Rudolf Klein, Merzig: Kinder brauchen Märchen und Erwachsene brauchen Geschichten.
Rezension von Kristof Aderhold: Ich habe eine Geschichte für Dich geschrieben – Gebrauchsliteratur für pädagogische und psychologische Ziele – eine systemische Perspektive
Kristof Aderhold ist Diplom Psychologe und psychologischer Psychotherapeut. Er arbeitet seit über 25 Jahren in verschiedenen Bereichen der Jugendhilfe mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Mit „Ich habe eine Geschichte für Dich geschrieben“ legt er sein erstes Buch vor.
Mit diesem Thema begibt sich Aderhold auf ein Feld, das theoretisch und praktisch bereits vielfach behandelt wurde. Für die theoretische Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Narrationen für das menschliche Sein stehen Autoren wie Michael Buchholtz, Kenneth Gergen, Mark Johnson, Wolfgang Kraus, George Lakoff, Tom Levold, Arnold Retzer, Reinhard Sieder, um nur einige zu nennen. Für die praktische Anwendung stehen Namen wie Bruno Bettelheim, Nosrath Peseschkian, Idries Shah, Bernhard Trenkle, Michael White, um auch hier nur einige zu erwähnen.
Und dennoch hat dieses Buch etwas Besonderes: Aderhold bedient sich in seiner Praxis nicht irgendwelcher bereits vorhandener Geschichten, um sie Klienten zu erzählen. Stattdessen zeigt er auf, wie man in der pädagogisch-therapeutischen Arbeit maßgeschneiderte Geschichten für einzelne Klienten, meist Kinder, selber erfinden und schreiben kann – Gebrauchsliteratur eben.
Bereits zu Anfang liefert Aderhold mit einem Zitat der Autoren Lankton und Lankton das Argument für den Einsatz von Geschichten in der pädagogisch-therapeutischen Arbeit mit Menschen: Geschichten „zu verstehen bedeutet, dem Leben Sinn, Zweck, Bedeutung und Wert zu geben.“ (S. 9)
Nun aber der Reihe nach: Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel „Narrative Grundschemata“ behandelt die Handlungsverläufe bei Märchen und Geschichten als mentale Werkzeuge sowie die Verbindung zwischen Metaphern und Geschichten.
Das zweite Kapitel widmet sich dem Thema „‘Therapeutische‘ Geschichten aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive“ und stellt neben systemischen Grundhaltungen für den Einsatz von Geschichten auch systemische Methoden als Erzähltechniken vor wie z.B. das Umdeuten, das hypothetische Fragen, die positive Konnotation, die Externalisierung, die Arbeit mit Metaphern und die Funktion von Schlussinterventionen.
Das dritte Kapitel „Einsatz und Qualitäten von Geschichten in verschiedenen psychosozialen Bereichen“ stellt Differenzierungen zur Verfügung, welche Arten von Geschichten sich in welchen Einsatzbereichen eignen. Mit diesen Ausführungen verlässt der Text die eher theoretischen Abhandlungen der beiden ersten Kapitel und nähert sich dem praktischen Einsatz von Geschichten. Es werden z.B. die Unterschiede von Fabeln, moralischen Erzählungen, Parabeln, Gleichnissen, allegorischen Geschichten, problemlösungsorientierten Geschichten und therapeutischen Geschichten wie tranceinduzierenden Erzählungen herausgearbeitet. Ein wichtiges zusätzliches Thema dieses Kapitels widmet sich der Frage, inwiefern bei der Gestaltung von Geschichten unterschiedliche Helfer-Klienten-Beziehungen (direkte, indirekte, enge) berücksichtigt werden sollten und worin der Unterschied zwischen dem Einsatz in Erziehung, Beratung und Therapie bestehen könnte.
Im vierten Kapitel werden „Hinweise zur Gestaltung ‚therapeutischer‘ Geschichten“ präsentiert. Hier liefert Aderhold praktische Ideen, auf welche Art hilfreiche Geschichten geschrieben werden können und welche Fragen man sich dabei zu Beginn und während des Schreibens stellen sollte. Diese beginnen mit der Festlegung des Inhalts, fokussieren auf die beabsichtigten Ziele und führen über die Wahl einer Kernmetapher hin zu Hinweisen für den Handlungsverlauf.
