Der moderne Kinderschutz, der in den 70er und 80er Jahren in Deutschland aus der Alternativbewegung hervorging und das alte repressive Fürsorgesystem der Bundesrepublik Deutschland so erfolgreich in Frage stellte, dass er für eine gewisse Zeit die entsprechenden fachlichen Diskurse ganz wesentlich beeinflusste, war seinerseits sehr von soziologischen Arbeiten inspiriert worden, die sich u.a. in den USA mit Fragen der gesellschaftlichen Wurzeln und Dynamik von familiärer und öffentlicher Gewalt, des Verhältnisses von sozialen Institutionen und menschlicher Entwicklung, der Gerechtigkeit sowie der Strategien der Transformation sozialer Ordnungen hin zu entwicklungsbezogenen Lebensweisen beschäftigten. Einer der Pioniere dieser Forschungsrichtungen war schon damals David Gil, seines Zeichens Professor of Social Policy an der Heller School for Social Policy and Management an der Brandeis University in Boston. Ich erinnere mich noch gut an einen Besuch bei ihm in seinem kleinen, mit Büchern und Papieren aller Art vollgestopften Büro, den Reinhart Wolff, der Begründer des modernen Kinderschutzes in Deutschland und ich im Frühjahr 1989 unternahmen. Wir bereiteten den Weltkinderschutz-Kongress 1990 in Hamburg vor (Reinhart Wolff als Kongress-Präsident, ich als Kongress-Sekretär) und Reinhart hielt sich für ein Sabatt-Jahr an der Brandeis-Universität auf. David Gil, ein so freundlicher und herzlicher wie umtriebiger Mann, hat mich von Anfang an beeindruckt. Damals war er schon Mitte Sechzig, demnächst wird er 90 – und wer einen Blick auf seine website wirft, stellt fest, dass seine Produktivität in all dieser Zeit kein bisschen nachgelassen hat.
Für das „Kritische Glossar Hilfen zur Erziehung“, das demnächst in Frankfurt am Main im IGfH-Eigenverlag (Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen e.V. – Reihe „Grundsatzfragen“) erscheinen und von Diana Düring, Hans-Ullrich Krause, Friedhelm Peters, Regina Rätz, Nicole Rosenbauer und Matthias Vollhase herausgegeben wird, hat Reinhart Wolff eine Bestandsaufnahme zum Thema Kinderschutz verfasst, und die David Gil zum 90. Geburtstag gewidmet. systemagazin freut sich, diesen Beitrag als Vorabdruck schon jetzt präsentieren zu können.
Reinhart Wolff, Berlin: Kinderschutz. David Gil zum 90. Geburtstag
1. Neue Aufmerksamkeit – gesellschaftliche Umbrüche
In der mehr als 200jährigen Geschichte moderner Kinderschutzarbeit hat es stets ein Auf und Ab gegeben. Seit Rousseaus Émile (1762) mit dem kritischen Blick auf das Schicksal der Kinder („Alles degeneriert in der Menschen Hand“) werden in der sich entwickelnden Moderne Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung immer wieder zu einem wichtigen Thema, werden Vorschläge gemacht, wie man die entstandenen Probleme verstehen kann, werden Programme und Einrichtungen geschaffen, sich für Kinder einzusetzen und sie zu schützen. Und dann sinkt die Aufmerksamkeit wieder, haben Kindesmisshandlung und Kinderschutz periodisch keine Konjunktur mehr. In diesem Schwanken des gesellschaftlichen, politischen und professionellen Interesses an Kindesmisshandlung und Kinderschutz verändern sich freilich auch die jeweils handlungsleitenden Verstehensrahmen, wie in sozialhistorischen Studien zur Entwicklung von Kindheit und Kinderschutz inzwischen gut herausgearbeitet worden ist (vgl. zusammenfassend: Wolff, R. 2013 und Wolff, R. 2010: 315 – 335). Mal stehen (1.) polizeilich-kriminalistische Akteurskonzeptionen (mit einem Fokus auf Erfassung und Bestrafung von „Tätern“ und auf „Rettung von Opfern“) bzw. (2.) individualistische Orientierungen (mit einem Fokus auf „Diagnose und Behandlung von Persönlichkeitsstörungen“ und von „Misshandlungstraumata“) im Vordergrund, mal (3.) eher kontextuelle oder ökologisch-systemische Ansätze (mit einem Fokus auf soziokulturelle Lebensverhältnisse und Lebens- und Beziehungsgeschichten mit ihrer zunehmenden Einbettung in professionelle Meso- und Makrosysteme sowie auf die Entwicklung ganzheitlicher Unterstützung und Hilfe, Beratung und Bildung).
