Am 28. Januar ist Ivan Boszormenyi-Nagy (Foto: EFTA-Kongress Berlin 2004) in Glenside, Pennsylvania, im Alter von 86 Jahren gestorben. Er war der Begründer der kontextuellen Therapie und spielte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Ausdifferenzierung des familientherapeutischen Feldes. Sein Ansatz war vor allem auch in Deutschland einflussreich, wo er viele Anhänger hatte und im Laufe der Jahre zahllose Workshops und Seminare abhielt.
Boszormenyi-Nagy wurde am 19.5.1920 in Budapest geboren. Der Vater war – wie viele andere in der Herkunftsfamilie – von Beruf Richter. Der herausragende Stellenwert von Recht und Gerechtigkeit, Schuld und Verdienst im Kontextuellen Ansatz von Boszormenyi-Nagy dürfte hier seine Wurzeln haben. Er kämpfte aktiv gegen die nationalsozialistische, später stalinistische Unterdrückung in seinem Heimatland. Nachdem er 1944 zum Dr. med. an der Universität Budapest promovierte, wurde er 1948 Assistenzprofessor für Psychiatrie und 1949-1950 Konsulent der Internationalen Flüchtlingsorganisation in Salzburg, wo er vielen politisch Verfolgten mit Gutachten half, zu überleben. Aufgrund eigener Verfolgung emigrierte er 1950 in die USA, wo er eine Forschungsassistenz an der Chikagoer Universität annahm. Nach einem Zwischenspiel in New York gründete er dann gemeinsam mit Geraldine Spark 1957 das Department of Family Psychiatry am Eastern Pennsylvania Psychiatric Institute (EPPI) in Philadelphia, was sich später zum größten Ausbildungszentrum für Familientherapie in den USA entwickelte.
Mitarbeiter aus dieser Zeit waren u.a. James L. Framo, Gerald H. Zuk und D. Rubinstein. Anfang der 60er Jahre entwickelte sich ein intensiver Austausch mit dem New Yorker Ackerman Institute und der Palo Alt-Gruppe um D. Jackson (Quelle: Stumm, Pritz et al: Personenlexikon der Psychotherapie, Wien 2005).
Bereits 1967 veranstaltete Boszormenyi-Nagy in Leiden (NL) das erste europäische Weiterbildungsprogramm in Familientherapie. 1973 erschien sein gemeinsam mit Geraldine Spark verfasstes Hauptwerk Unsichtbare Bindungen“. 1977 war er Mitbegründer der American Family Therapy Association AFTA. In Deutschland befruchtete er mit seinen Ideen nicht nur erkennbar Helm Stierlin in Heidelberg und Eckhard Sperling in Göttingen, sondern auch viele andere Kolleginnen und Kollegen. Ich lernte Boszormenyi-Nagy in den frühen 80er Jahren kennen, als er einen Workshop in Frankfurt abhielt, der – wenn ich mich recht erinnere – von Walter Schwertl organisiert worden war. Wir saßen mit ca. 30 Leuten in einem großen Saal und wie es damals so üblich war, fand auch eine Live-Konsultation statt. Ein amerikanisch-deutsches Paar kam an jedem der beiden Tage zu einer Sitzung und saß mit Ivan inmitten des großen Kreises, da keine Übertragungsmöglichkeiten aus einem anderen Raum bestanden. Sie war eine Einheimische, ihn habe ich als indianischen Hünen in Erinnerung, der bei der US-Airforce als Vorarbeiter in einem Materiallager arbeitete und im ersten Gespräch kein Wort sagte. Boszormenyi-Nagy ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er bestand darauf, dass jeder Satz, der gesprochen wurde, sowohl in deutsch wie in englisch ausgesprochen wurde, selbst wenn es nur um Wörter wie yes und no ging. Das löste zunächst Irritationen aus, da das Publikum Englisch verstand und die Frau des Indianers ohnehin mit ihm in Englisch kommunizierte. Aber er insistierte, dass in seinem Gerechtigkeitsverständnis jeder die Möglichkeit wahrnehmen können sollte, in seiner eignen Muttersprache zu sprechen.
