Ronny Lindner, Diplom-Sozialpädagoge und Sozialarbeiter (Foto: Carl-Auer-Verlag), ist in der systemischen Szene durch sein Buch„unbestimmt bestimmt. Soziale Beratung als Praxis des Nichtwissens“ bekannt geworden, das 2004 im Carl-Auer-Verlag erschienen ist (Zur Rezension von Wolfgang Loth im systemagazin hier). Im Zusammenhang mit seiner langjährigen Tätigkeit in der Alzheimer-Hilfe hat er nun eine systemtheoretische Studie über„Liebe, Demenz und Soziale Arbeit“ verfasst, die in der Systemischen Bibliothek erstmals veröffentlicht wird. In der Einleitung skizziert Lindner sein Programm:„Luitgard Franke beendet ihre Untersuchungen zur Demenz in der Ehe mit der Erkenntnis, dass der Fokus in der Arbeit mit Demenzkranken und deren Angehörigen wesentlich stärker auf Beziehungsaspekte gelegt werden muss als es die derzeitige Praxis tut. Sie zeigt, dass die Orientierung an der Unterstützung von Autonomiebestrebungen bei Angehörigen und die einseitige Betonung ihrer Entlastung in der Regel Widerstände erzeugt, an denen sich die weitere Angehörigenberatung dann recht umständlich abarbeiten muss. Weiterhin verweist Franke darauf, dass im Demenzbereich tätige Organisationen dazu neigen, Aspekte der Erkrankung und des medizinischen bzw. pflegerischen Umgangs mit ihr zu betonen, weil die theoretischen Grundlagen für die Arbeit in Demenzkontexten überwiegend aus eben jenen Fachbereichen stammen. Die Überlegungen der Helfer sind somit an Strukturen ausgerichtet, die eher dazu geeignet sind, krankheitsspezifische und pflegerische Beobachtungen zu machen als beziehungsorientierte. Der Grund für diese unangemessenen Reduktionen liegt nach Franke in einem Theoriedefizit bezüglich der Paarthematik, das auf die praktische Arbeit in Demenzkontexten durchschlägt und das es abzubauen gilt.
Der vorliegende Text nimmt diesen Auftrag an. Er fußt auf der Überzeugung, dass Demenzkranken und deren Betroffenen nicht (nur) damit geholfen werden kann, dass man sie zeitweise voneinander trennt und dass intime Beziehungen nach und nach in Pflegebeziehungen überführt werden. Solche Überlegungen fallen Sozialarbeitern nicht schwer, da ein Großteil der theoretischen Grundlagen, auf denen ihre Praxis aufbaut, eher beziehungs- als personenorientiert gestrickt ist. Die Berücksichtigung des sozialen Kontextes hat inzwischen Eingang in nahezu jede sozialarbeiterische Hilfeplanung gefunden. Die zunehmende Beschäftigung von Sozialarbeitern in Demenzkontexten führt also beinahe zwangsläufig zu einem Bedürfnis nach der diesbezüglichen Erweiterung von Perspektiven. Das damit auch neue und veränderte Problemlagen sichtbar werden, also Schwierigkeiten von Demenzfamilien, die zuvor nicht berücksichtigt wurden, liegt auf der Hand.
Den Ausgangspunkt der nachstehenden Überlegungen bildet eine Kippfigur, die Franke den Praktikern für die Beratung von Familien, die mit den Konsequenzen einer Demenzerkrankung umgehen müssen, ans Herz legt. Die eine Seite dieser Figur bildet die Pflegebeziehung, die andere die Ehebeziehung. Im Zuge der Entscheidung für eine der beiden Seiten werden jeweils spezifische Wahrnehmungen, Deutungsmuster und eigene Verhaltensausrichtungen provoziert. Im Sinne des Erweiterns von Handlungsspielräumen ihrer Klientel können Sozialarbeiter dann mit Angehörigen daran arbeiten, ihre Beziehung gemäß der Entscheidung für die entsprechende Seite auszurichten.
Diese Kippfigur wird nachfolgend aufgegriffen und in die Überlegungen einbezogen, wenngleich letztlich darüber hinausgegangen wird. Dafür werden zu Beginn einige allgemeine theoretische Vorannahmen zu Familien und Liebesbeziehungen erörtert (Abschnitt I), anschließend wird untersucht, wie sich solche Systeme verändern, wenn sie mit Demenzerkrankungen konfrontiert werden (Abschnitt II). Schließlich folgt eine Durchleuchtung der Darlegungen hinsichtlich sozialarbeiterisch verwertbarer Schlussfolgerungen (Abschnitt III).
Um die von Franke geforderte Betonung des Beziehungsaspektes zu gewährleisten und somit beim Abbau des angesprochenen Theoriedefizites möglichst effizient zu sein, werden sich die nachstehenden Darlegungen relativ komplexer Theoriemittel bedienen. Mithilfe der Systemtheorie Luhmannscher Bauart (und Fuchsscher Weiterentwicklungen) wird der Abstraktionsgrad der üblicherweise in Demenzkontexten vorgenommenen Betrachtungen deutlich erhöht werden. Daraus erwächst z. B. der Vorteil, dass viele Überlegungen im Hinblick auf Intimsysteme und Familiensysteme analog vorgenommen werden können. Wann immer passend, wird der Text auf diese Analogien eingehen. Weiterhin soll gezeigt werden, dass eine Demenzerkrankung nicht den operativen (bzw. semantischen), also existentiellen Part der Beziehung irritiert, sondern vielmehr in deren Umwelt agiert. Es bleibt also sofern das erwünscht ist – ein Bereich kommunikativer Sinnreproduktion bestehen, der liebesexklusiv ist und nicht von der Erkrankung erfasst werden kann. Im Gegenteil: Wir werden sehen, dass die Liebe dazu tendiert, vermeintlich dezidiert krankheitsbezogene Kommunikation zu okkupieren und sie dem Beobachter als liebesexklusiv zu präsentieren.
Schließlich wird es möglich sein, die Frankesche Kippfigur in ein Tetralemma zu überführen und die Ansätze für sozialarbeiterische Interventionsversuche somit zu vervielfachen. Auch die dabei produzierten Erkenntnisse werden im letzten Abschnitt auf ihre Tauglichkeit für Soziale Arbeit in Demenzkontexten hin untersucht und bei Bedarf metamethodisch aufbereitet“
Zum vollständigen Text geht es hier
Liebe, Demenz und Soziale Arbeit
5. Januar 2011 | Keine Kommentare