Gegenwärtig steht im Zuge des gewachsenen Interesses, tödliche Kindesmisshandlungsfälle medial aufzugreifen und sensationell aufzubereiten – Katharina Rutschky hat dies einmal mit Recht „Erregte Aufklärung“ (Rutschky 1992) genannt – wieder einmal eine polizeilich-kriminalistische Sicht im Vordergrund, wie sie im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschend war. Eine aktuelle, Kindesmisshandlungen skandalisierende „Streitschrift“ ist dafür ein charakteristisches Beispiel: das Buch der Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat „Deutschland misshandelt seine Kinder“ (2014), das in der Tat allerdings offenbar von einem Ghostwriter, Andreas Gößling, wie freimütig eingeräumt wird, recherchiert und verfasst worden ist. Hier werden – das klassische Muster wiederholend – nurmehr „Verbrecher“ ausgemacht, die man bestrafen müsse, und es wird gefordert: „Kinder schnell von ihren Misshandlern trennen!“ und natürlich: „null Toleranz gegenüber Kindesmisshandlung – und hundertprozentiges Engagement der Jugendämter in ihrer gesetzlich vorgesehenen Rolle als Wächter und Beschützer des Kindeswohls.“ (230 f.) Und dann wird lapidar festgestellt: „Das deutsche Kinder- und Jugendschutzsystem versagt mit grausamer Regelmäßigkeit“ (2. Umschlagseite). So einfach ist das. Von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, kritischen Praxiserfahrungen und differenzierten Analysen findet sich keine Spur. Stattdessen wird das gesamte interprofessionelle Kinderschutzsystem (bis auf Polizei und Rechtsmedizin) in Frage gestellt und abgestraft. Die Leiterin des Landesjugendamtes Rheinland-Pfalz und Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter, Birgit Zeller, stellt darum in ihrer kritischen Stellungnahme zum Buch mit Recht heraus: „Das Buch will offenbar der Reputation der Jugendhilfe, der Ärzteschaft, der Gerichte und damit auch des Gesamtsystems des Kinderschutzes schaden. Es erschwert dadurch potentiell die Hilfe für Kinder und Jugendliche, indem (es) das Vertrauen in das System schwächt, ohne irgendwelche Lösungen aufzuzeigen.“ (Zeller 2014) So zupackend solche Verfolgungskonzepte sich freilich geben, „Problemlösungen“ sind dabei in der Regel gar nicht beabsichtigt. Ob beabsichtigt oder nicht: Jedenfalls geht es kinderschutzstrategisch in der Folge solcher Konzepte immer wieder um die bloße, und heutzutage massenmedial inszenierte Verbreitung von Angst-Lust-Regressionen und um die Etablierung autoritärer Überwachungs- und Risikobeherrschungssysteme – „indem Riskoeigenschaften in Politik und Praxis konstruiert werden“ (Kearley & Donovan 2013, Übers. RW) – eine konzeptuelle Erblast, die der moderne Kinderschutz historisch seit seinen Anfängen im 19. Jahrhundert mit sich rumschleppt. Diese Erblast hinter sich zu lassen, war allerdings ein Anspruch der modernen Kinderschutzbewegungen, wie sie sich im Zusammenhang der „Neuentdeckung von Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung“ in den 1960er und 1970er Jahren in den USA, Europa, Australien und Neuseeland entwickelten.
