücke zu füllen. Ich finde teilweise mit sehr anregenden Überlegungen.
    Letztlich erlebe ich die Leerstelle „Psyche“ bei Luhmann als große Chance, denn immerhin hat die Psyche in seiner Theorie des Sozialen überhaupt eine Stelle – und zwar keine unbedeutende. Statt diese Leerstelle zu bedauern oder zu kritisieren, kann man sie auch als Auftrag verstehen. Andere, vielleicht Psychologen (?), könnten diese Lücke differenziert füllen. Das mag aus Sicht spezialisierter Wissenschaften naiv klingen. Letztlich ist es aber mein Anliegen als Praktiker, der den Anspruch hat, theoriegeleitet zu handeln, auf ein Denken zurückgreifen zu können, das dem Sozialen ebenso gerecht wird wie dem Psychischen, denn eines lernt man bei Luhmann schnell: Das Eine ist nicht ohne das Andere denkbar.

  2. Lothar Eder sagt:

    Noch einen Luhmann? – Danke, ich hab noch!
    Das Charmante an Luhmanns Theorie liegt (für mich) in der konsequenten Verflüssigung von scheinbar Festem. An diesem Aspekt kann man sich immer wieder orientieren, beim Frühstück, im Leben, in einer Therapiesitzung. Allerdings ist dieser Aspekt ja auch nicht genuin von Luhmann sondern mindestens so alt wie die europäische Geistesgeschichte. Es gibt einen weiteren, zentralen Begriff von L., der einen, denkt man ihn in die Tiefe, umhaut: Kontingenz. Empfehlenswert das Kapitel über Luhmann in Friedrich Kittlers Buch „Unsterbliche“. Da erzählt L.. wie er auf den Begriff kam und es stellt einem die Haare auf.
    Hilft mir L. aber als Psychologe und Therapeut weiter? Ja und nein. Will ich das Seelische verstehen, lasse ich Luhmann besser weg. Warum? Weil er von der Seele nichts versteht. Das ist sicherlich spitz formuliert. Ich müßte sagen: ich finde nichts bei L., das mir im Seelischen weiterhilft. Nicht bei mir selbst, und auch nicht in der Arbeit mit Patienten. Warum? Weil er glaubt, das Subjekt weglassen zu können. Und das kann man nicht. Auch dieser Satz ist zu diktatorisch. Ich müßte sagen: man kann schon, aber nur für 5 Minuten. Wenn’s hoch kommt. Aber dann wird es tiefgründig, dann kommt etwas ins Schweben, in den Fluß. Und die Sprache dafür finde ich nicht bei Luhmann.
    L. kommt gewissermaßen mit gefälschten Ausweispapieren in das Terrain des Seelischen. Heißt: er legt die Bedingungen (Apriori) nicht offen, aus denen heraus er sein Denksystem entwirft. Diese Bedingungen nennt die „Philosophie des Geistes“: unsere Vorstellungswelt ist zeitlich-räumlich und sie ist szenisch organisiert (Hogrebe). Luhmann verwirft das Ontologische und bleibt ihm stets verhaftet. Er verwirft das Subjekt und schreibt konsequent aus seinen unhinterfragten subjektiven Voraussetzungen heraus über Objekte (den was wenn nicht Objekte der Vorstellung sollen denn bitte „Systeme“ sein und wer wenn nicht ein Subjekt „erkennt“ sie?).
    Unhinterfragt im Artikel von Haja Molter und Karin Nöcker bleibt L.’s Verwendung des Autopoiesisbegriffs. Maturana hat ihn verstanden als Begriff für Zellprozesse. Ich persönlich finde den Begriff zu breitbeinig, zu selbsterhöhend. „Autopoiesis“, das klingt nach „Sich-selbst-erschaffen“. Voraussetzungslos. Sicherlich aber ein Begriff, der auf dem Gipfel der Aufklärung sitzt – das Lebewesen, das nicht nur sein eigener Herr ist, sondern sich auch noch selbst erschaffen hat. Man denkt an die Dialektik der Aufklärung (Horkheimer und Adorno). Maturana selbst hat Luhmann auf Knien gebeten, seinen Begriff der Autopoiesis nicht auf das Soziale und Psychische anzuwenden. Er sei dafür untauglich. Dem ist zuzustimmen. Richtigerweise wird u.a. von philosophischer Seite kritisiert, dass A. beobachtbar sein müsse. Und die Beobachtbarkeit der A. setzt die räumliche und zeitliche Begrenzung eines Objekts voraus. Beides gilt für biologische Gegebenheiten, nicht aber für psychische und soziale. Eine Zelle hat eine Ausdehnung, eine Seele nicht.
    Nach Luhmannschem Verständnis kommt der Schmerz, den ich (in meinem Bewußtsein) verspüre, wenn mir der Vorschlaghammer auf den großen Zeh fällt, aus der Umwelt meines Bewußtseins. Wer aber würde so sprechen? Dass der Zeh zur Umwelt meines Fühlens gehört?
    Das berührt die psychosomatische Frage, das Leib-Seele-Problem. Es war vielleicht nicht Luhmanns Absicht, aber mit seiner (analytischen) Trennung von psychischem und biologischem System hat der den cartesianischen Graben, der sich durch unser Verständnis leib-seelischer Prozesse zieht, vertieft.
    Wäre nicht der Schellingsche Begriff der Selbstorganisation mitzudenken und –sprechen, wenn von der Autopoiesis die Rede ist? Das wäre ideengeschichtlich angebracht. Dann würde auch deutlich, dass Luhmann, ebenso wie Maturana und Varela, auf der Suche nach dem geeigneten Begriff für das dynamische Prinzip von organischen und sozialen Prozessen ist. Man könnte mit einem voraufklärerischen Begriff auch Leben dazu sagen.

    Nachsatz: Natürlich gilt stets, so auch hier: De mortibus nihil nisi bene. Wenn von „Luhmann“ die Rede war, v.a. in den kritischen Sätzen, so war stets das Werk gemeint, nicht die Person.

  3. Torsten Groth sagt:

    Danke für den Text, lieber Tom. Ich möchte einen Aspekt herausgreifen, der „leider“ oft überlesen wird in der Systemikerszene. Im Text setzen Haja Molter und Karin Nöcker psychisches System und Person gleich. Sie verpassen dadurch den m. E. größten Nutzen der Luhmannschen Theorie: die Person als Erwartungsbündel innerhalb der Kommunikation zu sehen. Eine Person ist das, was in der Kommunikation von einem Menschen bzw von seiner Psyche aufschimmert. Person kann Autor, Adresse und Thema sein. Alle sozial hoch relevanten Prozesse der Zuschreibung von (positiven oder negativen) Eigenschaften können mit dem Begriff Person erfasst werden. All dies ist eben nicht Psyche, letztere schaut gewissermaßen von außen auf das, was ihm/ ihr widerfährt, kann sich daran erfreuen oder – wie so oft im Coaching erlebbar – verzweifeln.

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