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Ivan Boszormenyi-Nagy wäre heute 90 Jahre alt geworden

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Zitat des Tages:„Loyalität ist ein für das Verständnis von Familienbeziehungen wesentlicher Begriff. Loyalität kann viele Bedeutungen haben: sie kann vom individuellen Treue-Empfinden bis zum Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft reichen, ja bis zur staatsbürgerlichen Treuepflicht gegenüber der Nation. Der Begriff muss also gemäß den Erfordernissen unserer Beziehungstheorie definiert werden. Loyalität lässt sich in moralischen, philosophischen, politischen und psychologischen Begriffen definieren. Im hergebrachten Sinne wird Loyalität als eine positive Haltung der Zuverlässigkeit des einzelnen gegenüber einem sogenannten Loyalitäts-»Objekt« verstanden. Dagegen setzt das Konzept eines Mehrpersonen-Loyalitätsgewebes das Vorhandensein strukturierter Gruppenerwartungen voraus, zu deren Erfüllung alle Mitglieder aufgerufen sind. In diesem Sinne gehört Loyalität zu dem, was Martin Buber die »Ordnung der menschlichen Welt« nennt. Ihr Bezugsrahmen setzt sich eher aus Vertrauen, Verdienst, Auftrag und Erfüllung als aus den »psychischen« Funktionen des »Fühlens« und »Wissens« zusammen. Unser Interesse für Loyalität als Gruppenmerkmal und persönliche Einstellung geht über die einfache behavioristische Vorstellung eines gesetzestreuen Verhaltens hinaus. Wir setzen voraus, dass der Mensch, um loyales Mitglied einer Gruppe zu sein, den Geist ihrer Erwartungen verinnerlichen und ganz bestimmte Verhaltensweisen an den Tag legen muss. Letztlich ist der einzelne sowohl den Ge- und Verboten der von außen an ihn herangetragenen Erwartungen wie den der verinnerlichten Verpflichtungen unterworfen. In diesem Zusammenhang ist von besonderem Interesse, dass Freud die dynamische Basis von Gruppen als mit der Funktion des Überichs verwandt begriff. Die ethische Verpflichtungskomponente der Loyalität ist zunächst an unser Pflichtbewusstsein und unseren Sinn für Fairness und Gerechtigkeit gebunden. Nichterfüllung von Verpflichtungen führt zu Schuldgefühlen, die dann einen sekundären systemregulierenden Kräftemechanismus bilden. Die Homöostase des Verpflichtungs- oder Loyalitätssystems hängt also von einer regulativen Aufladung mit Schuldgefühlen ab. Selbstverständlich haben die verschiedenen Mitglieder des Systems unterschiedlich hohe Schuldschwellen, und ein lediglich durch Schuldgefühle reguliertes System ist zu qualvoll, als dass es auf die Dauer bestehen könnte. Während also die Loyalitätsstruktur durch die Geschichte der Gruppe, die Gerechtigkeit ihrer menschlichen Ordnung und ihre Mythen bestimmt wird, sind für das Ausmaß der Verpflichtung und die Art und Weise ihrer Erfüllung die psychische Veranlagung und Verdienstposition jedes einzelnen Mitglieds im multipersonalen System mit ausschlaggebend“ (Aus: Ivan Boszormenyi-Nagy & Geraldine M. Spark: Unsichtbare Bindungen. Die Dynamik familiärer Systeme, Klett-Cotta, Stuttgart 1981, S. 66f.)

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