2. Mehrseitige Komplexität
Mit dieser „Neuentdeckung“ ging vor allem eine neue Aufmerksamkeit gegenüber Kindesmisshandlungen und Kindesvernachlässigungen einher, lernte man besser „hinzuschauen“, setzte man neue Forschungen in Gang und experimentierte mit neuen Programmen und Methoden. Man stimmte vor allem in der Auffassung überein, „dass Kindesmisshandlung ein großes Problem darstellte“ (Garbarino 2013: 731), wie groß das Ausmaß von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung einzuschätzen wäre, war man sich aber nicht sicher. Auch gab es von Anfang an kontroverse theoretische Verstehensrahmen und unterschiedliche Ursachenhypothesen, mit denen dann jeweils spezifische Praxiskonzepte verbunden waren. Henry Kempes Entdeckung des „battered-child syndrome“ (Kempe, H. et al. 1962) und David Gils „Violence Against Children: Physical Child Abuse in the United States“ (Gil 1970) bzw. „Child Abuse and Violence“ (Gil 1979) oder auch hierzulande unser Beitrag „Gewalt gegen Kinder. Kindesmisshandlung und ihre Ursachen.“ (Arbeitsgruppe Kinderschutz: Bast u.a. 1975) markierten den neuen Aufbruch, der dazu führte, dass Kinderschutz international ins Zentrum der Aufgaben der Familien-, Kinder- und Jugendhilfe und ihrer Partner im interprofessionellen Hilfesystem rückte. Psychodynamische Faktoren wurden im medizinischen Konzept der Kempe / Steele und Helfer betont und es wurde – um die Ärzte in deren Schweigepflichtdilemma gegenüber ihren Patienten und deren Eltern zu entlasten – generelle Meldpflichtgesetze gefordert, die dann auch in den USA mit dem „Child Abuse and Treatment Act“ 1974 durchgesetzt wurden. Im eher sozialwissenschaftlich und sozialpolitisch orientierten Konzept spielten demgegenüber sozio-kulturrelle, ökonomische und politische Kontexte für das Verständnis von „Gewalt gegen Kinder“ (also soziale Marginalisierungen, Armut und Arbeitslosigkeit, Wohnungselend und gewaltbelastete Nachbarschaften und strukturell fragile Familienverhältnisse) eine größere Rolle. Und nicht selten gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern, die Jim Garbarino – der mit seinem ökologischen Ansatz seinerseits eher eine Mittelposition einnahm – vor dem Hintergrund einer überraschenden stärkeren Berücksichtigung sozialer Faktoren in der aktuellen internationalen Kinderschutzdiskussion (was sich seit der Übernahme der Herausgeberschaft durch Donald C. Bross und Gary B. Melton 2013 sogar in der internationalen Fachzeitschrift „Child Abuse and Neglect – The International Journal“ abzuzeichnen beginnt) wie folgt erinnert:
„Kempe stand [auf einer Nationalen Konferenz in den USA Anfang der 70er Jahre] an einem Podium links von der Zuhörerschaft und Gil stand rechts an einem Podium weit weg am anderen Ende der Bühne. Kempe betonte den Fokus „Kindesmisshandlung geschieht in allen sozio-ökonomischen Schichten“, nahm die Persönlichkeitsvariablen in den Blick, um zu erklären, warum Eltern ihre Kinder misshandelten und argumentierte, dass auf Eltern gerichtete Präventionsprogramme die beste Strategie darstellten, um Kindern zu helfen. Auf der anderen Seite konterte Gil, „sozio-ökonomische Faktoren seien wirkkräftige Prädikatoren von Kindesmisshandlung“ und unterstrich, dass dieser Zusammenhang noch viel stärker sei, wenn man Kindesvernachlässigung in der Diskussion berücksichtige. Und Gil schlussfolgerte, dass Programme (die diese Tatsachen nicht berücksichtigten, RW) nutzlos seien, denn nur soziale Transformationen würden tiefe und bleibende Veränderungen bewirken.
