Ludwig Reiter habe ich auf dem Zürcher Kongress 1981 kennengelernt, ganz am Rande der Tagung übrigens, beim Abendessen auf dem Zürichberg, wo das Kongressfest stattfand. Christa Hoffmann-zur Verth und Eberhard Künzel, PsychoanalytikerInnen und meine damaligen Lehrer und familientherapeutischen Teamkollegen, kannten ihn von gruppenanalytischen Seminaren und machten uns miteinander bekannt. Ich war blutiger Anfänger im familientherapeutischen Feld und konnte viele namhafte Kolleginnen und Kollegen erstmals aus der Nähe beobachten, ohne das Gefühl, selbst etwas beisteuern zu können. Gerade deswegen erinnere ich mich an ein interessantes Gespräch mit Ludwig Reiter über meine soziologische Herkunft und Perspektive – ich hatte in den 70er Jahren meine Diplom-Arbeit über Niklas Luhmann geschrieben. Von da an habe ich aufmerksam verfolgt, was Ludwig Reiter veröffentlichte – jedenfalls das, was in den deutschsprachigen Fachzeitschriften und einschlägigen Buchpublikationen zu lesen war. Und das war gewiss nicht wenig. Überrascht und erfreut war ich später, als ich bemerkte, dass auch er meine vorsichtigen publizistischen Aktivitäten registrierte, mit denen ich mich Mitte bis Ende der 80er Jahre in die Öffentlichkeit wagte. Er hatte Interesse an meinen Arbeiten über„Gewaltfamilien“, Zwangskontexte und Hilfesysteme und wir freuten uns, wenn wir uns bei Tagungen trafen, nutzten manchmal die Gelegenheit, um miteinander essen zu gehen, korrespondierten gelegentlich (bis heute) und hielten uns auf dem Laufenden, wenngleich immer mit einem gewissen Abstand, der wohl für ihn typisch ist. Als er für mich einen Vortrag in Wien über meine Kinderschutz-Arbeit organisierte, lud er mich anschließend zu einem Besuch in das Institut für Ehe- und Familientherapie in der Praterstraße ein, wo ich einige Mitglieder seines Teams (und der ÖAS) kennenlernte, mit denen ich auch heute noch freundschaftlich sehr verbunden bin. Ich habe sehr viel von Ludwig Reiter gelernt, vor allem durch Lektüre: es gibt wohl wenige Menschen mit einem solch breiten klinischen, theoretischen und praxeologischen Horizont, einer solchen Leselust und Belesenheit. Ihm verdanke ich den Zugang zu zahlreichen (eben auch internationalen) Quellen, die ich mir sonst wohl kaum erschlossen hätte. Mit zahlreichen Beiträgen haben er und seine MitarbeiterInnen ganz wesentlich zu der Weiterentwicklung„Von der Familientherapie zur Systemischen Perspektive“ beigetragen (u.a. auch durch den Sammelband mit diesem Titel). 1998 hat er sich gänzlich aus der beruflichen Arbeit zurückgezogen, wofür nicht nur gesundheitliche Gründe eine Rolle spielten und der Wunsch, sich stärker der Familie und den Künsten zu widmen, sondern auch die Tatsache, dass seine Beiträge – nicht nur in der akademischen Welt – nicht immer die Würdigung erfuhren, die ihrer Bedeutung angemessen gewesen wären: eine schon sicher erscheinende Professur in Deutschland wurde ihm unter bis heute nicht transparenten Umständen versagt. Diese Enttäuschungen leicht zu nehmen, war nicht seine Art, was wiederum in der Folge auch zu manchen Enttäuschungen und Irritationen in der systemischen Szene geführt haben mag. Leicht war der Umgang mit ihm nicht immer, da man selten wusste, was ihn wirklich bewegte. Die Ausnahmen bleiben umso besser im Gedächtnis.
Wie auch immer, Ludwig Reiter ist und bleibt ein Pionier der ersten Stunde der Familientherapie in der deutschsprachigen Region (er war Mitbegründer der 1971 gegründeten legendären„Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Familienforschung und Familientherapie AGF), der den Wandel von einem psychoanalytischen Paradigma hin zu einem systemtheoretisch fundierten Therapieansatz nicht nur gefördert, sondern auch selbst konsequent betrieben hat, ohne seine Wurzeln in der Psychoanalyse und seine schulenübergreifenden Kenntnisse zu verleugnen. Sein Beitrag für die Geschichte der Systemischen Therapie dürfte heute weithin unterschätzt sein, was sich in Zukunft hoffentlich noch einmal ändern wird.
Zu seinem Geburtstag, den er – der nicht mehr gut reisen kann – zuhause im Südschwarzwald verbringt, sei ihm herzlich an dieser Stelle gratuliert. Zu seinen Ehren bringt systemagazin in der Systemischen Bibliothek eine ausführliche Würdigung Ludwig Reiters von Kurt Ludewig, die dieser vor 10 Jahren, also 1998, anlässlich des beruflichen Abschiedes von Ludwig Reiter verfasste, die aber heute nicht weniger aktuell ist, sowie einen Aufsatz von Egbert Steiner (der mit Ludwig Reiter zahlreiche bedeutsame theoretische Texte verfasst hat) und Ludwig Reiter von 1986 über das„Verhältnis von Individuum und sozialem System“ aus der Zeitschrift„Familiendynamik“, in dem die Autoren als eine der ersten für eine Übernahme des Luhmann’schen Konzeptes sozialer Systeme in die theoretische Konzeption systemischer Therapie plädieren.
Ludwig Reiter zum 70. Geburstag
21. Februar 2008 | Keine Kommentare