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Kybernetik dritter Ordnung? Entwicklung einer phänomenologisch angesetzten Theoriebildung und ihre Relevanz für die systemtherapeutische Praxis und Lehre

| 6 Kommentare

In der aktuellen Ausgabe von Psychotherapie Forum setzt sich Evelyn Niel-Dolzer aus Wien mit der Frage auseinander, wie die theoriebasierte Polarisierung von Subjekt und Sozialen Systemen, die in der Systemtheorie wie der Kybernetik praktiziert werde, aufgelöst werden könne. Im Editorial heißt es: „Mit Ludwik Flecks Konzept des Denkstils wird ein Vorschlag unterbreitet, Theoriebestände innerhalb eines zersplitterten Binnendiskurses hinsichtlich ihrer klinischen Nützlichkeitexplizit(er) herauszuarbeiten. Anhand einer konkreten Entwicklung in der Lehranstalt für Systemische Familientherapie wird gezeigt, wie der Wechsel von einem konstruktivistisch zu einem phänomenologisch fundierten Bezugsrahmen eine Alternative zur Polarisierung von Subjekttheorien und Theorien sozialer Systeme darstellt: Aus der Perspektive der Intersubjektivität lässt sich psychisches Erleben systemtheoretisch fundiert konzeptualisieren, theoriegeleitet beobachten und in der Ausbildung vermitteln. Anschlüsse und Beteiligung an schulenübergreifenden Diskursen als Anspruch an eine zeitgemäße Ausbildung werden sichtbar gemacht.“

Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass Subjektivität eben nichts „Innerliches“ ist, sondern immer schon ein relationales intersubjektives Phänomen, dessen Folge (und nicht Ursache) subjektives Erleben ist. In dieser Hinwendung zu einer phänomenologischen Perspektive sieht Niel-Dolzer den möglichen Wandel von einem Denkstil der Kybernetik 2. Ordnung hin zu einer Kybernetik 3. Ordnung: „Der Wechsel des konstruktivistischen Bezugsrahmen der Kybernetik zweiter Ordnung lässt sich unter Bezugnahme auf Ludwik Fleck als Denkstilumwandlung in Richtung einer – möglicherweise – Kybernetik dritter Ordnung beschreiben. Ihre klinische Nützlichkeit erweist sich in ihrer „Sehhilfe“ auf psychisches Erleben als wirkmächtiger Aspekt therapeutischer Performanz. Wo sich klinisch relevantes Geschehen nicht durch die Theorien einer Kybernetik II (als Dekonstruktion von Problemen) konfigurieren lässt, sind Theorien einer Kybernetik III als „Sehhilfe“ auf die (intersubjektive) Genese und Aufrechterhaltung pathologischer Phänomene erforderlich. Relevant ist dies vor allem in Prozessen, in denen drohender Selbstverlust bzw. Selbstaufrichtung zentraler Aspekt des (impliziten) Behandlungsauftrages sind. Das sind v. a. Kontexte traumatischen Erlebens und existentieller Verluste/Zerstörung, Arbeit mit emotional schwer erreichbaren Klient:innen, und auch mit Kindern und Jugendlichen, wo die Orientierung an (Selbst)Entwicklungstheorien prinzipiell unverzichtbar ist“.

Auch wenn nicht so richtig klar wird, wofür es eine neue Kybernetik braucht und inwiefern die Nutzung phänomenologischer Konzepte nicht auch in eine Kybernetik II integriert werden kann (so lässt sich auch das Fragezeichen in der Überschrift deuten), ist dieser Text sehr lesenswert und als Open Access auch hier frei verfügbar.

6 Kommentare

  1. Lothar Eder sagt:

    Ich habe mich gefreut, den Artikel zu lesen, weil er mE in die richtige Richtung geht. Die Ausführungen der Autorin zeigen aber auch, wie schwer man sich im systemischen Feld tut, vom Denken, Sehen und Beobachten ins Fühlen zu kommen.
    Phänomenologie schließt an an das „Leib-Apriori“ des späten Kant. Damit ist der Weg ins Fühlen vorgezeichnet, denn wenn ich meinen Körper „sehe“ und „beobachte“, bin ich in der cartesianischen Trennung, wenn ich aber fühlend in meinem Körper bin, habe ich die Möglichkeit, die Trennung aufzuheben und in Resonanz mit mir selbst und anderen zu sein.
    Dies zu tun, verstehe ich als das Anliegen der Autorin, und das finde ich verdienstvoll.
    In dem Zusammenhang fällt mir der Biologe und Philosoph Andreas Weber ein (von Böhme und Varela promoviert). Mit seiner „Ökophilosophie“ und einer „biologischen Mystik“ unternimmt er Versuche, Wissenschaft und Poetik miteinander zu verbinden. Seine Gedanken zu „individuiert eins mit der Welt zu sein“ (meine Ausdrucksweise) finde ich in diesem Zusammenhang lohnend und anschlussfähig in Bezug auf systemisches Denken.

    • Franz Fricz sagt:

      Wenn es um die Frage der Möglichkeit und auch Notwendigkeit (!) einer Kybernetik dritter Ordnung geht, ist eine Neulektüre Kants von Grund-legender Bedeutung, da gebe ich Ihnen Recht, lieber Lothar Eder; wenn auch nicht auf den „späten“ Kant (d.h. den der Kritik der Urteilskraft), sondern auf den ganzen Kant, also auf alle drei Kritiken, die als Einheit gelesen werden müssen.
      Wenn Sie aber Systemtheorie eine Differenz „Denken, Sehen, Beobachten“ einerseits und „Fühlen“ andererseits unterstellen, dann werden Sie ihr nicht mal ansatzweise gerecht, weder der Systemtheorie Maturanas noch der Luhmanns.

      Ich werde in Kürze hierzu noch ausführlicher schreiben.

  2. Monika Broecker sagt:

    Heinz von Foerster hatte immer schon Bedenken, dass der Begriff Kybernetik zweiter Ordnung dazu einladen wuerde nach einer dritten, vierten, fuenften Ordnung zu suchen. Die Idee wurde auch von Bateson und in seiner Folge Watzlawick diskutiert, ist also nichts Neues.

  3. Wolfram Lutterer sagt:

    Lieber Tom,
    Besten Dank für dieses spannende Fundstück!
    Da taucht sie alle Jahre mal wieder auf, die Idee einer dritten Ordnung. Bin mir nur nicht ganz sicher, ob ich die vorgetragene bunte Mischung von Ideen zur zweiten Ordnung wirklich teilen würde. Luhmann bruchlos zusammen mit Heinz von Foerster? Physische und psychische Dichotomien? Das reflexive Moment der 2. Ordnung hat der Autor leider kaum zur Kenntnis genommen.

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