In gewisser Hinsicht bestätigten die verfügbaren Daten beide Positionen: Kindesmisshandlung geschah tatsächlich in allen Schichten, aber das Ausmaß des Problems korrelierte hoch mit sozio-ökonomischen Faktoren (z. B. unter armen Leuten kommen Misshandlungen häufig, und im Vergleich zu wohlhabenden Leuten viel häufiger vor und Vernachlässigung wurzelt in Armutsverhältnissen). Der Punkt geht an Gil. Aber andererseits war auch klar, dass nicht alle armen Leute ihre Kinder misshandelten, während einige reiche Leute dies auch taten. Dieser Forschungsbefund machte die Berücksichtigung psychologischer Faktoren in der Persönlichkeitsentwicklung misshandelnder Eltern notwendig. Punkt an Kempe und Steele.“ (Garbarino 2013: 733; Übersetzung RW)
Die neue Kinderschutzbewegung, wie sie hier in Deutschland mit der Gründung der Kinderschutz-Zentren Mitte der 1970er Jahre ihren Anfang nahm und deren Praxis und Forschung Tendenzen stärkte, die schließlich 1990/91 zu einem weltweit richtungsweisenden demokratischen Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) mit einem partizipatorischen und hilfeorientierten Kinderschutzkonzept führten, war den kontextuellen, sozio-politischen Kinderschutzansätzen verbunden, machte zugleich aber vor allem ökologisch-systemische und konstruktivistische und dialogisch-therapeutische sowie professionstheoretische Verstehensrahmen und Programme stark. Deren Eckpfeiler kann man folgendermaßen kennzeichnen:
(1) Fachleute allein können Kinder nicht erfolgreich schützen. Sie brauchen die Partnerschaft mit den primären Kinderschützern, den Eltern. Und sie brauchen die Zivilgesellschaft, die Politik und die Medien als Partner im Bemühen um die Schaffung einer demokratischen und gerechten Kultur des Aufwachsens für alle Kinder. Repressiver Kinderschutz ist demgegenüber wie die Faust aufs blaue Auge. Er untergräbt den Aufbau solidarischer Unterstützungsstrukturen.
(2) Kinderschutz in der fortgeschrittenen Moderne gelingt nur im Bündnis der familialen Mikrosysteme mit den multidisziplinären Berufssystemen. Die Professionen, die immer ein soziales System darstellen und in den Arenen der öffentlichen Auseinandersetzung um Platz und Anerkennung kämpfen, stehen dabei allerdings vor einer dreifachen Aufgabe (vgl. Abbott 1988): 1. Sie reklamieren die Zuständigkeit für bestimmte diagnostizierte Problemlagen oder Problemkonstruktionen, („diagnosis“). 2. Sie ziehen daraus bestimmte Schlussfolgerungen, was zu tun ist („inferences“). 3. Sie setzen schließlich eine dazu passende fachliche Praxis („treatment“ / Behandlung) ins Werk.
(3) Nun macht die moderne Professionsforschung darauf aufmerksam: Je größer die Inferenzrisiken, umso größer ist der Eingriff in die Zuständigkeit und Aufgabenbestimmung einer Profession (s. auch Abbott 1988: 50). Dann gerät ein Professionssystem unter Außendruck, was gegenwärtig in der Kinder- und Jugendhilfe und insbesondere im Kinderschutz in erheblichem Maße der Fall ist (s. Wolff u.a. 2013). Selbstbewusste und kompetente Eigenständigkeit und faire und achtsame Formen der Kooperation mit Eltern und Kindern, mit Bürgerinnen und Bürgern und mit anderen Fachleuten im interprofessionellen System sind darum eine wichtige Voraussetzung für gelingenden Kinderschutz.