Überaus faszinierend war der Effekt, der sich mit dieser Intervention einstellte. Es kam zu einer starken Verlangsamung und Redundanz einerseits, aber damit gleichzeitig zu einer extremen Fokussierung und Bedeutungsverdichtung, wobei Nagy allen Beschleunigungsversuchen gelassen widerstand. Am zweiten Tag brach der Ehemann überraschend sein Schweigen und begann, von seiner Ursprungsfamilie zu erzählen, seiner Kindheit im Indianer-Reservat, seinen Demütigungen in der Armee, seinem Undercover-Dasein als Analphabet, der mühsam mit seiner Frau ein System entwickelt hatte, wie er den nötigen Schriftverkehr im Materiallager am Feierabend mit ihrer Hilfe zuhause bewältigte. Eine berührende Erfahrung. Wir hatten alle den Eindruck, dass dieser Mann ohne eine Silbe gegangen wäre, hätte ihm Boszormenyi-Nagy durch seine geduldig-beharrliche Art nicht diesen Platz geschaffen.
Dieser Umgang mit Zeit hat mich bei ihm auch in den anderen Sitzungen, die ich von ihm sehen konnte, stark beeindruckt, auch die Beharrlichkeit, mit der er bei seinen Fragen blieb, ohne sich von Themenwechsel-Angeboten davon abbringen zu lassen. Das hatte gelegentlich auch etwas Buchhalterisches. Er nahm alles sehr genau. Obwohl er sehr gut deutsch verstand, weigerte er sich stets, selbst deutsch zu sprechen, verstand es aber sicherlich, aus dieser versteckten Fähigkeit eine Ressource zu machen.
Wenige Jahre später hatte ich ihn nach Köln zu einem Workshop bei der APF eingeladen, wo wir einen gemeinsamen Abend miteinander verbrachten. Ich war sehr neugierig, wie er von sich selbst reden würde, habe an diesem Abend aber nicht viel von ihm erfahren, er war da sehr zurückhaltend. Allerdings hörte er sehr aufmerksam zu und zeigte Interesse. Er wusste überraschenderweise eine Menge über Köln und stellte viele Fragen.
Danach verloren sich die Wege, zumal mit der Entwicklung der systemischen Therapie in Deutschland auch die Konjunktur des Ansatzes von Boszormenyi-Nagy nachließ.
Ein letztes Mal sind wir uns 2004 auf dem EFTA-Kongress in Berlin begegnet, zu dessen Vorbereitungsgruppe ich gehörte. Er legte größten Wert darauf, auf der (bereits durchgeplanten) Eröffnungsveranstaltung eine Grußadresse an das Publikum zu richten, obwohl allen schon bekannt war, wie stark seine Parkinson-Erkrankung war. Wir zögerten im Vorhinein ein wenig, ob wir diesem Wunsch stattgeben sollten. Er ließ es sich aber weder von Verwandten noch Kollegen ausreden, zu wichtig war es ihm offensichtlich, so dass wir ihm diesen Wunsch nicht abschlagen wollten. Nachdem er in seinem Rollstuhl von einem Helfer auf die Bühne gefahren wurde, ergriff er das Mikrophon, schaute er sich langsam in dem mit 3.500 Teilnehmern gefüllten Saal um und versuchte mühsam zu sprechen. Mit der Beharrlichkeit, die ich in Erinnerung hatte, kämpfte er mit den Wörtern, ohne einen Satz zuende bringen zu können, zeigte aber auch keinen Ansatz einer Kapitulation. Er schaffte es einfach nicht mehr: mit einer Mischung aus banger Erwartung und Berührtheit sahen wir seinem Kampf solange zu, bis irgendwann Applaus aufbrandete und sich alle erhoben, um von ihm Abschied zu nehmen. Alle hatten verstanden, dass es darum gegangen war, noch einmal dabei zu sein, in unserer Mitte.
Ich sprach ihn nach der Eröffnungsveranstaltung an und erzählte von unserer früheren Begegnung. Er fragte nach, Köln, ja – da fiel ihm etwas ein, er erinnerte sich und drückte mir fest die Hand, als sei er irgendwie froh, eine Verbindung hergestellt zu haben. Sicherlich war ich froh, eine Verbindung hergestellt zu haben.
Ivan Boszormenyi-Nagy wird seinen Platz im Gedächtnis der Familientherapeuten behalten.