Kurt Ludewig, der das heutige Adventskalendertürchen öffnet, ist als Deutsch-Chilene ohnehin für kulturelle Unterschiede sensibilisiert, musste aber die Erfahrung machen, dass sich auch diese Unterschiede im Laufe der Zeit schneller ändern können als erwartet:
In September 1987 wurde ich eingeladen, eine einmonatige Gastdozentur am Instituto de Psicología der Universidad de La Frontera in Temuco, Chile, durchzuführen. Ich sollte die dortigen Hochschuldozenten auf den neuesten Stand in Sachen systemisches Denken und systemische Praxis bringen. Als gebürtiger Chilene hatte ich, obwohl ich schon mehr als 25 Jahre im Ausland gelebt hatte, wenig Schwierigkeiten, mich in der spanischen Sprache zu Hause zu fühlen. Allenfalls fehlten mir hier und da einige Fachbegriffe, die ich dann aber auf Englisch äußerte, sodass einer der teilnehmenden Kollegen sie ins Spanische übersetzten konnte. Der jugendliche Slang und einige Sitten hatten sich seit meiner Auswanderung zwar etwas verändert, doch gelang es mir, fast alles zu verstehen und mich angemessen zu verhalten. Erstaunt war ich allerdings zunächst, als ich von den Frauen, die ich zum ersten Mal begegnete, gleich mit einem Wangenkuss begrüßt wurde. Der gegengeschlechtliche Wangenkuss hatte sich als Begrüßungszeremoniell etabliert. Eine solche Form der Annäherung war damals in Deutschland ziemlich undenkbar und wäre als distanzlos bzw. grenzüberschreitend gewertet worden. Für mich war sie anfangs gewöhnungsbedürftig. Mit dem Wetter im südchilenischen Frühling hatte ich ebenfalls wenig Schwierigkeiten. Es war dort genau so kühl und regnerisch wie das Wetter im Hamburger Frühling, an den ich mich mittlerweile gewöhnt hatte. Die Stadtbilder der Gegend, aus der ich kam, nämlich Zentralchile, hatten sich stark verändert. Die gemächlichen Chalets und die baumschattigen Alleen, die meiner Geburtsstadt ein besonders Flair verliehen, waren größtenteils mehrstöckigen Wohnblöcken und breiten Autostraßen gewichen. Schließlich hatte sich die Bevölkerung im letzten Vierteljahrhundert mehr als verdoppelt. Chile stand zu der Zeit immer noch unter einer Militärdiktatur, und das hatte darüber hinaus Vieles im Umgang der Menschen untereinander verändert. An der Universität wurde ich früh gewarnt, sparsam mit öffentlichen politischen Äußerungen umzugehen, denn man rechnete damit, dass unter den Dozenten Spitzel waren. Bei privaten Treffen unter Menschen, die sich gegenseitig vertrauten, war es aber möglich, über alles offen zu reden. Und das tat man auch ausführlich. Man konnte dabei eine Ahnung davon bekommen, dass die Zeiten der Diktatur in nicht all zu großen Ferne zu Ende gehen würden. Das geschah auch zwei Jahre später, als der Diktator durch öffentliche freie Wahlen abgewählt wurde.
Im Rahmen meiner Gastdozentur hatte ich mir vorgenommen, einige Live-Demonstrationen von Familientherapien durchzuführen. Dafür sollte die vorhandene Einwegscheibe genutzt werden. Die teilnehmenden Dozenten würden dem Familiengespräch von draußen anschauen und später mit mir diskutieren. Meine erste Sitzung mit einer chilenischen Familie hat mich zu Anfang ziemlich verunsichert, eigentlich sollte ich sagen: ‟entwaffnet. Es handelte sich um ein junges Ehepaar mit drei Kindern zwischen sechs und elf Jahren. Als ein in Deutschland, zumal in Norddeutschland beruflich sozialisierter Familientherapeut hatte ich mir angewöhnt, die Sitzung mit einer eher distanzierten Haltung zu beginnen. Das sollte sowohl der Familie als auch mir ermöglichen, uns langsam aneinander anzunähern, ohne uns durch zu starke Involviertheit gegenseitig zu überfordern.
So war meine Erwartung auch, als die chilenische Familie den Therapieraum betrat. Ich ging auf sie zu und bot ihnen meine Hand zur Begrüßung an. Der Familienvater nahm meine Hand und drückte sie herzlich – so weit, so gut. Dann wandte ich mich der Mutter zu und bot ihr ebenfalls die Hand an. In typisch chilenischer Manier übersah sie diese Geste, ging statt dessen auf mich zu und küsste mich auf die Wange. Ich stand da ziemlich ratlos und wusste zunächst nicht, was ich als nächstes tun sollte. Es war aber nicht nötig, dass ich etwas tat, denn die drei Kinder kamen der Reihe nach auf mich zu und drückten mich sanft nach unten, um mir mit einem ‟Hola tio auf die Wange zu küssen. (In Chile war es damals und ist vielleicht heute noch Usus, dass Kinder für sie wichtige Erwachsene mit ‟tio anreden, also als Onkel bezeichnen.)
Dankenswerterweise hat die Kollegin, die mit mir als Kotherapeutin die Sitzung durchführen sollte, die Situation übernommen und einige Zeit damit verbracht, der Familie die Besonderheiten des Settings zu erklären. Diese Zeit habe ich tatsächlich gebraucht, um mich von der Überraschung und Verunsicherung zu erholen, die diese vielen Küsse ausgelöst hatten. Das weitere Gespräch ging um die Probleme, die sie überwinden wollten. Das unterschied sich nicht wesentlich von dem, was ich aus Deutschland kannte. Zum Abschluss des Gesprächs wurde ich aber wieder von der Frau und den drei Kindern herzlich geküsst. Bis dahin hatte ich mich aber daran gewöhnt und war nicht mehr überrascht. Ich begann zu verstehen, dass das Ansinnen, die Durchführung von therapeutischen Gesprächen nach standardisierten Maßgaben zu gestalten, nur dann Sinn macht, wenn man sie an den Gepflogenheiten einer bestimmten Kultur orientiert. Diese Erfahrung sollte mir dann in späteren Jahren bei den Gesprächen helfen, die ich in anderen Ländern als Demonstration durchführte. Ich lernte, mit geringeren vorgefertigten Erwartungen an die Klienten heranzugehen.