(4) Mit der wachsenden Bedeutung der Professionssysteme (auch im Kinderschutz) haben wir es jedoch zugleich mit einer wachsenden Ambivalenzproblematik zu tun: „The professions dominate our world. They heal our bodies, measure our profits, save our souls. Yet we are deeply ambivalent about them.“ (Abbott 1988: 1). Mit der Anspruchserhöhung an die modernen Professionssysteme geht insofern eine wachsende Enttäuschung gegenüber den Leistungen der expandierenden Berufssystemen einher, die es in ihrer Praxis mit strukturellen Unsicherheitsbedingungen und hoher Kontingenz zu tun haben, die sich zwar beeinflussen, aber nicht sicher steuern lassen (Expansions- und Enttäuschungsdilemma).
(5) Die Kinderschutzsysteme als Professionssystem haben es aber noch mit einem weiteren Dilemma zu tun. Der Autonomisierung und Individualisierung des Familienlebens ist nämlich eine wachsende Vergesellschaftung primärer Lebenszusammenhänge einhergegangen – mit der Folge einer paradoxalen Entwicklungsdynamik zwischen dem Schutz der Privatsphäre und den wachsenden Ansprüchen und Eingriffen professioneller Umgebungssysteme, nicht zuletzt des Staates, in den Familienzusammenhang. Familie wurde auf diese Weise unabhängiger (privater) und zugleich abhängiger (öffentlicher) – ein strategisches Entwicklungsparadox der modernen Familie, das Kinderschutz reflexiv balancieren muss, wenn er erfolgreich sein will.
(6) Aus diesem Entwicklungsparadox folgt auf Seiten der in ihren familialen Lebenszusammenhängen auf professionelle Expertise und Unterstützung angewiesenen Menschen – sowie auf Seiten der Professionellen – ein Schwanken zwischen Nachfrage und Akzeptanz, zwischen Abwehr, Widerspruch und Widerstand und bereitwilliger Nutzung gegenüber dem Angebot und der Praxis humaner Dienstleistungssysteme, woraus ein strategisches Ambivalenzdilemma der beteiligten Akteure entsteht. Darum treffen im Kinderschutz häufig ambivalente, skeptische, unfreiwillige Klienten auf ambivalente, skeptische, rollenunsichere Professionelle. Ambivalenzdilemmata lassen sich aber nicht einfach nach einer Seite hin auflösen. Gelingender Kinderschutz ist davon abhängig, ob die miteinander verstrickten, kämpfenden, aber auch einander nutzenden und schätzenden Akteure eine Praxis des „Sowohl als Auch“ ambivalenztolerant offen halten können und ob sie autoritativ, aber nicht autoritär sich für die Rechte, Pflichten und Verantwortungen aller Akteure, insbesondere aber für die Förderung und den Schutz der Entwicklungsinteressen und -bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen einsetzen können.
(7) Dabei muss man in ökologisch-systemischer Perspektive im Blick behalten, dass auch das gesellschaftliche und organisationale Umfeld sich im Laufe der letzten Jahre dramatisch verändert hat. Aufgrund großer sozio-kultureller, politisch-ökonomischer Transformationen und Wertesystemveränderungen, nicht zuletzt aufgrund wachsender Ungleichheit und Armut und zunehmender Tendenzen des Separatismus und des Isolationismus und der sozialen Entbettung benachteiligter Bevölkerungsgruppen, ist es generell im Zuge des Um- und Abbaus des wohlfahrtsstaatlichen Hilfesystems zu Problemverschärfungen gekommen, mit der Folge des „Anwachsens der Unsicherheiten“ (Castel 2009). Darum ist es bei wachsendem Problemdruck und strukturell schwierigen Rahmenbedingungen und unzureichenden Ressourcen im Kinderschutz schwer, eine gute Fachpraxis zu gewährleisten oder gar weiter zu entwickeln. Wollen die Kinderschutzfachkräfte erfolgreich sein, müssen sie darum zu politischen Akteuren werden und sich für den Erhalt und die Weiterentwicklung wohlfahrtsstaatlicher Hilfesysteme und für eine Praxis gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung (Gil 2006) einsetzen.
