In einem sehr spannenden Text für das Online Journal „Forum Qualitative Sozialforschung“ befassen sich Till Jansen, Arist von Schlippe und Werner Vogd, die an der Universität Witten/Herdecke fachgebietsübergreifend kooperieren, mit der Frage, vor dem Hintergrund welcher theoretischer Perspektiven man soziale Praktiken in formalen Organisationen untersuchen kann. Die oft verwendete „dokumentarische Methode“ in der wissenssoziologischen Tradition Karl Mannheims geht z.B. davon aus, dass „soziale Praxen impliziten, verkörperten Wissensstrukturen entspringen, die von bestimmten Gruppen oder Menschen in ähnlichen Lebenskonstellationen geteilt werden“. In Organisationen ist das komplizierter, weil hier sehr unterschiedliche Wissensbestände aufeinandertreffen und auch kultiviert werden. Die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen und die breite Streuung beruflicher Anforderungen und Karrieren machen Organisationen einerseits leistungsfähig, bringen andererseits aber auch ständige Verstehens- und Kommunikationsprobleme mit sich, was wiederum eine Herausforderung für die qualitative Rekonstruktion im Forschungskontext darstellt.
„Während Milieus und Generationen sich sehr gut als geschlossene, relativ homogene und nahezu vollständig durch implizites Wissen bestimmte soziale Zusammenhänge begreifen lassen, leben Organisationen gerade davon, dass explizite Wissensstrukturen wie etwa Verfahren (…) oder Wissensbestände einer Profession (…) oder spezifischen Berufsgruppe (beispielsweise betriebswirtschaftlich ausgebildete Verwaltungskräfte) eine besondere Rolle spielen. Für Letztere gilt, dass ihr expert/innenspezifisches ,Betriebswissen’ (…) anders strukturiert ist als etwa das einer Jugendgruppe. Kommunikatives Wissen, Common-Sense-Konstruktionen und Um-Zu-Motive (…) bekommen hier eine weit höhere Bedeutung und sind nicht nur eine Art Schritt auf dem Weg zum eigentlichen, konjunktiven Wissen (…). Darüber hinaus sind Organisationen funktionsbezogen und heterogen. In ihnen trifft eine Vielzahl sozialer Räume und Milieus aufeinander, und die sich hieraus ergebenden sozialen Praxen sind eher durch das Abarbeiten unterschiedlicher Wissensbestände bestimmt als durch die Reproduktion eines einheitlichen und weitgehend homogenen konjunktiven Erfahrungsraums“.
Als theoretischen Rahmen für die Erfassung dieser Prozesse schlagen die Autoren das Konzept der Kontextur von Gotthard Günther vor. In ihrem Abstract schreiben sie: „Die dokumentarische Methode ist bezüglich der ihr zugrunde liegenden Metatheorie gut auf Felder wie Generationen oder Milieus abgestimmt, was ihr dort besonders valide Analysen ermöglicht. Gerade im Fall formaler Organisationen sind soziale Praxen jedoch nur bedingt auf konjunktive Erfahrungsräume zurückzuführen. Vielmehr bekommen hier auch explizite Wissensbestände und Praxen zwischen unterschiedlichen Wissensräumen eine hohe Bedeutung. In diesem Beitrag wird im Anschluss an Gotthard GÜNTHER eine metatheoretische Konzeption für rekonstruktive Forschung in organisationalen Settings entwickelt. Soziale Praxis wird hier als das Prozessieren unterschiedlicher latenter und manifester Wissensbestände mit- und gegeneinander gefasst. Mit den Begriffen der Kontextur und der transjunktionalen Operation wird eine schlanke, aber gleichzeitig hoch abstrakte Metatheorie vorgeschlagen, die eine Analyse dieser Prozesse ermöglicht. Am Beispiel des Familienmanagements einer Unternehmerfamilie werden die Möglichkeiten dieser Methode vorgestellt.“
Wer in und mit Organisationen arbeitet, kann diesen Text mit großem Gewinn lesen. Leichte Kost ist er nicht, aber dafür umso nahrhafter.