Im fünften Kapitel schließlich werden unterschiedliche Geschichten für Kinder und Erwachsene im pädagogisch-therapeutischen Kontext vorgestellt, die Aderhold im Laufe der Jahre für spezielle Klienten geschrieben hat. Es handelt sich um sehr unterschiedliche Geschichten, deren Inhalte und Erzählformen am jeweiligen Anlass, dem jeweiligen Ziel und dem jeweiligen Adressaten orientiert sind – dies kann, wie in einem Fall, sogar die Form einer fallbegleitenden Seriengeschichte annehmen. Nach jeder Geschichte folgt ein Kommentar, aus dem hervorgeht, für wen, unter welchen Umständen, mit welchem Ziel diese Geschichte erfunden und geschrieben wurde. Anmerkungen zu den jeweiligen Narrationen runden das Gesamtbild ab.
Das Buch ist leicht lesbar und gibt einen sehr guten und verständlichen Einblick in die theoretischen Grundlagen narrativer Arbeit. Gleichzeitig lädt es ein, sich mit dem Einsatz von Geschichten in der eigenen Arbeit auseinander zu setzen, sich vielleicht sogar selber an das Schreiben von Geschichten heranzuwagen.
Sicher könnten die narrationstheoretischen und systemisch-konstruktivistischen Grundlagen noch differenzierter dargestellt werden. Dass Aderhold aber die vorliegende Art der Darstellung wählt, ermöglicht ihm, die einzelnen Fäden der theoretischen Ausführungen gut verständlich aufzubereiten und sie von Kapitel zu Kapitel zu einem Teppich zu verknüpfen, der die Grundlage für seine praktische Arbeit bildet – und dieser Teppich kann fliegen, wenn er ausreichend Auftrieb hat.
Für den nötigen Auftrieb sorgt Aderhold einerseits mit einer klugen, präzisen und sensiblen Wahrnehmung leiderzeugender Muster bei Kinder und Erwachsenen, ohne dabei die jeweils immer auch vorhandenen Ressourcen und Potenziale seiner Klienten aus dem Blick zu verlieren. Andererseits findet er metaphorische Beschreibungen dieser Muster, die es möglich machen, vermeintlichen Sackgassen als Weggabelungen mit eigenen Entscheidungsmöglichkeiten zu sehen.
Aus dieser Melange entstehen dann Erzählungen, die in hohem Maße kreativ sind und sich höchstpersönlich auf diesen einen Klienten beziehen. Damit stellt Aderhold Klienten jeden Alters einen Rahmen zur Verfügung, in dem sie sich in ihrer bisherigen Gewordenheit und im Kontext naher sozialer Beziehungen anders verstehen und neue Wege einschlagen können.
Beim Lesen dieser Geschichten war ich nicht nur beeindruckt von der sehr am Niveau der Klienten orientierten Sprache und von den teilweise sehr überraschenden Wendungen. Bei der einen oder anderen Geschichte habe ich mir, rückblickend auf meine Kindheit, sogar gewünscht, mir hätte jemand hie und da eine solche Geschichte erzählt.
Ich wünsche dem Buch viel Aufmerksamkeit und eine große Verbreitung – und das nicht nur in der Arbeit mit Kindern. Denn: Kinder brauchen Märchen und Erwachsene brauchen Geschichten.
(mit freundlicher Genehmigung des Psychotherapeuten-Journals Saarland)
Kristof Aderhold: Ich habe eine Geschichte Für Dich geschrieben. Gebrauchsliteratur für pädagogische und psychologische Ziele – Eine systemische Perspektive.
Blattlaus-Verlag, Saarbrücken 2016
158 S., Softcover
ISBN 978-3-945996-09-6
Preis: 9,80 €
Verlagsinformationen:
In diesem Buch geht es um Geschichten, Geschichten für Kinder, für Jugendliche und für Erwachsene. Der Autor erklärt, wie Geschichten wirken können, und was zu beachten ist, wenn man sie zu pädagogischen oder psychologischen Zwecken einsetzen will. Mit einem Blick auf systemische Beratungsansätze und deren Methoden werden Erzähltechniken dargestellt, welche psychosozialen HelferInnen dabei helfen können, selber Geschichten für ihre KlientInnen zu schreiben. Die Anregungen werden durch eine Sammlung von Geschichten lebendig gemacht, die der Autor während seiner Tätigkeit in der Jugendhilfe geschrieben und eingesetzt hat.
Über den Autor:
Kristof Aderhold ist Diplom Psychologe und psychologischer Psychotherapeut. Er arbeitet seit über 25 Jahren in verschiedenen Bereichen der Jugendhilfe mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Manchmal wollen gleichzeitig auch Kinder Geschichten und ‚wissenschaftliche‘ oder technische Konkretheit und Materialität/Greifbarkeit und Erwachsene Märchen, die sie davontragen.