(8) Dabei steht das moderne Kinderschutzsystem gewissermaßen vor einem Scheideweg: Wie wir in unserer empirischen Praxisforschung im Projekt „Aus Fehlern lernen. Qualitätsmanagement im Kinderschutz“ (Wolff u.a. 2013) zeigen konnten, schwanken die kommunalen Kinderschutzsysteme nämlich, in welche Richtung sie gehen wollen:
• in die Richtung der Stärkung eines ganzheitlichen demokratischen Hilfesystems, mit gut qualifizierten Fachkräften, die im Bündnis mit den Hilfeteilnehmern gemeinwesen-orientiert ein multi-disziplinäres soziales Netzwerk bauen, das die Rechte, Pflichten und Verantwortungen und die Entwicklungsinteressen und -bedürfnisse aller Akteure achtet und fördert (eine Orientierung, die interessanterweise auch der 14. Kinder- und Jugendbericht mit seinen „Leitlininien für eine Neugestaltung des Aufwachsens“ (2013: 418) unterstrichen hat) oder
• in die Richtung der Verstärkung einer Strategie zur Verfestigung eines autoritären, entdemokratisierten, in seinen Leistungen eingeschränkten, in Bildungsförderung und Risikobeherrschung gespaltenen sozialen Hilfesystems, das die Fachkräfte in neo-manageriale bürokratische Steuerungsverfahren einbindet und Partizipation aller Akteure gering achtet und verfehlt, mit der Folge, dass – wie ohne jede Beschönigung im 14. Kinder- und Jugendbericht (S.353) heraus gestellt wird – überall „ein Risiko-, Schutz- und Kontrolldiskurs dominant geworden“ ist.
3. Wege in die Zukunft
Wollen wir in die Richtung einer engagierten, ganzheitlichen und demokratischen Kinderschutzpraxis gehen, dann lässt sich mit Blick auf Erfahrungen mit einer beherzten und reflektierten dialogischen Fachpraxis im Kinderschutz angeben, (vgl. auch: Lonne, Parton et al. 2009; Renoux 2008; Child Abuse & Neglect, Special Supplementary Issue, Dec. 2013; Wolff u.a. 2013a; Wolff u.a. 2013b; Biesel/Wolff 2013) wie man weiter ansetzen kann:
(1) Wir können uns selbst als Akteure erkennen – aufhören, uns in passive Opferrollen drängen zu lassen, und selbst als verantwortlich Handelnde aktiv werden.
(2) Wir können Andere (vor allem Eltern, Kinder und Jugendliche, aber auch andere Fachkräfte in Berufssystemen und in der Öffentlichkeit, Bürgerinnen und Bürger und politisch Verantwortliche) als Akteure erkennen und als Partner/innen und Koproduzenten wertschätzen, sie nicht auf Opfer- oder Täterrollen festlegen, sie auf Augenhöhe einbeziehen und mit ihnen zusammen arbeiten.
(3) Wir können lernen, unsere Teams und die eigene Organisation, vor allem aber die Fälle und die Fallprozessgestaltungen gemeinsam besser zu verstehen und kritisch zu untersuchen und achtsam umzugestalten.
(4) Wir können aus Fehlern und Erfolgen lernen.
(5) Wir können eine Dialogische Qualitätsentwicklung im kommunalen Kinderschutz-system / mit einem Jugendamt und seinen Kooperationspartnern, mit den Hilfeteilnehmern und nicht zuletzt mit Akteuren im Gemeinwesen planen, ins Werk
setzen und kritisch evaluieren, um neue Wege erfolgreicher Kinderschutzpraxis zu ermöglichen.
(6) So können wir zu „Handwerkern der Demokratie“ werden (Rosenfeld & Tardieu 2000), die tri-polar das Kindeswohl, das Eltern- und Familienwohl und das Gemeinwohl fördern und schützen.
Literaturhinweise
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